KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 28. Dezember 2007, 00:28
(bisher 3.188x aufgerufen)

BEKENNTNIS

Zwei Briefe über den Zusammenhang von Fiktion und Realität
oder Wirklichkeit und Literatur
oder Lüge und Wahrheit



Lieber Uwe,
ich beurteile die Welt und mein Leben aus meiner gelebten Erfahrung heraus - wie stark hier alles von mir Gelesene einwirkte, alles, was mich meine Großeltern, meine Eltern, Lehrer, Bücher, Professoren, und INSBESONDERE DIE BELLETRISTISCHE LITERATUR lehrte, aber auch alles, was ich ERLITT und GESTALTETE, das weiß ich nicht so genau zu sagen. Ich rationalisiere mich, so fühle ich, möglichst auf meine Rettung und Erlösung hin.
Ich versuche, mich vor dem, was du "Rationalisierungsfalle" nennst, in komplexer Weise zu retten.
Dein Bohren und Fragen treibt mich zu dem Bekenntnis, dass ich nicht glaube, was du glaubst, zumindest glaube ich es nicht so wie du:
Die Rationalisierung (Selbstbeherrschung) sehe ich durchaus auch als Falle, wenn ich mich unkritisch anpasse und dem herrschenden Gesellschaftssystem leichtfertig und vielleicht sogar aus niederen Motiven (etwa um selber partielle Macht über andere zu erringen) unterwerfe. Aber ich sehe in der Selbstbeherrschung und Rationalisierung zugleich auch die Notwendigkeit einer Anpassung, die mir mein Überleben sichert. Außerdem ist dies eine Voraussetzung zur Selbstgestaltung - vor allem in künstlerischer Hinsicht.
Sicherlich ist jede künstlerische Arbeit - also auch das belletristische Schreiben (Dichten, Erzählen) - zu einem Teil selbsttherapeutisch und hat auch eskapistische Funktion. Wenn diese Anteile nicht zu stark sind, haben sie palliative Wirkung. Das Leben ist ein von vornherein festehendes Sterben. Teils auch Leiden, Hinnehmen von Realität, das den Wünschen und Emotionen entgegensteht.
Künstlerisches Arbeiten ist in seinem rationalen Aspekt immer auch kritisch intendiert und will besseres Leben in der Alltäglichkeit und im gesellschaftlichen Bedingungsgefüge anstreben.
Ich wäge ab: Ich will nicht am Mangel des Lebens, an den Leiden, die ich systembedingt oder naturgegeben erfahre, noch stärker leiden, indem ich im Widerstand dagegen noch mehr leide, sofern ich an dem zerbreche, was ich attackiere. Ich will das, was uns fertig macht (so oder so) gering halten. Der Lustgewinn aus meinem angemessenen Widerstand und das Wohlgefühl in einer (ethisch) gerechtfertigten Teilflucht ermöglicht mir ein Leben, das ich für lebenswert halte. Ich verlange weder von der Welt noch von mir zuviel.
Das zweite ist der Glaube an das Ich, den du verabscheust. Ich habe nichts weiter als diesen Glauben. Selbst wenn ich mich irren sollte, hielte ich den Glauben an mich für richtiger als jede deterministische Haltung, weil letztere in die Unzufriedenheit oder gar Depression führen muss, konsequent zu Ende gedacht sogar in den Selbstmord (obwohl diese Tat eine Möglichkeit des Sieges über die Determiniertheit bedeutete, allerdings keine gute Lösung für mich). Indem ich durchschaue, dass mich vieles determiniert, überwinde ich meine Determinierung. Die größe Lüge ist jede Wahrheitsbehauptung sowieso, das weiß jeder Dichter, aber es beunruhigt mich nicht, dass ich weder die Wahrheit noch mein oder dein Ich wirklich ganz zu fassen vermag. Ich sage zum Leben wie (der philosophierende) Nietzsche: War das das Leben? Wohlan, noch einmal!
Und ein Letztes: Mich stört mein eigener Narzissmus überhaupt nicht. Ich lebe so gern, weil ich mich selbst sehr gern mag, und weil ich mich - wenigstens zu einem guten Teil - für den Schöpfer meiner Lebensrealität halte, nicht nur als Schreibender! Dabei will ich mich nicht überbewerten, ich bin nur ein kleiner Gott.
Ich begreife Nietzsches Buch "Also sprach Zarathustra" als eines der schönsten Manifeste menschlicher Mündigkeit. Und wenn das Ich wirklich eine Lüge sein sollte, dann ist es die beste aller möglichen Lügen!
Ich denke, dass du zu finster denkst. (Auch in deinem polemischen Gedicht...)
Ein Denken, das eine Lebensstrategie ermöglicht, wie ich sie für mich andeutete, bewirkt mehr Glück.
Herzliche Grüße!
Uli

Gesendet: 18.12.07 21:50:38
An: uli.bergmann@web.de

Lieber Uli,
Meine Stellungnahmen zu deinen Texten hier sind ein Diskursangebot an dich, fachübergreifend, aber keine Literaturkritik an deinem Werk, das kann ich nicht leisten.
Mein Versuch gesellschaftliche Phänomene zu deuten, vielleicht sogar mit deiner Hilfe in Literatur zu verwandeln zu können, entspringt einem erkenntnistheoretischen Interesse, der Durchdringung von Begriffen.
Meine Aufregung , die du zu recht anmerkst, ist mehr ein atmosphärisches Unwohlsein als ein klarer Gedanke und resultiert aus einem Konglomerat verschiedener Textpassagen wie „Kritische Körper“ und „Warten“ und läuft dann an scheinbar harmlosen Montagen wie Wille aus dem Liedtext über . An diesen Texten schwappt mich was an und löst bei mir einen antrainierten Reflex aus, um das Wissen, dass das noch so kritische Bewusstsein nur zu leicht mit dem Affirmativen zusammenfließt, insbesondere gilt das auch für die Willenskonstruktion. Davor will ich warnen, denn als Soziologe habe ich das aufklärerische Moment der Philosophie geerbt, das meine ich ernst, das ist mein professioneller Ethos (das kann auch nerven).
Jetzt kann ich nur noch einmal beispielhaft versuchen, holzschnittartig an „Nietzsches Peitsche“ zu verdeutlichen was ich damit meine, aufzupassen und zitiere mich selbst (das ist das beste überhaupt: „ das Weib als Effekt der Peitsche“, was soll das heißen ?
Aus psychosozialer Sicht ist die „Selbstbeherrschung“ (deine Anmerkung dazu) ein Rationalisierungsphänomen, aus dem das Konstrukt „Persönlichkeit“ hervorgeht. Innerhalb dieses Rationalisierungsprozesses ist das „Individuum“ in der Lage, sich dem „Realitätsprinzip“ zu unterwerfen. Der Rationalisierungsprozess ermöglicht also Anpassung.
Psychoanalytisch gedacht spaltet das Ich das Es ab , unterdrückt den Trieb, kontrolliert das Bewusstsein. Der Geist, die Ratio, ein Spaltprodukt erschafft Surrogate und peitscht das Nichtintegrierte, das „Verdrängte“, das „Weib“ (nicht die Frau, das ist das Surrogat, das mann nicht ficken kann). Das stählerne Gehäuse (M. Weber), das uns zu umgeben scheint, ist eine Konstruktion, eine sehr reale Fiktion und nicht mehr.
Damit befinden wir uns mitten in der Rationalisierungsfalle, dem Geburtsfehler der Herrschaft, der Desintegration des Beherrschten (der Abspaltung), die zunehmend schlechter gelingt; das macht uns fertig!
Und jetzt die Frage an dich, siehst du das auch so, oder wie. Stimmt das was ich da sage, oder ist es falsch?
( In einem wissenschaftlichen Text hätte ich so natürlich nicht schreiben können, dir kann ich so schreiben, Freiheit der Berge!)
Hier würde sich dann der „Naturbegriff“, die „zweite Natur“, der Funktionsbegriff „Systemzwang“ (Herrschaftsmodifikation) anschließen, das lassen wir jetzt aber sein, es ist schon spät.
Diese Logismen haben eine politische Dimension, das ist klar. Vielleicht geht es mir auch nur darum, das festzustellen!
Ich halte den Ball weiterhin tief und bin selbst gespannt was dabei herauskommt. (Das „Ich“ ist die größte Lüge.)

Und hier noch zu guter Letzt, mein Weihnachtsgedicht zum gebotenen Anlass


förmliche Weihnacht und frohe Fiktion

Hab heute den Weihnachtsmann besehen,
sah aus wie aufgehängt an einer Lichterkette und
war umstanden von seinen Assistenten,
die sich beeilten leere Geldbörsen
an die Schaulustigen zu verteilen, -
das Ganze wurde musikalisch untermalt
von einer Engelcombo
in Bunny-Kostümen, bitterkalt aber geil
auf der Domplatte...
und genau in diesem Moment ist
von der Turmfassade kein Brocken
zwischen die Leute gekracht, -
dennoch kam festliche Stimmung auf.

Herzlicher Gruß Uwe

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram