KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Dienstag, 02. Dezember 2008, 17:55
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ÄSTHETISCHE BRÜCHE

Ästhetische Brüche - wie im Fall der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch - sind oft ein sicheres Zeichen für die Fragwürdigkeit der erzählerischen Authentizität und der verdeckten Rechtfertigung eigener Schuld. Das zeigt Petra Morsbach in ihrer Analyse sehr überzeugend. Titel und Erzählperspektive verraten Alfred Anderschs offensichtlich nicht gelungene Verarbeitung eigener Schuld in der Zeit der deutschen Diktatur. Die Konstruktion, dass der tyrannische Rex in der Erzählung der Vater des späteren Judenvernichters Heinrich Himmler ist, entwickelt unglückliche Suggestivkraft und trägt sehr wahrscheinlich zu der Annahme vieler Leser bei, die Himmlers und Hitlers seien in den humanistischen Gymnasien geradezu erzeugt worden.

Im Vergleich dazu ist das Scheitern und der Weg in den Selbstmord Hans Giebenraths in Hermann Hesses Erzählung „Unterm Rad“, auch eine Geschichte über Macht gesellschaftlicher Kräfte und die Ohnmacht des Einzelnen, ästhetisch ohne Bruch erzählt. Hesse wählt - wie Andersch - die personale und auktoriale Erzählperspektive; im Unterschied zu Andersch gerät der auktoriale Erzähler nicht in Gefahr, mit seinem zerbrechlichen Helden identifiziert zu werden, obwohl sich Hesse in der Erzählfigur Hans Giebenrath teils selbst gesehen hat - aber er instrumentalisiert nicht das im Vater und im Rex repräsentierte Gesellschafts-System zum Zwecke der Erklärung eigenen Schuldigwerdens, sondern zeigt an einer literarischen Figur eine Möglichkeit, die jeden betrifft, der er selbst aber entronnen ist. Hesse arbeitet im Unterschied zu Andersch, der einen eher dokumentarischen Erzählstil hat, mit den Mitteln des poetischen Realismus. Sein untergehender Held ist schwach und zerbrechlich, ein Knabe, der den auf ihn ausgeübten Druck nicht aushält und den Entfremdungs-Verletzungen durch Freitod entgeht. Die Schuldfrage scheint am Schluss der Erzählung nur in der Frage des Schumachers auf, der am Schicksal Hans Giebenraths nur wenig beteiligt war. Die Erzählung ist in sich schlüssig, und sie überzeugt trotz des extremen Ausgangs, weil das Leiden und Schwächerwerden des Helden ohne moralistischen Anspruch gezeigt wird.

Ähnlich problematisch wie bei Alfred Andersch ist Bernhard Schlinks Erzählung „Der Vorleser“. Hier sind zwei Novellen ineinander verschränkt: Die zunächst rätselhafte Liebe einer erwachsenen Frau mit einem Halbwüchsigen und ihr Scheitern, rasant erzählt, wird im Nachhinein wie im analytischen Drama (Ödipus, Der zerbrochne Krug) erklärt durch den Analphabetismus der Frau, der entscheidend in die Verkettung schuldhafter Handlungen führte. Das Analphabetentum hat auch metaphorische Funktion - wer nicht lesen kann, versteht auch nicht, ihm fehlt die Deutungsfähigkeit, und nur wer deutend empfängt, kann auch Wirklichkeit erschaffen. Nur wer versteht, kann geben, kann lieben. Hanna ist durch eigene Schuld unmündig geworden. Sie lässt sich, um zu überleben, vom NS-Regime zum Werkzeug machen. Sie hat Liebesfähigkeit nicht erworben, weil sie sich als Werkzeug der Menschenvernichter selbst vernichtete und unter der Last ihrer übergroßen Schuld, die sie erst fühlte, dann immer mehr begriff, den letzten Rest von Selbstliebe verlor. So gesehen war ihre Liebe zu dem jungen Michael die Flucht in eine Liebe, die Michael zum Instrument ihrer eigenen Betäubung machte. Sie hat Michael seelisch vergewaltigt. Problematisch ist an der Doppelkonstruktion der Erzählung Schlinks, dass das Analphabetentum das eigene Scheitern rechtfertigen hilft. Der Leser entwickelt - wie Michael - immer mehr Mitleid mit einer gescheiterten Existenz, die große Schuld auf sich lud.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Verbunden mit dem kategorischen Imperativ bedeutet das: Hannas Handeln hätte allgemeine Gültigkeit haben müssen, sie hätte ihr Analphabetentum aufheben müssen, zumal sie am eigenen Leib erfuhr, dass sie ohne Mut zum Wissen unmündig blieb, andere und sich selbst verletzte. Hanna wird so eine Figur, deren Schuld die Schuld vieler Deutscher im Dritten Reich relativiert, da sie zum Opfer und später zum Opfertäter stilisiert wird. Schlinks Erzählung ist trotzdem viel diskutabler als die von Andersch - dafür sorgt die skeptische und fragende Perspektive, der sein Leben nicht begreifen und liebend gestalten kann, weil er die Geschichte der kollektiven Schuld nicht wirklich begreifen kann. Ich kann mir nicht vorstellen - trotz des nachvollziehbaren Vorwurfs der unzulässigen Relativierung der Schuld -, dass Schlink in diesem Roman eigene Defizite, Verletzungen oder Schuld bearbeitet, auch nicht unbewusst - die ästhetische Brüchigkeit seiner Erzählung bewirkt Deutungen, die der Autor weder intendierte noch zwingend sind. Die ästhetische Kritik kommt an der Tatsache der erzählerischen Schlüssigkeit und Authentizität nicht vorbei, obwohl die Geschichte sehr konstruiert wirkt.

„Die Blechtrommel“ von Günter Grass schätze ich als eines der wichtigsten Bücher, das im 20. Jahrhundert geschrieben wurde. Die These Petra Morsbachs, Grass lache mit seinem Roman als Hyper-Oskar das Dritte Reich in einem drastischen Rache-Comic weg, weil er sich so von seiner Schuld befreit habe, als junger Mann verführbar gewesen zu sein, ist auf jeden Fall nachvollziehbar.
Der Behauptung, „Die Blechtrommel“ sei kein Erkenntnistext, weil Grass die Realität des Dritten Reichs und Nachkriegsdeutschlands kaum darstellte, sondern ein Haltungstext, mit dem Grass seine Angst und „hypertrophe Scham“ sublimiere, stimme ich nur zum Teil zu.
„Die Blechtrommel“ ist in wesentlichen Aspekten überzeitlich lesbar und interpretierbar und die in den Schulen und Universitäten immer noch vorherrschenden Interpretationen dokumentieren nicht nur eine „Stagnation des Bewusstseins“.
Die dem Roman zugrunde liegende Wirklichkeit ist die nationalsozialistischen Diktatur und die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, auf deren konkrete Darstellung Grass nicht nur zu Gunsten neuer Erzählperspektiven verzichtete, so wichtig auch dies war, weil neue Erzählperspektiven zu neuen Sichtweisen führen. Nicht die historischen Ursachen der Entstehung des deutschen Faschismus war das Thema, sondern vielmehr die Darstellung der Ohnmacht der Menschen und das Archetypische im Überlebenskampf der Menschen. Morsbach schreibt selbst, dass Grass eine Moral ex negativo herleitet. Ich verstehe die „Blechtrommel“ so, dass Oskar die Charakter- und Bewusstseinsmängel der Vor- und Nachkriegsgesellschaft spiegelt. Innerhalb der phantastischen Romanhandlung provoziert Oskar das Fehlverhalten seiner Zeitgenossen, insbesondere ihre Triebabhängigkeit und Verführbarkeit, auch ihre Neigung zum Selbstbetrug und fehlende oder falsche Bewältigungsversuche in der Adenauer-Zeit. Natürlich ist für junge Leser von heute die geschichtliche Folie nicht so lebendig wie für Leser meiner Generation - aber genau das ermöglicht eine neue Interpretation, die mehr das Allgemeingültige im Scheitern und Schuldigwerden eines Menschenlebens fokussiert. Die Allmachtsphantasien Oskars sehe ich als einen wirksam bleibenden virtuosen Erzähltrick, der aktuelle Interpretationen zu erzeugen vermag.

Außerdem: Poesie muss nicht ethischen Gesetzen / Axiomen folgen! Sie darf absichtslos spielen - die besten Ergebnisse solchen Spielens dienen (manchmal) der (Selbst-)Erkenntnis, aber auch das ist nicht erforderlich. Eigentlich hat die Literatur immer wieder nur sich selbst (und die Sprache) zum Hauptgegenstand.

Das Ästhetische ist zu einem sehr großen Teil rational machbar. Der bedeutende Rest ist Erfahrung und Zulassen irrationaler Kräfte auf dem guten Fundament eines rationalen Plans. Rationale und irrationale Kräfte stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Ich denke, man kann in Anlehnung an Hegel sagen, ein gelungenes Kunstwerk ist eine letzte Synthese im flüssigen Denken, in dem sich (göttliche) Vernunft konzentriert.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Bergmann (19.12.08)
Liebe Tine,
kein Leser muss alles begreifen. Partielles Verstehen ist oft schon viel.
Hannas Schuld: Sie ist keine Gefangene ihres Alphabetismus. Ich habe Verständnis für sie, ich weiß, dass es schwer ist, das Analphabetentum zu überwinden. Aber sie weiß, dass es Buchstaben gibt. Sie leidet nicht an Amnesie. Sie ist nicht unzurechnungsfähig. Ich muss von ihr verlangen, dass sie ihre partielle Unmündigkeit abwirft. Anders geht es nicht.
Michael macht sich mitschuldig, das sehe ich auch so.
Herzlichst: Uli

 Bergmann (20.12.08)
Scham. Ja. Verstehen ist das eine. Aber Verstehen entbindet nicht von der Pflicht, mündig zu werden. Kant. Da kommen wir nicht dran vorbei.
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