KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Montag, 21. Mai 2012, 12:39
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Literarische Sozialisation

301. Kolumne

Brack provozierte immer wieder. In der Redaktion der Schülerzeitung forderte er die radikale Kleinschreibung, konnte sich aber nicht durchsetzen. Und dann brachte er eine alte Schallplatte in die Deutschstunde mit. Lyrik und Jazz. Gert Westphal las Benn, im Hintergrund spielte das Dave Brubeck Trio. Die Auserwählten der Jahrgangsstufe waren von Benn fasziniert. Wir überredeten Nöllendorf, bei dem wir Deutsch, Geschichte und Latein hatten, ein Benn-Gedicht im Unterricht zu behandeln. Er wählte aber weder Morgue noch Fragmente oder D-Zug, nicht das, was uns bewegte, sondern Aprèslude. Nö verurteilte Benns Schnodderton, den die Intellektuellen im Kurs so liebten, die Kafka lasen, das Neueste von Günter Grass, die Romane von Max Frisch und Nietzsches Zarathustra. Es gab zwei Parteien, die einen standen mit Nö an der Seite Hermann Hesses, der gerade gestorben war. Folker Albrecht hatte über seinen Vater, Arzt in Birkenfeld, persönlichen Kontakt zu Hesse, als er seine Deutsch-Facharbeit schrieb. Die andere Partei, zu der ich gehörte, war Thomas Mann zugetan, und über seinen Roman „Doktor Faustus“ schrieb ich meine Deutsch-Facharbeit, deren ‚Filet-Teile’ ich noch besitze. Nö irritierte mich mit seinen kritischen Bemerkungen über Thomas Mann. Er warnte vor der gefährlichen Vergeistigung des Lebens in den Romanen, vor allem im Zauberberg. Und mein Vater meinte: Der kleine Herr Friedemann ist eine niederträchtige Erzählung, da wird das Leben in den Dreck gezogen. Solche Bemerkungen trieben mich in die weit geöffneten Arme dieser Literatur. Ich spürte, dass es in dieser Erzählung um ästhetische Kategorien ging, nicht um die Moral meines Vaters, sondern um die Wirklichkeit des Lebens, ja vielmehr noch um die Wahrheit des Seins. Meine Eltern trieben mich in ihr schiefes Leben hinein, in ein Pflichtleben, das nicht mein Leben war. Sie verschleierten die Wirklichkeit mit ihren verlogenen Ansprüchen an die Welt, und sie verschwiegen viel von dem, was sie selbst getan hatten. Sie laufen mit ideologischen Balken vor der Stirn durch ihr Leben ... Jedenfalls schrieb ich meine Facharbeit über Doktor Faustus und fand darin so viel Leben, dass mir schwarz wurde vor der Stirn. Am Ende des Schuljahrs scheiterte ich. Der Französischlehrer ließ mich fallen und gab mir eine Fünf. Ich trieb es einfach zu weit, das gebe ich zu. Wir lasen Molières L’Avare, ich hatte mir die Lektüre nicht gekauft, ich vergaß es jeden Tag. Stunde für Stunde forderte mich Schönthaler auf, endlich mit der Lektüre zu erscheinen. Ich kapierte erst später, dass ich ihn beleidigte, und so lief ich in die Falle, die ich mir selbst aufgestellt hatte. Auch die Mathelehrerin gab mir eine Fünf, sie ließ sich nicht umstimmen durch meine Facharbeit über Thomas Mann, die Nö ihr vorlegte, um mich zu retten. Nach dem Halbjahreszeugnis, das die Katastrophe schon andeutete, zwang mich mein Vater zum Rücktritt als Redakteur der Schülerzeitung und zur Unterschrift unter eine Erklärung: „Ich verpflichte mich, meine ganze Tatkraft, meinen Fleiß und meine Fähigkeiten so einzusetzen, dass ich die Versetzung erreiche. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich bei Nichterreichung dieses Zieles von der Schule abgehen muss.“ Und so kam es.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (18.05.12)
es kam, wie es kam. aber wie?

 EkkehartMittelberg (18.05.12)
Uli, es wäre aufschlussreich für deine Leser, wenn du ergänzen würdest, wann genau sich diese literarische Sozialisation abspielte. Ich bin überrascht über den intellektuellen Standard dieser Klasse. Wir lasen 1958 auch schon Sartre, Camus und Dostojewski, wären aber nicht in der Lage gewesen, Gruppierungen zu bhilden, die sich an einzelnen Autoren orientierten. Wir waren viel zu sehr auf die Vorgaben unseres Deutschlehrers fixiert.
Mich interessiert, was diese geistige Beweglichkeit deiner Klasse begünstigte?
Ekki

 Bergmann (18.05.12)
Die Diskussionen im Musik-Unterricht waren ähnlich intensiv. Hier ging es um Händel oder Bach, ob Rachmaninow überhaupt anerkannt werden könne, ob Dvorak und sogar Tschaikowsky eigentlich nur Folklore komponiert haben. Oder ob Glenn Gould die Goldberg-Variationen so interpreten durfte, ob Bach überhaupt auf dem Klavier, ob Play Bach und die Swingle Singers anerkannt werden können. Ob der Jazz ... und ob Dave Brubeck ... usw. Ich werde dazu noch ein kleines Kapitelchen schreiben.

Das geschah 19662-64.

Wir hatten einen sehr liberalen Klassenlehrer (Deutsch, Latein, Geschichte), und der Musiklehrer war gutmütig. Der Musikunterricht bestand fast ausschließlich aus Diskussionen und Klavierspiel von Schülern, wir leggten auch Platten auf und diskutierten die Komponisten - natürlich NUR sog. Klassik.
En passant: Sonatensatz-Lehre, verminderter Septimakkord, Wagners Leitmotiv-Technik, Ring, Konzerttheorie etc.
Das war am Gymnasium in Neuenbürg, sprachlicher Zweig.
Die Unterrichte in allen anderen Fächern, die bisher nicht genannt sind, war öde bis furchtbar und autoritär.

 Lala (18.05.12)
Das ist alles, alles irgendwie schrecklich. Alten Männern dabei zu lauschen, was sie erlebt haben. An der Front. Der Schul Front. Zwischen Nö und Je. Oder Mann und Benn. Furchtbares Leiden. Es zieht zwischen Gehör- und Pimpernellen-Ausgang. Warum? Weil die Tür nicht zu ist? Nö. Die Tür ist zu. Eigentlich, wenn ihr mich fragt, wartet nur nich Hein auf Euch. Fragt Uli - oder Thomas.

 Dieter_Rotmund (21.05.12)
Mir hat's gefallen, aber David Foster Wallace war 1964 erst zwei Jahre alt...

 Bergmann (21.05.12)
Danke, Dieter, ich driftete beim Schreiben ab; ich habe auch Handke gestrichen und durch Günter Grass und Max Frisch ersetzt.
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