KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Zeitgewinn. Proust (Stücke 6)
353. Kolumne
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust
Der Leser kann alles. Er kann jede Realität erzeugen und sinnlich wahrnehmen, jede Zeit, jede Atmosphäre, jede Möglichkeit und jede Unmöglichkeit. Es kann einfach jedes Wunder erzeugen. Sarah Kane’s „4.48 Psychose“ etwa - da zerfällt das multiple Ich und erschafft sich erst im Tod. Oder ein Roman, der sich mit sich selbst multipliziert: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust: Der Leser siebt die viertausend Seiten des Romans durch und backt das dialogische Mehl zu einem Brot, ohne das er nicht mehr leben möchte, er lebt ja nicht nur vom täglichen Brot.
Wohltuende Sprachmusik. Die kommunikative Hysterie der gesellschaftlichen Elite vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die sich nichts Wesentliches sagen will und nichts zu sagen hat, damit aber indirekt doch alles über sich sagt, erkennen wir heute, in gewandelten Sozialstrukturen, ungeschminkt wieder: Spiel und Geschwätz der politischen, finanziellen und geistigen Eliten treten in der Informationsgesellschaft durch die Vielfalt der Medien nur noch offener zu Tage: Der Alltag ist umgewandelt zum Abenteuerpark - von denen, die es sich leisten können, und das sind viele. Aber geblieben ist die Einsamkeit des Einzelnen, sein Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe – die Neurosen der Liebenden, die sich immer noch so verzweifelt suchen und doch nicht finden, sind inzwischen vergesellschaftet, die Entfremdung des Einzelnen spiegelt sich in der gesellschaftlichen Entfremdung – und umgekehrt. Ich verliere mich, weil die Gesellschaft mich nicht will, wie ich bin, bis sich am Ende die Gesellschaft, die nicht so ist, wie wir sie wollen, auflöst und verliert. Nach dem Sieg der kapitalistischen Gesetze, die unser animalischer Geist erst installierte, wird es keine menschliche Gesellschaft mehr geben. Sie hat sich nicht rentiert.
Die verrückte Kommunikation des etablierten Kollektivs und die Entfremdung des Einzelnen in den Figuren Marcel und Albertine ist so genial wie das Ei des Kolumbus.
Prousts Suche nach der verlorenen Zeit ist der Schrei in einer selbstmörderischen Gesellschaft: Ich will leben!
Von Alter, Krankheit und Tod gezeichnet sind alle – das Spiel ist aus. Das Wesentliche ist nun gesagt. Da trifft sich das Stück auf geheimnisvolle Weise mit Sarah Kane’s letztem Stück.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Im letzten Stück zerfällt das Ich in mehrere Ichs, die als ein Wir der Klage aufgefasst werden können, der monologische Dialog ist Wortmusik und lyrisches Nocturne, Analyse und Vorspiel zum Selbstmord ... grandios übersetzt von Durs Grünbein, dem ähnliche Selbst- und Seinsauslotung in seinen ersten Gedichtbänden gelang. Seit dem Büchnerpreis wurde er zum Buchhalter der Bildungslyrik unserer Zeit.