KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Qingdao – eine neue Welt (5/11)
456. Kolumne
Der Unterricht beginnt wieder. Wir lesen Brechts „Maßnahmen gegen die Gewalt“. Auf die Frage, woran die Diktatur in der „Zeit der Illegalität“ zugrunde gegangen sei, antwortet ein Mädchen: An der Korruption. Ich sage: Vielleicht können wir den Kampf gegen die Korruption, den Präsident Xi Jinping ausgerufen hat, jetzt besser verstehen. Eine Welle des Lächelns antwortet mir.
Mit dem Bus 321 fahren wir ins Zentrum der Ost-Stadt. Stop and go am Wochenende. Mein Eindruck: Alle Chinesen sind jünger als wir. Auf den Trottoirs in der Stadt laufen nur wenige ältere Leute, kaum sehen wir einen Greis. Nur in den alten Stadt- und Wohngebieten, in kleinen Läden und Parks treffen wir auf ältere Leute.
Selten stört laute Musik. Die meisten Menschen wirken ruhig und gelassen. Allerdings gehören Handy und iPad zum Stadtbild wie in Europa.
Nach einer Woche haben wir erst drei Fahrradfahrer gesehen. Noch vor dreißig Jahren gab es mehr Fahrräder als Autos.
Dem neuen China fehlt in der augenblicklichen Phase der MacDonaldisierung Eleganz und Gemütlichkeit. Hier gibt es trotz des mediterranen Klimas kaum so etwas wie ein ambiente des dolce far niente, Cafés und Bistros etwa, Biergärten und Tische im Freien, auch da nicht, wo das neue Qingdao richtig schön ist – an der riesigen, 300 Tonnen schweren Stahlskulptur „Wind im Mai“, deren rote Spiralen in der diesigen Nachmittagssonne leuchten. Über der Spitze lässt ein Junge seinen Drachen fliegen, und nicht weit entfernt weht die rote Fahne. Der große fünfzackige gelbe Stern im oberen Eck symbolisiert die Partei, rot ist der Kommunismus, die vier kleinen Sterne unter dem großen stellen die gesellschaftlichen Gruppen dar: Arbeiter, Bauern, Kleinbürger und – „patriotische Kapitalisten“. Wind im Mai ... am 4. Mai 1919 protestierten Tausende von Studenten in Peking gegen die Regierung, die in den Pariser Vorortverträgen zugestimmt hatte, dass die von Japanern besetzte Stadt Qingdao nicht an China zurückgegeben werden soll. Eine noch nie dagewesene Welle des Patriotismus erfasste das ganze Land.
Hier, wie überall in Qingdao, sehen wir kaum Ausländer. In einem der wenigen Bistros, wo wir Tsingtau-Bier vom Faß trinken, sitzen zwei Amerikaner ...
Freitag. Am Abend sind die Busse überfüllt, der Verkehr stockend. Wir gehen ins „Carrefour“, ein Kaufhaus mit einer kolossalen Lebensmittel-Etage mit vielen europäischen Import-Produkten neben asiatischer Nahrung. Im Parterre gibt es französische Feinbackwaren, Weißbrot und Baguettes. Der Laden wird einigermaßen gut besucht, die wohlhabenderen Käufer werden durch zwanzig geöffnete Kassen geschleust.
Am 15. Tag des 8. Mondes feiern die Chinesen 中秋节 – das Mondfest. Sie backen Mondkuchen mit einer Marzipanfüllung und Eigelb, so leuchtet der Vollmond auch im Kuchen. Den bringen die Assistentinnen des blauen Himmels vorbei, und Qi Dongdong schreibt mir eine Mondmail.
Der Himmel ist blau. Unsere beiden Damanr, Dawn (张化雨 Zhang Huayu – Huayu heißt Blütenregen; Regen, der auf die Blumen fällt und sie wachsen lässt) und Margrit (匡默筠 Kuang Moyun), holen uns ab, wir wollen die Straßen und Gebäude in der Altstadt besichtigen. Sie bringen von der Univerwaltung mein Honorar mit, das ich für meinen Lehrauftrag erhalte, 7560 Yuan nach Abzug der Steuern, umgerechnet rund 1100 Euro für 8 mal 4 Unterrichtsstunden. Chinesische Hochschullehrer bekommen ein mittleres Monatsgehalt von rund 5000 Yuan, sagt Zhang Huayu.
Sie wohnt seit diesem Semester in einem Zimmer für vier Studenten – vorher waren sie sechs. Das Wohnen kostet nun 400 Yuan mehr als bisher, rund 1000 Yuan im Jahr. Das ist billig. Die über 10.000 Studenten auf dem Laoshan-Campus wohnen sehr beengt, sie haben kein eigenes Badezimmer, keine Küche. Das Essen in der Campus-Mensa kostet am Tag zwischen 10 und 20 Yuan. Die Mensa ist groß und modern eingerichtet, das Essen nahrhaft und abwechslungsreich; es gibt auch Pommes frites mit einem Tütchen Ketchup wie bei MacDonald’s. Von der Mensa kommt man direkt in den kleinen Supermarkt, der ein paar Lebensmittel, Haushaltsdinge und Schulsachen führt. Das Wohnareal ist von einem Dorf in unmittelbarer Nähe abgegrenzt durch eine Mauer mit einem hohen Zaun und elektrischen Stromdrähten. Die Bauern betreiben auf dem Campusgelände Stände mit allerlei Nahrung, Obst und Gemüse. Die studentischen Wohnanlagen werden am Eingang bewacht, der am späten Abend geschlossen wird. Ausgang in der Nacht muss beantragt werden. Um ein wenig Privatsphäre zu bekommen, hängen fast alle Studentinnen eine Gardine vors Bett und können sich dahinter unbefangener umziehen. Allerdings ist das offiziell verboten. Proteste der Studenten wurden von der Universität zurückgewiesen. Die Hausmeisterin meint, das Private schade der Freundschaft, sie lässt jeden Montag die Stuben durch Mitstudenten prüfen und benoten, erzählt Zhang Huayu ... Noch Internat oder schon Kaserne?
Wir trinken Tee, wir haben unseren Marani aus Bonn mitgebracht, grünen chinesischen Tee, Sencha-Blüten ... Irgendwie kommen wir auf die Pekingoper zu sprechen. Kuang Moyun singt aus einer Oper vor, dabei bewegt sie die Hände wie die Sänger auf der Bühne, und Zhang Huayu singt nun auch, sie wählt eine Partie aus der Oper „Die rote Laterne“, die ich zu Hause in Bonn auf drei alten Schallplatten habe – eine proletarische Oper aus der maoistischen Zeit, in der die klassische Pekingoper verpönt war. Mao verlangte neue Opern im Stil des sozialistischen Realismus.
Die Originale des architektonisch vorherrschenden Stils in Qingdao finden wir bei den deutschen Gebäuden im Westen der Altstadt an den seewärts liegenden Hügeln. Die Straßen werden von Bäumen an den Bürgersteigen gesäumt wie in wilhelminischen Villenvierteln deutscher Städte. Die alte deutsche Post dient jetzt als chinesische, und als Museum. Wir gehen hinauf zur katholischen Kirche St. Michael, benannt nach dem Schutzheiligen der Deutschen. Das Innere der neoromanischen Kirche ist der reine Kitsch, überbunte Wandgemälde im Stil der Paradiesbilder der Zeugen Jehovas, die Apsis ein Jahrmarkt der katholischen Frömmigkeit, an der Nordwand die Pietà von Michelangelo in schreienden Farben ... Auf dem großen Platz vor der Kirche lassen sich Hochzeitspaare fotografieren, die Fotografen liegen rücklings und bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster, Helfer werfen die Schleier in die Luft, Wind vortäuschend, die Männer schauen ihren treu und sehnsüchtig aufblickenden Frauen ernst und gütig tief in die Augen. Der Platz ist erfüllt von gespielten Bildern des Glücks.
Ein langer Pier in der Bucht führt zum chinesischen Pavillon, den die deutschen Schutzherren errichteten. Heute ist die Strandpromenade, an der die ehemaligen Kolonialverwaltungsgebäude liegen, ein beliebtes Ausflugsziel vieler chinesischer Familien. Zhang Huayu erzählt, vor diesem Pavillon sei das letzte Foto von ihrem Vater entstanden, als er sie nach der bestandenen gao kao (der gefürchteten Großen Prüfung für die Zulassung zum Universitätsstudium) zusammen mit ihrer Mutter nach Qingdao brachte. Er starb an den Folgen eines Herzinfarkts. Das war vor drei Jahren.
Wir sitzen im ehemaligen deutschen Clubhaus – jetzt ein Restaurant, die schönen oberen Clubräume mit Möbeln aus der Kolonialzeit werden für festliche Anlässe genutzt – und diskutieren über die gegenwärtige chinesische Literatur. Kubin behauptet, es gebe zur Zeit kaum gute Literatur, die sprachlichen Fähigkeiten der Schriftsteller seien in der maoistischen Ära auf den Hund gekommen. Erst die Übersetzungen ins Amerikanische oder Deutsche machten sie zu literarisch akzeptablen Büchern. Die Übersetzer schreiben die Romane neu, sie erschaffen sie überhaupt erst. Ich erwähne, dass Kubin einen langen Essay über die Probleme des Übersetzens geschrieben hat. Seine Thesen halte ich für überspitzt, aber sie sind im Kern wahr. Zhang Huayu widerspricht: Kubin kennt vieles nicht. Er liest nur die alte hohe Literatur. Aber auch die anspruchsvolle Lyrik der Gegenwart, werfe ich ein, bedenken Sie, er hat mehr davon ins Deutsche übersetzt als die meisten Sinologen. Er weiß nicht, was die jungen Leute lesen, sagt sie, es gebe übrigens auch konkrete Poesie in der chinesischen Lyrik, sagt sie.
Zhang Huayu nennt als Beispiel für einen gelungenen Roman der Gegenwart „Huang jin shi dai“ von Wang Xiao Bo (王小波:黄金时代), Die goldene Zeit. Der Roman zeige, wie tief die Kulturrevolution in das Leben der jugendlichen Hauptfigur des autobiografischen Romans eingriff. Der Ich-Erzähler verspottet die Absurdität der gesellschaftlichen Verhältnisse und protestiert gegen Normen und Zwänge im Ausleben seiner Sexualität.
Vielleicht ist nur die Kindheit ungetrübt schön, wenn wir uns geborgen fühlen bei den Eltern, in der Familie in der Wohnung, in der Schule und im Zustand der Unschuld und der Ahnungslosigkeit dem gegenüber, was das Leben an Verletzungen noch bringen wird. Thomas Bernhard schreibt in „Alte Meister“, die Kindheit reden wir uns schön, sie ist schon die Hölle, ehe wir irgendetwas begreifen. Ist das eine erlaubte Lüge, wenn wir uns an die Schönheit unserer Kindheit erinnern, weil sie uns Kraft gibt ein Leben lang – wenn nicht große Armut das Leben schon in der Kindheit erniedrigt? Aber dann erzählt Zhang Huayu die Geschichte ihrer Großmutter, die fünf ihrer Kinder vergiftete, weil sie nur zwei ernähren konnte.