KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:51
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Qingdao – eine neue Welt (6/11)

457. Kolumne

Kafkas kleine Parabel „Der Aufbruch“ bereitet meinen Studentinnen große Schwierigkeiten. Kafka sei sehr schwer zu verstehen, sagen sie. Aber nach einer Stunde begreifen sie, was das bedeutet: „Weg-von-hier, das ist mein Ziel.“ Die Leute sind jung, sie haben noch keine große Lebenserfahrung. Wie sollen sie die auch bekommen, so eingeschlossen in einem Campus, der so weit abgelegen ist von der Stadt und den Gelegenheiten, sich selbst zu erproben? Mit dem Bus fährt man über eine Stunde bis zum Rand des Stadtzentrums. Mädchen und Jungen wohnen getrennt. Von ihnen wird viel Disziplin gefordert. Sie kommen mir vor wie Schüler der gymnasialen Oberstufe, nicht wie Studenten. Viele wollen nach dem Bachelor einen Beruf ergreifen, andere wollen nach Deutschland, dort weiterstudieren, auf Master.

Erst spät entdecke ich die Kamera an der Decke im Klassenzimmer. Die Schüler sagen, sie dient der Überwachung der Schüler beim Schreiben von Klausuren ... Kepser sagt, in jedem Kurs gibt es einen Spitzel, der darüber berichtet, ob die Lehrer pünktlich den Unterricht beginnen und beenden, und was im Unterricht besprochen wird ... Über jeder Tafel steht in großer Schrift: „Mit dem Herzen lehren, streng führen, leidenschaftlich dienen.“ Viele Schüler durchschauen solche Phrasen. Sie sind innerlich so weit weg von der kommunistischen Lehre, dass sie die Notwendigkeit einer Kritik der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse nur schwer erkennen können. Viele gehen, so vermute ich, einen unpolitischen, eskapistischen Weg.
Zwei Wochen vor dem Beginn des Herbst-Semesters liegen unter dem Triumphbogen des Uni-Campus große Stapel militärischer Kampf- oder Tarnanzüge für die Erstsemester. Die jungen Studenten werden sich im Exerzieren bis zum Semesterbeginn ertüchtigen, angeleitet von Soldaten. „Ich bin froh, wenn ich hier weg bin“, sagt mir eine Studentin.

An einem Donnerstag Nachmittag findet meine Lesung in einem Saal des Fremdspracheninstituts der Universität statt. Über einhundert Personen erscheinen, die anderen Fremdsprachenlehrer, die Kollegen, einige Doktoranden und viele Studenten der Germanistik, Herr Kepser, Didaktik-Professor (er macht denselben Job wie ich) und Frau Chung, Doktorandin für Wissenschaftssprache, beide aus Bremen.
Kubin moderiert als Leiter der deutschen Abteilung die Veranstaltung auf Deutsch und Chinesisch, indem er fortwährend übersetzt, mich vorstellt, befragt und eigene Gedichte aus seinem Band „In fernen Landen“ auf Deutsch vorträgt. Ich lese drei Texte aus meinem Roman „Doppelhimmel“ und meine Übersetzung eines Gedichts von Yang Lian („Die Höhe des Traums“), das eine Studentin auf Chinesisch, wunderbar klingend, vorträgt. Ich sitze neben Kubin an einem Pult, auf das er zwei silberne Flachmänner stellt. Er schenkt in winzige Schnapsgläser immer wieder 56%-igen Maotai ein. Nach der Diskussion einiger Fragen aus dem Publikum fahren wir in Taxis zum Restaurant „Sophia“.

Wir landen vor einem großen, vornehmen Gebäude, Hotelbedienstete öffnen die Autotüren, wir werden erwartet. Der Dekan der Fremdsprachenabteilung lädt ein. Wir werden nicht in einen größeren Speisesaal geführt, sondern in eines der vielen Separées, die von einem Gang abzweigen. Die Türen stehen teilweise offen, sodass man auf eingedeckte Tische sieht. So ein Raum ist auch für uns vorgesehen. Neben dem Esstisch gibt es eine gepolsterte Sitzecke, einen Tisch und eine Kamin-Attrappe. Auf dem Tisch steht gutes weißes Porzellan. Neben den Essstäbchen liegen Messer und Gabeln. Der Tisch hat eine große runde Glasscheibe zum Drehen – und in der Mitte eine kugelförmige Glasschüssel mit Goldfischen, Symbol für Wohlstand und Reichtum. Es gibt kaltes Bier – mit Bezug zu einem Gedicht, das Kubin am Nachmittag gelesen hatte: Augerta, Bier einer deutschen Brauerei, die 1903 in Qingdao gegründet wurde.
Schließlich nehmen dreizehn Personen rund um den Tisch Platz. Es liegen warme, feuchte Tücher neben den Tellern. Aus weißen Teekannen wird heißes Wasser in kleine Gläser gegossen, sehr bekömmlich beim Essen, und in große Gläser Rotwein aus der Provinz Shandou, aber so wenig, dass ich denke, ich soll den Wein kosten. Eine Bedienung geht fast pausenlos um den Tisch und schenkt Wein in die geleerten Gläser nach. Nach und nach werden Schüsseln, Platten und Töpfe mit Spezialitäten der Qingdao-Region auf den Tisch gestellt. Jeder nimmt sich, was ihm gefällt: Fischstückchen in einer Suppe mit Chili und Pfefferkörnern, Seetang mit Muscheln und Senfgeschmack, Seetang, der aussieht wie schwarze Nudeln in Mehl gewendet, frittierte Garnelen, Pekingente, rohe Knoblauchzehen und Ingwerscheiben, Rindfleischstückchen auf gedünsteten Zwiebeln, feiner Salat mit pikanter Soße, hauchdünne Eierkuchen, in die man unterschiedliche Salatblätter und geröstetes Rindfleisch oder kleine getrocknete Fische einwickeln kann, eine Suppe aus Eierstich, die man mit etwas Gewürz aus den vielen zusätzlichen kleinen Schüsseln anreichern kann, Kichererbsen mit Frühlingszwiebeln, Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen, und Broccoli. Zum Schluss bekommt jeder eine Suppentasse mit langen dünnen Bandnudeln in einer dünnen Brühe schwimmend, die manche scharf würzen. Eine Herausforderung: Nudeln mit Stäbchen essen, ohne allzu sehr zu schlürfen. Die Nudeln dienen der Magenberuhigung. Sie schließen den Magen, wie bei uns der Käse. Reis wird nicht serviert, er gilt hier eher als Sättigungsbeilage.

Der Dekan stellt sich und seine Professoren in chinesischer Sprache vor. Deputy Chairman Qi von der deutschen Abteilung übersetzt das ins Deutsche. Wir heben die Gläser: „Gan bei!“ – Trockne das Glas! Sie werden kurz an die Drehscheibe mit den Schüsseln gestoßen – das bedeutet: Prost für alle, die hier essen. Das geschieht drei Mal im Laufe der Zeit. Nun folgt der Dank der Gäste durch den Chairman der deutschen Abteilung, Professor Kubin. Dann kann jeder einen individuellen Toast ausbringen, mal auf Chinesisch, mal auf Deutsch. Auch der Dekan geht zu einzelnen Gästen, um mit ihnen anzustoßen und ein paar Worte zu wechseln. Als alle nichts mehr essen und trinken können, sind noch Reste auf dem Tisch. Nach der staatlichen Devise des ‚leeren Tellers’ werden die Schüsseln in kleine Plastikbeutel geleert und von einigen Gästen mitgenommen.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(16.05.15)
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