KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
(bisher 778x aufgerufen)
Elegie
510. Kolumne
I
Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?
daz ich ie wânde, daz iht wære, was daz iht?
dar nâch hân ich geslâfen und enweiz es niht.
nû bin ich erwachet und ist mir unbekant,
daz mir hie vor was kündic als mîn ander hant.
liute unde lant, dar inn ich von kinde bin erzogen,
die sint mir worden frœmde, reht als ob ez sî gelogen.
die mîne gespilen wâren, die sint træge unt alt.
bereitet ist daz velt, verhouwen ist der walt.
wan daz daz wazzer fliuzet als ez wîlent flôz,
für wâr, wânde ich, mîn ungelücke wurde grôz.
mich grüezet maniger trâge, der mich bekande ê wol,
diu welt ist allenthalben ungenaden vol.
als ich gedenke an manigen wunneclîchen tac,
die mir sint enphallen als in daz mer ein slac,
iemer mêre ouwê.
II
Owê, wie jæmerlîche junge liute tuont,
den ê vil hovelîchen ir gemüete stuont!
die kunnen niuwan sorgen, owê, wie tuont si sô?
swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman frô:
tanzen, lachen, singen zergât mit sorgen gar:
nie kristenman gesach sô jæmerlîche schar.
nû merkent, wie den frouwen ir gebende stât,
die stolzen ritter tragent dörpellîche wât.
uns sint unsenfte brieve her von Rôme komen,
uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen.
daz müet mich inneclîchen, wir lebten ie vil wol,
daz ich nû für mîn lachen weinen kiesen sol.
die wilden vogellîn betrüebet unser klage,
waz wunders ist, ob ich dâ von verzage?
waz spriche ich tumber man durch mînen bœsen zorn?
swer dirre wunne volget, der hât jene dort verlorn,
iemer mêr ouwê.
III
Owê wie uns mit süezen dingen ist vergeben!
ich sihe die bittern gallen in dem honige sweben:
diu werlt ist ûzen schœne, wîz, grüen unde rôt,
und innen swarzer varwe, vinster sam der tôt.
swen si nû verleitet habe, der schouwe sînen trôst:
er wirt mit swacher buoze grôzer sünde erlôst.
dar an gedenkent, ritter; ez ist iuwer dinc.
ir tragent die liehten helme und manigen herten rinc,
dar zuo die vesten schilte und diu gewîhten swert.
wolte got, wær ich der sigenünfte wert!
sô wolte ich nôtic man verdienen rîchen solt.
joch meine ich niht die huoben noch der hêrren golt,
ich wolte sælden krône êweclîchen tragen,
die mohte ein soldenær mit sîme sper bejagen.
möhte ich die lieben reise gevarn über sê,
sô wolte ich denne singen wol und niemer mêr ouwê,
niemer mêr ouwê.
Oweh, wohin sind sie verschwunden alle meine Jahre?
Habe ich mein Leben nur geträumt oder ist es wahr?
Wenn ich glaubte, alles wäre wirklich, war das so?
Hab ich nur geschlafen und ich weiß es nicht?
Nun bin ich aufgewacht und mir ist unbekannt,
was mir zuvor vertraut war wie die eigene Hand.
Land und Leute, wo ich seit der Kindheit aufgewachsen bin,
die sind mir fremd geworden, gerade so, als ob’s erfunden wäre.
Die meine Freunde waren, die sind nun alt und träge.
Felder sind entstanden, gerodet ist der Wald.
Wenn das Wasser nicht mehr flösse, wie es immer floss,
glaubte ich fürwahr, mein Unglück wäre groß.
Mich grüßen viele zögerlich, die früher gut mich kannten.
Die Welt ist voller Undank überall.
Wenn ich an die vielen Freudentage denke,
die mir nun verloren gingen wie ein Schlag ins Meer –
immer mehr oweh!
Oweh, wie trostlos geben sich die jungen Leute,
die so höfisch einst gesonnen waren.
Sie kennen nichts als Sorgen. Ach, warum benehmen sie sich so?
Wohin ich in der Welt mich wende, da ist niemand froh.
Tanzen, Lachen, Singen gehen ganz in Sorgen unter.
Niemals sah ein Christ ein derart jämmerliches Volk.
Seht nur, wie den Damen ihre Hüte stehen!
Die stolzen Ritter tragen bäuerische Kleidung!
Aus Rom bekamen wir recht barsche Briefe,
Traurigsein ist uns gestattet, Freude aber ganz genommen.
Es tut mir weh – wir lebten einst so froh –,
dass ich nun weinen soll statt lachen.
Selbst die Vögel draußen sind verstimmt durch unser Klagen,
ist es da ein Wunder, wenn ich nun verzage?
Was sag ich da, ich tumber Tor, in meinem schlimmen Zorn?
Wer nur der Wonne nachjagt, hat die Seligkeit verloren –
immer mehr oweh.
Oweh, wie wir vergiftet sind mit süßen Dingen!
Ich seh im Honig bittre Galle schwimmen.
Die Welt ist außen schön, weiß, grün und rot,
innen nur von schwarzer Farbe, finster wie der Tod.
Wen sie verleitet hat, der achte auf sein Heil:
Er wird mit schwacher Buße schon erlöst von schwerer Sünde.
Daran denkt, ihr Ritter; es ist eure Pflicht.
Strahlend helle Helme tragt ihr und die feste Rüstung,
dazu die festen Schilde und geweihten Schwerter.
Wollte Gott, ich wäre dieser Siege würdig!
Ich armer Mensch, ich könnte reichen Lohn verdienen.
Doch meine ich kein Landgut noch der Herren Gold:
Ich wollte selbst die Krone der Erlösung ewig tragen,
ein Söldner konnte sie mit seinem Speer erringen.
Könnte ich die mir so liebe Reise machen übers Meer,
ich würde dann vor Freude singen und nimmermehr oweh,
nimmermehr oweh.
[Übersetzung: U.B. 2014]
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
mir gefallen walthers minnelieder weitaus besser. trotz folgender begebenheit in der unterprima: erhard h. nach dreistündiger klausur über walthers minnelieder: "herr studienrat, nun hab ich einen halben tag über walthers minnelieder sinnert, und nichts ist dabei herumgekommen."
eine witzige parodie auf wather von der vogelweides genöle (schlussteil):
"O Weh, die Ritter in den Bauernlumpen
Und alle Frouwen verstecken sich in Magazinen
Das wilde Vögeln ist mir lang schon nichtig worden
Ich habe einen bösen Zorn in mir
auf dieses und das andere Leben
Die genveränderte Schokolade
schmeckt bitter heut und gallig
Die Welt ist gänzlich ausgehobelt
und diese Männer mit dem groben Lächeln
haben in die Furchen Schuldscheine gesät
Ich will die Kreuzfahrt machen übers Meer
nach Westen hin, nach Westen hin
Doch welche Tintenfeder
ist scharf genug, ist scharf genug."
hier die fundstelle: nach unten scrollen.
walther im original ist was anderes als übersetzt gelesen. schon tucholsky sprach vom besonderen klang des mittelhochdeutschen.
der verschollene Klang der mittelhochdeutschen Sprache eignet sich besonders gut für eine Elegie.
Schön, dass du uns wieder an diese meisterhafte Elegie erinnert hast.
Versuchte man heute, eine Elegie auf den derzeitigen Kulturbetrieb zu schreiben, würde man sich als ewig Gestriger lächerlich machen.
Walter hatte damals bessere Karten für sein Klagelied. Gleichwohl wurde auch er mit seinen hohen Ansprüchen an die reine Minne schließlich von Neidhart von Reuenthal vorgeführt.