KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Wibeau II. und das Klausner-Schiff
532. Kolumne
Erste Gedanken zu Lutz Seiler, Kruso (I)
Ich lese endlich Lutz Seilers „Kruso“. Und bin sehr angetan von seinen Ideen und der im Roman geschaffenen Atmosphäre. Ich lernte den Klausner just 1989 kennen, als Lutz Seiler = Ed(gar Wibeau II.) dort arbeitete, und vielleicht habe ich ihn sogar gesehen, jedenfalls hat er meine Kaffeetasse abgewaschen. Als Westler habe ich die Atmosphäre auf der Insel so erlebt, wie er sie beschreibt. Die Überhöhung in der Fantasien der Klausner-Besatzung sind wunderbar opernhaft, spinnert, ironisch, humorvoll, und doch auch wahr im tiefsten Kern. Allerdings habe ich so eine Arbeitsorgie, wie Seiler sie erzählt oder Ed erleben lässt, nie erlebt. Sondern eher das Gegenteil. So lese ich dieses großartige Kapitel eher als eine liebevolle Satire oder als Sehnsucht des Romanhelden nach echter Bewährung in einer selbst zu verantwortenden Aufgabe. Der Roman hat tragikomische Züge. Ich lese ihn als Parabel auf die ganze DDR und das Nischen-Leben, das sie ermöglichte oder erzwang: Eine Welt, in der das innere Leben durch die äußeren Bedingungen mehr Realität gewann. Mit Nische meine ich das Aufgehobensein ohne materielle Not und Angst vor Arbeitslosigkeit. Dies war die größte Errungenschaft in der DDR, ohne Zweifel. Aber es bedeutete auch, dass Fremdbestimmung über Selbstbestimmung herrschte. Die einen gingen in diesen Verhältnissen auf, die anderen litten darunter und suchten Freiheit oder wenigstens Surrogate der Freiheit. So war Hiddensee eine Laubenkolonie für Edgar II. „Kruso“ ist ein Abgesang auf den Nutzen und Gewinn des Eskapismus in der DDR – so sehr, dass der Fortfall des Nischenlebens nach der Wende schmerzvoll empfunden wurde von vielen, die sich in einer durchaus lebensfähigen DDR-‚Romantik’ als Freiheitsersatz eingerichtet hatten.
Ein toller Roman. Er ist stärker noch als die ebenfalls wunderbare Novelle „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ von F. C. Delius. André Schinkel, der in Halle lebende Redakteur von „Ort der Augen“, lektorierte die Memoiren des realen Spaziergängers, der tatsächlich nur mal nach Italien reisen wollte. Und er kehrte auch wieder in die DDR zurück.
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(21.10.16)