Benkel, Holger:
meißelbrut
Gedichte
Eine Rezension von Bergmann
Holger Benkel, meißelbrut. Gedichte mit Holzschnitten von Sabine Kunz. Ziethen-Verlag Oschersleben 2009.
„Holger Benkels Gedichte leben vom Elementaren. Seine Motive sind Erde, Feuer, Wasser, Luft, sind Dinge, Pflanzen und Tiere, Landschaftsformen seiner mittelelbischen Heimat, Körpererfahrungen, Wunden, Zerfall. Aber wenn die Gedichte im wörtlichen Sinn leben, in sich fließen und vibrieren und einander Echo geben, so gerade, weil ihre Motivwelt komplexer ist, als sie auf den ersten Blick scheint.“ (Volker Drube)
Der Dichter Holger Benkel, der 1959 in Schönebeck an der Elbe geboren wurde, dort in der Lessingstraße wohnt und ganz von seiner Arbeit als Schriftsteller und Lesender lebt, ist ein Gewächs auf dem Seelenboden der Magdeburger Börde. Das führt sogleich zur Dialektik eines Menschen zwischen extremer literarischer Fruchtbarkeit einerseits und Distanz zu den Dingen der Welt. Der Börde-Mensch ist verschlossen und lebt gern zurückgezogen, und doch lebt in ihm das Feuer der Worte – aber diese Kommunikation will eine strenge Form, sonst kann sie nicht leben. Er ist dem Vulkan vergleichbar, unter dem das Magma-Meer schwappt, aber nur virtuell ausbricht und nur so geboren wird: Als Wort. Aus der fruchtbaren Erde dieser nach heutigen Begriffen im Osten liegenden Landschaft wuchs ein vielgestaltiges Werk, das mit der Welt korrespondiert, wie sie ist, und zugleich ein intimes Zwiegespräch mit dem Totenreich und dem Transzendenten führt.
Was heißt das?
Holger Benkel lebt eigentlich gar nicht. Weder hier noch jetzt. Wir sehen ihn dort und glauben: Da ist er. Aber das ist eine Täuschung. Er ist nämlich da, wo er eigentlich lebt, nämlich bei den Toten. Wir müssten also, wenn wir ihn wirklich erreichen wollen, zu ihm gehen, zu den Toten, wo das wirkliche Leben atmet.
Das geht nicht, denken wir. Doch, es gibt einen Weg. Ich finde ihn in seinen Briefen, in denen er Tag für Tag lebt, da drunten in seinem Reich, wo auch die Gedanken zu Hause sind. Der irdischen Welt bedient er sich ja nur aus lauter Anhänglichkeit an einen Lebensstatus, den er schon früh überwand, mit Ausnahme der Sprache, die er liebt wie kein zweites Wesen, und weil das Transzendente nun mal nicht existent sein kann ohne das Diesseits. Benkel kehrt in seinen Gedichten Leben und Tod um, das Leben ist tot – erst im Tod kann ich leben. Karl Marx hat Hegel wieder auf die Füße gestellt – Holger Benkel stellt Marx auf den Kopf, er verlässt die unlebbare Basis und lebt im Überbau einer geistigen und seelischen Welt, die viel gemeinsam hat mit keltischen Vorstellungen. Ich weiß bis heute nicht, ob die keltische Mythologie für ihn eine ästhetische Bilderwelt darstellt, die er als Instrument seiner Dichtung benutzt, oder einen religiösen oder weltanschaulichen Glauben. Sein letzter Brief an mich ist keltisch datiert, wie alle seine Briefe seit über zehn Jahren: 12. tag des efeumonats – auf der suche nach der anderswelt. Er fällt konsequent aus der Zeit – wer so tot ist wie Holger Benkel im Nirgendwo, im Reich von Kein-Ort, der lebt wörtlich in der Erlösung von der irdischen Welt: In einer Utopie der Worte.
Später begriff ich, dass er ja schon hinübergewandert war zu den Toten, wo er wirklich leben kann. 1995 veröffentlichte er seinen Gedichtband „kindheit und kadaver“ und den Prosaband „reise im flug“, Träume und Ereignisse, beide im Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg. Später schrieb er Aphorismen: Gedanken, die um die Ecke biegen, inzwischen auch ein gigantisches Prosawerk, eine Art moderne Mythologie der Tiere (hier sind weit über eintausend Seiten entstanden in einem Werk, vielleicht sogar ein opus magnum, das noch seine endgültige Form sucht) – und immer wieder neue Gedichte, die permanent überarbeitet werden. Die unter dem Titel „meißelbrut“ versammelten Gedichte befinden sich in einem reifen Zustand, werden aber nie fertig.
Vor allem hier finden wir ein Portal zu Holger Benkels Gedanken. Dort gibt es nicht mehr die Kompromisse, die der Lyriker in seinen weltlichen Briefen eingeht. Dort ist er ganz er selbst im vollendeten Wort eines Todes, der über die Welt siegt: „vielleicht kann man zuletzt allein noch jenen worten vertrauen, die scheinbar keinen sinn ergeben. während der logik der geschichte die paradoxie der begriffe entspricht, werden wir erst in der absurdität der bilder einsichtig“, sagt er in einem Gespräch mit dem Schriftsteller A. J. Weigoni, „... was erweckt, das tötet auch. wer den tod nicht will, darf sich nicht erwecken lassen. utopien sind ein ewiger kreuzzug der kinder ... auf der reise zum ort ohne grund, hinter den wind oder unter die wellen müssen wir uns sowieso von uns selbst ernähren. und am ende wirkt jedes tiefere einfühlen kannibalisch. wiederum muss der künstler, um barrieren zu übersteigen, die seine kreativität hemmen, immer erneut grenzgängerisch aus der kultur, die ihn umgibt, heraustreten, was mit der tatsache korrespondiert, dass das wahre selbst etwas ausserhalb des ich ist und nur substanz bilden kann, wessen seele wandert oder wer mehrere seelen hat. die völlige einheit, im sinne der deckungsgleichheit, von kultur und kunst, ich und selbst, wissen und ahnen, aussenwelt und innenraum, wäre jedenfalls die komplette erstarrung.“
verwandlung
führt der hund die toten über die grenze
indem er sie frißt kann er sie begreifen
und besitzen glaubt der mensch in seinem geist
der andern kreatur steh ich auf der schwelle
im zwielicht der sinne leg ich mich nieder
zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe
verwandle ich mich in jedes tier begleit ich
meine eigne beigabe zieh ich die seele
aus dem fleisch wächst mir das fell glänzend weiß
lauf ich mir durch wälder entgegen komm ich an
unter der erde fresse ich mich selbst wie hunde
einst als aas birgt mich der frauenleib
erst wenn mir goldne borsten wachsen
Der Totenhund erinnert sofort an Charon. Der hat sich im Hades bezahlen lassen und tut seine parallele Pflicht zu Sisyphos - hier aber frisst er die Menschen, um sie zu begreifen. Wenn dieser Hund Repräsentant der zuletzt gestorbenen Menschen ist, dann bedeutet dieses Bild: Erst nach dem Leben verstehen wir das Leben, im Leben verstehen wir uns nicht.
Angesichts des elliptischen Charakters, der sich durch permanente Subjekt-Prädikat-Inversionen in allen Gedichten Benkels einstellt, kann gesagt werden, dass sich das Wenn-dann-Gefüge, das sich (mir) beim Lesen immer aufdrängt und einen gute Lese-Lenkung bewirkt, ganz einfach aufgehoben wird, wenn ich zu Beginn - oder später an entsprechender Stelle - ein „Es“ ergänze: es führt der hund … Die Inversionstechnik findet ihre Entsprechung in der Umkehrung der Seinsverhältnisse, wo Benkel der Sphäre des Todes das eigentliche Leben zuspricht - und umgekehrt. Das lyrische Ich wird hier grammatisch und semantisch versetzt und vermindert im Schatten der inversiven Semantik.
Prägnant ist das Bild vom Zwielicht der Sinne. Das Bild enthält eine Zweikörpertheorie, ich bin erinnert an das Licht als Welle und Korpuskel. Der eine Sinn ist der physische, der äußere Körper, der andere Sinn ist der zum fühlenden gewordene innere Körper an der Schwelle zum inneren Leben. Aber das körperliche Fühlen wird im Bild des Liebesaktes nicht aufgegeben, Sterben wird als erotischer Prozess verstanden, man kann vielleicht auch sagen: Alle Veränderung ist erotisch, wie alle Berührung von Fremdem erotisch stimuliert. „… zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe“ - ich bin wegen der folgenden Verse versucht anzunehmen, dass die Wölfe die Veränderung der eigenen Natur beschreiben, sodass der Sterbende, den ich nun lieber als Werdenden verstehe, mit sich selbst schläft, er erotisiert sich mit seiner in ihm längst schlummernden fremden Gestalt, er will sich schon in diesem Vers fressen, also lieben, besitzen, verstehen, er ist sich selbst der Totenhund als Wolf, er gefährdet sich im Tod zu neuem Leben, seine Flucht vor dem Wölfischen in ihm endet im Liebesakt, der sogar als erotischer Suizid erscheint - aber Suizid als Rettung ins eigentliche, nicht entfremdende oder entfremdete Leben. Nun wird auch klarer, dass der im Sterben ins Leben Auferstehende nicht nur die wölfische Natur in sich zulässt, sondern alle Möglichkeiten an sich werden lässt („verwandle ich mich in jedes tier“), die er im bisherigen Leben nicht hatte.
Nun folgen Verse der Selbstreflexion („begleit ich meine eigne beigabe“) und Autonomie solchen Sterbe-Werdens („zieh ich die seele aus dem fleisch“). Die Trennung vom Körper ist die Befreiung der Seele, die bisher offenbar wie ein verletzender Fremdkörper im Fleisch steckte, da war der Körper eine Wunde, jetzt kann er gesunden: Nun „wächst mir das fell glänzend weiß“. Die doppelte Entfremdung von Körper und Seele ist aufgehoben, nun kann ich mir begegnen („lauf ich mir durch wälder entgegen“) und mich verstehen und mich ganz besitzen: „unter der erde fresse ich mich selbst“. Es folgt der Rückbezug („wie hunde“) zum Anfang des Gedichts und der Kreis wird endgültig geschlossen: Der Gestorbene wird wiedergeboren („als aas birgt mich der frauenleib“), wenn er durch alle Wandlungsprozesse zu seiner Vollendung („goldne borsten“) gegangen ist.
Ich verstehe hier den Hund als eine Einheit von (selbst-)liebender Treue und ins Wölfische gesteigerter (Selbst-)Zerfleischung. Der Plural im Titel will den mythischen Singular ins Allgemeine weiten, zum Wir. Das Gedicht ist ein Trost, wenn wirklich ganz gestorben werden soll, eine Utopie, wenn es im Leben gelten soll um anders zu leben: Aber dem Schwein werden goldene Borsten wohl nie wachsen...
Holger Benkels Lebens- und Todesauffassung wird in diesem und in fast allen anderen „meißelbrut“-Gedichten deutlich: Dass wir nur im Tod leben können. Oder geht dieser Gedanke noch weiter: Es ist das Allerbeste, gar nicht zu leben? Oder: Genüge ich als Idee? Ich teile nicht die Welt- und Lebensablehnung in dieser Schärfe, aber ich stehe dieser Kunst mit großer Achtung und Sympathie gegenüber. Wir sind gar nicht so weit auseinander: Auch in meinen Geschichten passiert nichts Gutes. Über das Gute würde ich ja auch gar nicht schreiben wollen. Über das Gute kann der Künstler nur im Scheitern schreiben. Wir sind Schriftsteller, die der Realität nur mit der Fiktion beikommen. Was bleibt? Benkels Gedichte schärfen kassandrisch das Bewusstsein. Das ist die Voraussetzung für ein besseres Leben im Leben und für die Überwindung der Angst vor dem Tod.
„der moderne künstler muss nicht notwendig prophet sein. das wäre nur eine seiner möglichkeiten“, sagt Holger Benkel, „ich biete ja gerade die völlige desillusionierung als ausgangspunkt der utopie an. auf die frage, welche aufgaben literatur haben könnte, sagte ich einmal, am besten sie hätte welche und niemand würde es merken. ... für mich eröffnet kunst das nicht seiende und ist daher das vollkommen andere gegenüber der utilitären realität, antiwelt und alternative geschichte, und solcherart verwandt mit magie, mythen, mystik, alchemie, märchen, träumen, wahngebilden und einem postvitalen dasein.“ Die Dichter aller Zeiten bedienten sich oft der gleichen poetischen Technik zur Bewusstmachung der Leser: „Werthers Leiden“, „Die Blechtrommel“ oder „Kassandra“ sind Erzählungen des Scheiterns nach dem Muster der negativen Utopie, um eine bessere neue Welt zu fordern. „genau genommen“, sagt Holger Benkel, „sind sogar, oder gerade, meine apokalyptischen gedanken bloss umgekehrte utopien. und ich bleibe dabei, gegenwelten formieren und die realität verändern wollen, das gehört zusammen. der eigentliche fatalismus besteht darin, das vorhandene für unveränderbar zu halten.“
Ich denke, das ist ein überzeugendes Plädoyer für ein besseres Leben. Es gewinnt umso mehr an Authentizität, als die Stimme dieser Ermutigung aus dem Munde eines Toten kommt, der sich auf der Suche nach der Anderswelt befindet. Tote lügen nicht.
„Holger Benkels Gedichte leben vom Elementaren. Seine Motive sind Erde, Feuer, Wasser, Luft, sind Dinge, Pflanzen und Tiere, Landschaftsformen seiner mittelelbischen Heimat, Körpererfahrungen, Wunden, Zerfall. Aber wenn die Gedichte im wörtlichen Sinn leben, in sich fließen und vibrieren und einander Echo geben, so gerade, weil ihre Motivwelt komplexer ist, als sie auf den ersten Blick scheint.“ (Volker Drube)
Der Dichter Holger Benkel, der 1959 in Schönebeck an der Elbe geboren wurde, dort in der Lessingstraße wohnt und ganz von seiner Arbeit als Schriftsteller und Lesender lebt, ist ein Gewächs auf dem Seelenboden der Magdeburger Börde. Das führt sogleich zur Dialektik eines Menschen zwischen extremer literarischer Fruchtbarkeit einerseits und Distanz zu den Dingen der Welt. Der Börde-Mensch ist verschlossen und lebt gern zurückgezogen, und doch lebt in ihm das Feuer der Worte – aber diese Kommunikation will eine strenge Form, sonst kann sie nicht leben. Er ist dem Vulkan vergleichbar, unter dem das Magma-Meer schwappt, aber nur virtuell ausbricht und nur so geboren wird: Als Wort. Aus der fruchtbaren Erde dieser nach heutigen Begriffen im Osten liegenden Landschaft wuchs ein vielgestaltiges Werk, das mit der Welt korrespondiert, wie sie ist, und zugleich ein intimes Zwiegespräch mit dem Totenreich und dem Transzendenten führt.
Was heißt das?
Holger Benkel lebt eigentlich gar nicht. Weder hier noch jetzt. Wir sehen ihn dort und glauben: Da ist er. Aber das ist eine Täuschung. Er ist nämlich da, wo er eigentlich lebt, nämlich bei den Toten. Wir müssten also, wenn wir ihn wirklich erreichen wollen, zu ihm gehen, zu den Toten, wo das wirkliche Leben atmet.
Das geht nicht, denken wir. Doch, es gibt einen Weg. Ich finde ihn in seinen Briefen, in denen er Tag für Tag lebt, da drunten in seinem Reich, wo auch die Gedanken zu Hause sind. Der irdischen Welt bedient er sich ja nur aus lauter Anhänglichkeit an einen Lebensstatus, den er schon früh überwand, mit Ausnahme der Sprache, die er liebt wie kein zweites Wesen, und weil das Transzendente nun mal nicht existent sein kann ohne das Diesseits. Benkel kehrt in seinen Gedichten Leben und Tod um, das Leben ist tot – erst im Tod kann ich leben. Karl Marx hat Hegel wieder auf die Füße gestellt – Holger Benkel stellt Marx auf den Kopf, er verlässt die unlebbare Basis und lebt im Überbau einer geistigen und seelischen Welt, die viel gemeinsam hat mit keltischen Vorstellungen. Ich weiß bis heute nicht, ob die keltische Mythologie für ihn eine ästhetische Bilderwelt darstellt, die er als Instrument seiner Dichtung benutzt, oder einen religiösen oder weltanschaulichen Glauben. Sein letzter Brief an mich ist keltisch datiert, wie alle seine Briefe seit über zehn Jahren: 12. tag des efeumonats – auf der suche nach der anderswelt. Er fällt konsequent aus der Zeit – wer so tot ist wie Holger Benkel im Nirgendwo, im Reich von Kein-Ort, der lebt wörtlich in der Erlösung von der irdischen Welt: In einer Utopie der Worte.
Später begriff ich, dass er ja schon hinübergewandert war zu den Toten, wo er wirklich leben kann. 1995 veröffentlichte er seinen Gedichtband „kindheit und kadaver“ und den Prosaband „reise im flug“, Träume und Ereignisse, beide im Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg. Später schrieb er Aphorismen: Gedanken, die um die Ecke biegen, inzwischen auch ein gigantisches Prosawerk, eine Art moderne Mythologie der Tiere (hier sind weit über eintausend Seiten entstanden in einem Werk, vielleicht sogar ein opus magnum, das noch seine endgültige Form sucht) – und immer wieder neue Gedichte, die permanent überarbeitet werden. Die unter dem Titel „meißelbrut“ versammelten Gedichte befinden sich in einem reifen Zustand, werden aber nie fertig.
Vor allem hier finden wir ein Portal zu Holger Benkels Gedanken. Dort gibt es nicht mehr die Kompromisse, die der Lyriker in seinen weltlichen Briefen eingeht. Dort ist er ganz er selbst im vollendeten Wort eines Todes, der über die Welt siegt: „vielleicht kann man zuletzt allein noch jenen worten vertrauen, die scheinbar keinen sinn ergeben. während der logik der geschichte die paradoxie der begriffe entspricht, werden wir erst in der absurdität der bilder einsichtig“, sagt er in einem Gespräch mit dem Schriftsteller A. J. Weigoni, „... was erweckt, das tötet auch. wer den tod nicht will, darf sich nicht erwecken lassen. utopien sind ein ewiger kreuzzug der kinder ... auf der reise zum ort ohne grund, hinter den wind oder unter die wellen müssen wir uns sowieso von uns selbst ernähren. und am ende wirkt jedes tiefere einfühlen kannibalisch. wiederum muss der künstler, um barrieren zu übersteigen, die seine kreativität hemmen, immer erneut grenzgängerisch aus der kultur, die ihn umgibt, heraustreten, was mit der tatsache korrespondiert, dass das wahre selbst etwas ausserhalb des ich ist und nur substanz bilden kann, wessen seele wandert oder wer mehrere seelen hat. die völlige einheit, im sinne der deckungsgleichheit, von kultur und kunst, ich und selbst, wissen und ahnen, aussenwelt und innenraum, wäre jedenfalls die komplette erstarrung.“
verwandlung
führt der hund die toten über die grenze
indem er sie frißt kann er sie begreifen
und besitzen glaubt der mensch in seinem geist
der andern kreatur steh ich auf der schwelle
im zwielicht der sinne leg ich mich nieder
zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe
verwandle ich mich in jedes tier begleit ich
meine eigne beigabe zieh ich die seele
aus dem fleisch wächst mir das fell glänzend weiß
lauf ich mir durch wälder entgegen komm ich an
unter der erde fresse ich mich selbst wie hunde
einst als aas birgt mich der frauenleib
erst wenn mir goldne borsten wachsen
Der Totenhund erinnert sofort an Charon. Der hat sich im Hades bezahlen lassen und tut seine parallele Pflicht zu Sisyphos - hier aber frisst er die Menschen, um sie zu begreifen. Wenn dieser Hund Repräsentant der zuletzt gestorbenen Menschen ist, dann bedeutet dieses Bild: Erst nach dem Leben verstehen wir das Leben, im Leben verstehen wir uns nicht.
Angesichts des elliptischen Charakters, der sich durch permanente Subjekt-Prädikat-Inversionen in allen Gedichten Benkels einstellt, kann gesagt werden, dass sich das Wenn-dann-Gefüge, das sich (mir) beim Lesen immer aufdrängt und einen gute Lese-Lenkung bewirkt, ganz einfach aufgehoben wird, wenn ich zu Beginn - oder später an entsprechender Stelle - ein „Es“ ergänze: es führt der hund … Die Inversionstechnik findet ihre Entsprechung in der Umkehrung der Seinsverhältnisse, wo Benkel der Sphäre des Todes das eigentliche Leben zuspricht - und umgekehrt. Das lyrische Ich wird hier grammatisch und semantisch versetzt und vermindert im Schatten der inversiven Semantik.
Prägnant ist das Bild vom Zwielicht der Sinne. Das Bild enthält eine Zweikörpertheorie, ich bin erinnert an das Licht als Welle und Korpuskel. Der eine Sinn ist der physische, der äußere Körper, der andere Sinn ist der zum fühlenden gewordene innere Körper an der Schwelle zum inneren Leben. Aber das körperliche Fühlen wird im Bild des Liebesaktes nicht aufgegeben, Sterben wird als erotischer Prozess verstanden, man kann vielleicht auch sagen: Alle Veränderung ist erotisch, wie alle Berührung von Fremdem erotisch stimuliert. „… zum liebesakt ins grab folgen mir wölfe“ - ich bin wegen der folgenden Verse versucht anzunehmen, dass die Wölfe die Veränderung der eigenen Natur beschreiben, sodass der Sterbende, den ich nun lieber als Werdenden verstehe, mit sich selbst schläft, er erotisiert sich mit seiner in ihm längst schlummernden fremden Gestalt, er will sich schon in diesem Vers fressen, also lieben, besitzen, verstehen, er ist sich selbst der Totenhund als Wolf, er gefährdet sich im Tod zu neuem Leben, seine Flucht vor dem Wölfischen in ihm endet im Liebesakt, der sogar als erotischer Suizid erscheint - aber Suizid als Rettung ins eigentliche, nicht entfremdende oder entfremdete Leben. Nun wird auch klarer, dass der im Sterben ins Leben Auferstehende nicht nur die wölfische Natur in sich zulässt, sondern alle Möglichkeiten an sich werden lässt („verwandle ich mich in jedes tier“), die er im bisherigen Leben nicht hatte.
Nun folgen Verse der Selbstreflexion („begleit ich meine eigne beigabe“) und Autonomie solchen Sterbe-Werdens („zieh ich die seele aus dem fleisch“). Die Trennung vom Körper ist die Befreiung der Seele, die bisher offenbar wie ein verletzender Fremdkörper im Fleisch steckte, da war der Körper eine Wunde, jetzt kann er gesunden: Nun „wächst mir das fell glänzend weiß“. Die doppelte Entfremdung von Körper und Seele ist aufgehoben, nun kann ich mir begegnen („lauf ich mir durch wälder entgegen“) und mich verstehen und mich ganz besitzen: „unter der erde fresse ich mich selbst“. Es folgt der Rückbezug („wie hunde“) zum Anfang des Gedichts und der Kreis wird endgültig geschlossen: Der Gestorbene wird wiedergeboren („als aas birgt mich der frauenleib“), wenn er durch alle Wandlungsprozesse zu seiner Vollendung („goldne borsten“) gegangen ist.
Ich verstehe hier den Hund als eine Einheit von (selbst-)liebender Treue und ins Wölfische gesteigerter (Selbst-)Zerfleischung. Der Plural im Titel will den mythischen Singular ins Allgemeine weiten, zum Wir. Das Gedicht ist ein Trost, wenn wirklich ganz gestorben werden soll, eine Utopie, wenn es im Leben gelten soll um anders zu leben: Aber dem Schwein werden goldene Borsten wohl nie wachsen...
Holger Benkels Lebens- und Todesauffassung wird in diesem und in fast allen anderen „meißelbrut“-Gedichten deutlich: Dass wir nur im Tod leben können. Oder geht dieser Gedanke noch weiter: Es ist das Allerbeste, gar nicht zu leben? Oder: Genüge ich als Idee? Ich teile nicht die Welt- und Lebensablehnung in dieser Schärfe, aber ich stehe dieser Kunst mit großer Achtung und Sympathie gegenüber. Wir sind gar nicht so weit auseinander: Auch in meinen Geschichten passiert nichts Gutes. Über das Gute würde ich ja auch gar nicht schreiben wollen. Über das Gute kann der Künstler nur im Scheitern schreiben. Wir sind Schriftsteller, die der Realität nur mit der Fiktion beikommen. Was bleibt? Benkels Gedichte schärfen kassandrisch das Bewusstsein. Das ist die Voraussetzung für ein besseres Leben im Leben und für die Überwindung der Angst vor dem Tod.
„der moderne künstler muss nicht notwendig prophet sein. das wäre nur eine seiner möglichkeiten“, sagt Holger Benkel, „ich biete ja gerade die völlige desillusionierung als ausgangspunkt der utopie an. auf die frage, welche aufgaben literatur haben könnte, sagte ich einmal, am besten sie hätte welche und niemand würde es merken. ... für mich eröffnet kunst das nicht seiende und ist daher das vollkommen andere gegenüber der utilitären realität, antiwelt und alternative geschichte, und solcherart verwandt mit magie, mythen, mystik, alchemie, märchen, träumen, wahngebilden und einem postvitalen dasein.“ Die Dichter aller Zeiten bedienten sich oft der gleichen poetischen Technik zur Bewusstmachung der Leser: „Werthers Leiden“, „Die Blechtrommel“ oder „Kassandra“ sind Erzählungen des Scheiterns nach dem Muster der negativen Utopie, um eine bessere neue Welt zu fordern. „genau genommen“, sagt Holger Benkel, „sind sogar, oder gerade, meine apokalyptischen gedanken bloss umgekehrte utopien. und ich bleibe dabei, gegenwelten formieren und die realität verändern wollen, das gehört zusammen. der eigentliche fatalismus besteht darin, das vorhandene für unveränderbar zu halten.“
Ich denke, das ist ein überzeugendes Plädoyer für ein besseres Leben. Es gewinnt umso mehr an Authentizität, als die Stimme dieser Ermutigung aus dem Munde eines Toten kommt, der sich auf der Suche nach der Anderswelt befindet. Tote lügen nicht.
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