Edgar Selge:

Hast du uns endlich gefunden

Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 12.07.22

Als Johnny Cash 1968 vor den Insassen von Folsom Prison seinen Blues anstimmte und den frenetischen Jubel des mit MPs in Schach gehaltenen Publikums erntete, war das ein Meilenstein im Verhältnis von Strafvollzug und Musik. Kein Meilenstein war es, als rund 10 Jahre vorher der Direktor des Jugendgefängnisses Herford 80 Insassen seiner Einrichtung immer wieder in seine bürgerliche Wohnung einlud und mit Violinsonaten von Bach und Mozart bis Schumann musikalisch bildete und sie hinterher mit Leberwurstschnittchen und Apfelsaft beköstigen ließ. Sein Ziel war es, diesen Entgleisten und Gescheiterten einmal ein heiles Familienleben und seine Musikkultur vorzuführen im Glauben, sie dadurch zu bessern. Aber sein Sohn, der 10jährig in der ersten Reihe sitzt, würde die Gefangenen gern fragen: „Was denkt ihr, wenn ihr die seht? Und diese Musik hört, die euer Chef da mit dem fremden fiedelnden Mann spielt? Was denkt ihr, wenn ihr mich seht? Du hast es gut? Oder denkt ihr: Wir sind zwar im Knast, aber du bist in der Irrenanstalt.“
Rund 60 Jahre später nutzt dieser Junge, aus dem ein Schauspieler geworden ist (der für seine Darstellung von Houellebecqs „Unterwerfung“ am Hamburger Schauspielhaus berühmt wurde), den coronabedingten Lockdown, um seine Kindheitserinnerungen zu Papier zu bringen. Sie sollten ursprünglich unter dem Titel „Hauskonzert“ erscheinen, aber den Titel hatte sich Igor Levit für seine (auch im Lockdown entstandenen) Erinnerungen gesichert, und da schlug die Lektorin Selge diesen Satz aus dem Traum von der Mutter vor: „Hast du uns endlich gefunden“ – nicht als Frage, sondern als Feststellung. Und tatsächlich ist dies ein Buch über Eltern geworden, die von der Naziideologie, die sie geprägt hat, noch immer durchtränkt sind – und von ihren Kindern gesucht und gefunden werden müssen – und das gelingt Edgar trotz aller Schläge mit dem Rohrstock, trotz aller Ohrfeigen, die er vom Vater bezieht, die Mutter bevorzugt einen Teppichklopfer für die Tracht, die sie ihm verabreicht. Aber tatsächlich ist dieser Edgar Selge ein unartiger Junge: Er ist süchtig nach Kino, hat aber nie Geld, bestiehlt deshalb seinen Bruder, veruntreut die Klassenkasse, eignet sich trickreich Wechselgeld von Einkäufen an. Er kippt Kakao über den Kopf seiner ersten Angebeteten, nur um von ihr beachtet zu werden, spielt dem schwergewichtigen Gefängnisverwalter Linnenbrügger einen Streich, indem er bei ihm klingelt und wegläuft, löst bei dessen Begräbnis beim Vater einen Lachkrampf aus und muss das Sterben, die Versehrtheit um ihn her (der Gefängnispfarrer, der ihn als nächtlichen Kinogänger verpfeift, hat ein Holzbein) spielerisch auffangen, indem er, auf dem Birnbaum sitzend, den Generalfeldmarschall Kesselring spielt, der zerstört, indem er die Lieblingsbirnen des Vaters als Bomben abwirft, mal auf Rotterdam, mal auf London oder Warschau, Menschen tötet und dann hinabsteigt und an den Leichen betet … Der Wahnsinn des Krieges wird in diesem Nachspielen des Entsetzlichen fassbarer als in direkter Schilderung, zumal wenn man weiß, dass der Vater, der sich nicht entblödet, den eigenen Sohn sexuell zu bedrängen, den erwähnten Marschall und seine Gesinnungsgenossen im Gefängnis Werl so gut behandelt, mit ihnen fraternisiert hat, dass er von ihnen ein Buch mit Widmung geschenkt bekam, das jetzt noch in seiner Bibliothek steht.
Selge gelingt ein Drahtseilakt zwischen Elternliebe und Elternhass, der einmalig ist und dieses Buch zu einem „must read“ aller macht, die in den 40er Jahren geboren wurden – und vielleicht auch ihrer Kinder, damit sie besser verstehen, aus was für einer beschädigten Welt ihre Eltern stammen. Und ein besonderes Lob gebührt dem älteren Bruder Werner, der den Eltern die Leviten liest, wenn sie ihren Antisemitismus begründen: „Regt euch doch nicht auf. Ihr habt ja gründlich aufgeräumt. Jetzt könnt ihr zufrieden in eurem arischen Mief sitzen und euch an der eigenen Tiefe berauschen. Seele im Überfluss.“ Ein Drahtseilakt ist es auch zwischen Liebe zur klassischen Musik – und Wut darüber, wie ihre Interpreten, „Knattercharge“ Karajan z.B., sich haben benutzen und missbrauchen lassen. Heute macht Anna Netrebko vor, wie man sich dem notfalls entziehen kann.
Dieses Buch, in dem ein 74Jähriger seine Jugenderinnerungen perfekt inszeniert und aufschreibt, verliert kein Wort über den Werdegang Selges als Schauspieler, aber man begreift jetzt, warum es ihm Spaß gemacht haben muss, in 17 Folgen von „Polizeiruf 110“ den einarmigen Kommissar Jürgen Tauber zu spielen. Und an vielen Stellen erkennt man: So genau beobachtet und merkt sich menschliches Verhalten nur ein professioneller Schauspieler, verleibt die Verhaltensweisen seinem mimetischen Fundus ein. „Ich weiß noch,“ erzählt der Vater vom Tod seines Bruders 1918, der auch Werner hieß, „wie mein Vater durchs Wohnzimmer ging, in der einen Hand das Telegramm mit Werners Todesnachricht, mit der andern bedeckte er seine Augen, damit niemand seine Tränen sah.“ „Das muss ich mir merken,“ fährt Selge fort. „Diesen Gang deines Vaters (seines Großvaters) durchs Wohnzimmer möchte ich nie vergessen.“ Ob er ihn nachgespielt hat – in einem der zahllosen Stücke und Filme, an denen er mitwirkte?
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Kommentare zu dieser Rezension


 IngeWrobel (12.07.22, 15:14)
Respekt für die gelungene Rezension eines sicherlich lesenswerten Buches! 
Danke für diese einfühlsame Besprechung, die tatsächlich neugierig macht. 
Liebe Grüße von einer "in den 40er Jahren Geborenen", die immer noch auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist.

 Quoth meinte dazu am 12.07.22 um 23:04:
Den Proust, auf den Du anspielst, hat Edgar sich doch tatsächlich aus der Buchhandlung geklaut, weil der Anfang mit der Aufhebung der Zeit ihn so fasziniert hat. Willibald hat vom Oszillieren der Zeitebenen in meinen Schulaufsätzen gesprochen ("Jahrgang 1941"), und so oszilliert auch der Text von Selge, hebt die Zeit völlig auf. Mit Dank und Gruß Quoth

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