Kate Atkinson:

Die Unvollendete

Roman, aus dem Englischen von Anette Grube


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 15.08.22

„Sollte der Krieg nicht aus allen Frauen Pazifistinnen machen?“ Diese Frage stellt sich Sylvie, Mutter von Ursula Todd, der Heldin dieses 2013 erschienenen Romans, als sie die Begeisterung beim Kriegsbeginn 1914 auf einem Londoner Bahnhof erlebt. Soviel ich sehe, hat ihn nur die Frankfurter Rundschau von den überregionalen Blättern (als „meisterhaft“) rezensiert, dafür aber überschlagen sich regionale Zeitungen und auch die Rezensionen bei amazon (kann man ihnen trauen?) vor Begeisterung. Ursula Todd, einer gutbürgerlichen Bankangestelltenfamilie entstammend, muss immer wieder geboren werden, um den Risiken des furchtbaren 20. Jahrhunderts zu entgehen: der Spanischen Grippe und den Bombardements des zweiten Weltkriegs (sowohl auf deutscher wie auf englischer Seite), aber auch dem Ertrinken beim Baden im Meer, einer brutalen Abtreibung, einer Kohlenmonoxid-Vergiftung in der Nachkriegszeit. Aber sie lernt aus Fehlverhalten, zieht Schlüsse, hat „déjà-vu“, wird von Dr. Kellet belehrt, dass es ein Wiedergeborenwerden gibt, oder wird ganz einfach durch eine zufällig hinzukommende Person gerettet. Kate Atkinson beschreibt in „Life after Life“ (deutscher Titel: „Die Unvollendete“ – ein durchschaubares Marketingmanöver, um die berühmte Sinfonie Schuberts zu nutzen) die vor allem England, aber auch Deutschland betreffenden Katastrophen konsequent aus der Sicht der Frauen, die zuhause bleiben, für die Helden im Felde stricken, um sie dann als Ruinen oder gar nicht wieder zurückzuerhalten, die als zivile Hilfskräfte tätig werden im so brutal in der deutschen Literatur m.W. nirgends geschilderten Bombenkrieg, und in einer Lebensvariante Ursulas gerät sie 1930 als Freundin Eva Brauns in den engeren Kreis Hitlers und schießt auf ihn – eine andere und fürs britische Bewusstsein weniger beschämende Unity Valkyrie Mitford …
Warum ist dieses Buch in der überregionalen Presse so wenig beachtet worden? Weil es von einer erfolgreichen Krimiautorin stammt? Vielleicht. Weil es so vermessen ist, mit einem furchtbaren halben Jahrhundert abrechnen zu wollen? Keine Ahnung. Vielleicht aber auch, weil es mit Sterben und Tod ein unterhaltsames Spiel treibt, das der epischen Erzählweise zu widerstreben scheint – und tatsächlich ist es ein Buch aus dramatischem Geist, Computerspielen verwandt, in denen man, wenn man scheitert und stirbt, noch einmal vor vorn beginnen kann, aber auch dem Drama ganz allgemein ähnlich, in dem die Toten sich zum Schluss vorm Publikum verneigen. Und von ferne grüßt Harold Ramis‘ „Groundhog Day“ mit seinen Zeitschleifen …
Wie es Kate Atkinson gelingt, ein zugleich unterhaltsames und tiefes Buch zu schreiben, voller literarischer Anspielungen, skurriler Charaktere und amüsanter Dialoge, das lässt sich nur durch Selberlesen erkunden. Eins ihrer Stilmittel ist die Parenthese, durch die alles an Doppelbödigkeit gewinnt, Beispiel: „Es war wieder nicht Liebe, sondern sie empfand für Ralph die gleichen Gefühle, die sie für ihren Lieblingshund empfinden würde (und, nein, das hätte sie ihm nie gesagt. Manche Leute, viele Leute waren nicht in der Lage zu verstehen, wie sehr man einen Hund ins Herz schließen konnte).“ Gut übersetzt von Anette Grube. 585 Seiten aus dem Land und der Denkschule des Bard of Avon: Die Tiefe an der Oberfläche verstecken, Geschichte und Fiktion auf klärende Weise amalgamieren. Es ist ein Buch der Begegnungen mit uns selbst – und mit unseren (Groß)Eltern, die die unfassbare Zeit von 1910 bis 1967 durchlebten.
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Kommentare zu dieser Rezension

Fetzen (38)
(11.09.22, 11:56)
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 Quoth meinte dazu am 11.09.22 um 12:15:
Lies es! Du wirst es nicht bereuen.
Gruß Quoth

 AchterZwerg (13.09.22, 07:21)
Hallo Quoth,
kenne weder die Autorin näher noch das beschriebene Buch, werde mir letzteres aber beschaffen. Deine Rezension liest sich vielversprechend und recht verlockend.

 Quoth antwortete darauf am 13.09.22 um 10:19:
Freut mich sehr!

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