Gustav Freytag:

Soll und Haben

Roman


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 20.10.25

Wer von Haus aus den Anspruch an das Leben macht, zu genießen und seiner Vorfahren wegen eine bevorzugte Stellung einzunehmen, der wird sehr häufig nicht die volle Kraft behalten, sich eine solche Stellung zu verdienen. Sehr viele unserer alten angesessenen Familien sind dem Untergange verfallen, und es wird kein Unglück für den Staat sein, wenn sie untergehen. Ihre Familienerinnerungen machen sie hochmütig ohne Berechtigung, beschränken ihren Gesichtskreis, verwirren ihr Urteil.“

Mit diesen – und noch härteren – Worten lehnt der Großkaufmann  Schröter das Ansinnen seines Korrespondenten Anton Wohlfahrt ab, dem in Schulden geratenen Freiherrn von Rothsattel zu helfen. Er übt vernichtende Kritik an einem Adel, der, wenn er aus wirtschaftlichen Gründen zugrunde geht, mit Recht zugrunde geht, weil er nicht bereit oder unfähig ist, sich an Goethes Wort zu halten: „Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“  Arbeit ist dem Adel fremd, und dass der Roman „Soll und Haben“ rund 100 Jahre lang ein bevorzugtes Geschenk  an 14Jährige war, liegt sicher auch daran, dass dieses Buch ein Hohelied auf Fleiß und Arbeit ist.

Seit Fontanes Kritik ist viel geredet worden über den Antisemitismus in Freytags Roman „Soll und Haben“ von 1855, insbesondere im Zusammenhang mit Rainer Werner Fassbinders Plan, aus dem Roman eine mehrteilige Fernsehserie zu machen. Dieser Plan ist bekanntlich gescheitert, und das sicherlich auch, weil Fassbinder in seinem Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ gezeigt hatte, dass er sich nicht scheute, mit antisemitischen Klischees zu hantieren. Nachdem das „Nie wieder!“ zum Holocaust zur Staatsraison der Bundesrepublik geworden war, konnte der WDR es sich 1977  nicht leisten, auch nur einen Hauch von Antisemitismus aus einem Werk der Vergangenheit zu übernehmen.

Ein zweites Problem des Romans ist die Selbstverständlichkeit, mit der er die preußisch-österreichische Vorherrschaft über das geteilte Polen aus kulturell zivilisatorischer Überlegenheit rechtfertigt.  Auch die Slawen waren von den Nazis als „Untermenschen“ behandelt worden, auch hier fürchtete der WDR mit Recht, sich auf vermintes Gelände zu begeben.

Aber der Roman hat eine dritte Stoßrichtung, die so gut wie unbeachtet blieb: Die oben angetönte vernichtende Kritik an der vielfach regelrecht parasitären Lebensform des Adels. Das blieb unbeachtet, weil seit dem ersten Weltkrieg der Adel seine Privilegien  weitestgehend verloren hatte, das Problem schien erledigt zu sein. Aber der Adel litt und leidet sehr unter dieser Zurücksetzung und war und ist dankbar dafür, dass es Freiherrn und Grafen nicht nur im Offiziersstand der Wehrmacht, sondern auch im Widerstand gegen Hitler gegeben hatte. Da konnte die Verfilmung eines Romans, in dem der Freiherr von Rothsattel, ein im Versuch wirtschaftlichen Denkens sich hoffnungslos verheddernder  Lebemann, eine wichtige Rolle spielt, nicht besonders hilfreich sein. Auch das mag bei der Ablehnung von Fassbinders Projekt nicht unwirksam gewesen sein; denn der, der es verwarf, der damalige Intendant des WDR, war Friedrich Wilhelm Freiherr von Sell, und Rat holte er sich bei seinem Vorgänger als WDR-Intendant, Klaus von Bismarck, Erbherr auf Jarchlin und Kniephof in Pommern, Urgroßneffe von Otto von Bismarck, dem „Eisernen Kanzler“, den der erzliberale Freytag als „dämonischen, unberechenbaren Gewaltmenschen“ publizistisch bekämpft hatte.

Fassbinder und Märthesheimer hatten ein Ideologiepapier zur Neugestaltung von Hirsch Ehrental und Veitel Itzig, der jüdischen Figuren in Freytags Roman, verfasst, sie wollten sie ihrerseits auch als Opfer gesellschaftlicher Zwänge darstellen, und ein  Drehbuchentwurf von Herbert Knopp lag auch bereits vor …Aber von Sell lehnte das Projekt ab, ohne Ideologiepapier und Drehbuchentwurf auch nur zu lesen …  Auf die Weise ist Fassbinders wohl ehrgeizigster Plan gescheitert, und es fragt sich, ob daraus nicht eine der wichtigsten Fernsehserien der noch jungen Bundesrepublik geworden wäre, zumal wir in Gaza gerade miterleben, wie schnell sich ein Jude vom bedauernswerten Opfer in einen keine Grenzen kennenden Shylock verwandeln kann. In dem Aufsatz „Gehabtes Sollen – gesolltes Haben“ hat Fassbinder sich bitterlich über die Grenzen beklagt, die das Fernsehen der Kunstfreiheit setzt. 

Ein auch heute noch, 170 Jahre nach seinem Erscheinen, spannend und unterhaltsam zu lesender  Roman voller nostalgischer Details, denen wieder zu begegnen mir großen Spaß macht – zugleich aber auch ist es bedrückend, so viele Überzeugungen darin wiederzufinden, die den Werdegang Deutschlands nur allzu fatal mitbestimmt haben.
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