Sigrun Al-Badri:

Deus ludens

Der spielende Gott


Eine Rezension von  EkkehartMittelberg
veröffentlicht am 20.11.26

Al-Badris großartiger, großangelegter Roman steht in der Tradition Dostojewskis. Er handelt von 1880 bis 1970 mit dem Hintergrund zweier Weltkriege von Schuld und Sühne von Menschen, die sich über ihre Mitmenschen erheben, sie demütigen, manipulieren, sie zur Ware und zu Versuchsobjekten machen. Das große Thema „Der Mensch als Versuchsobjekt medizinischer Forschung“ wird eingeleitet und ergänzt durch andere Formen der Schuld, zum Beispiel Besitzstolz und Vorurteil, arglistige Täuschung und Vergewaltigung. Die kriminellen Übergriffe erstrecken sich auf die Schicksale mehrerer Familien, die miteinander verwoben sind.

Al-Badris moderner Roman, der fast ein Jahrhundert zum Gegenstand hat, verlangte von der Autorin eine ungleich größere Leistung an Analyse (hier detaillierte medizinische Kenntnisse, historisches und topographisches Wissen) und Komposition divergierender Ereignisse, als sie klassische Erzählungen benötigten, die sich mit dem Thema Verbrechen befassten, zum Beispiel Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre“, Fontanes „Unterm Birnbaum“ oder „Die Judenbuche“ der Droste. Damit soll nicht behauptet werden, dass Romane oder Novellen, die in Bezug auf Ort und Zeitwechsel sowie auf Personen einfacher sind, wegen dieser Beschränkung geringere Kunstwerke sein müssen.

Es stellt sich die Frage, wie Al-Badri die komplexen Handlungsverläufe ihres Romans mit zahlreichen unterschiedlichen Protagonisten so zusammenzieht, dass ihre LeserInnen erkennen können, dass die verbrecherischen Versuche mit Menschenleben nicht zufällig sind, sondern sich zwingend aus den Produktionsverhältnissen, den Diskrepanzen zwischen Reichtum und Armut, entwickelten, die vor, während und nach zwei Weltkriegen machtbesessenen Menschen hybride inhumane Übergriffe unter dem Deckmantel medizinischer Forschung erlaubten. Die Autorin schafft dies mit zwei Erinnerungsbüchern (Tagebüchern), die Handlungen, die scheinbar unaufgeklärt abbrachen, so zusammenführen, dass deutlich wird: Das vom spielenden Gott erschaffene Schicksal schlägt nicht blind zu, sondern folgt einem Plan, den Gier, Machtstreben und Größenwahn geschaffen haben.

Man muss sich fragen, wie LeserInnen die Darstellung von soviel Schuld über 500 Seiten ertragen können, obwohl die Handlungsspannung wie bei guter Kriminalliteratur niemals abbricht. Das hat wesentlich mit Al-Badris Gestaltung der Charaktere zu tun. Brutale medizinische Experimente mit hilflosen Opfern können nur von bösen, gewissenlosen Menschen betrieben werden. Dem stehen aber äußerst gewissenhafte Mediziner gegenüber, die den Dienst am Patienten als Berufung betrachten. Ein anderes Beispiel sind Zuhälter, die in der Regel Prostituierte ausbeuten. Bei Al-Badri gibt es aber auch einen Zuhälter, der einer aus Rachsucht gejagten Frau Schutz vor Gewalt gewährt. Ein großer Teil der Charaktere sind deswegen gemischt, weil das Schicksal ihnen nicht die Wahl lässt, eindeutig gut zu sein Sie müssen Gesetze übertreten, um zu überleben. Das geht soweit, dass LeserInnen vermutlich Verständnis für eine Frau aufbringen, die ihren sadistischen Peiniger mit kühler Überlegung umbringt und sich ohne Gewissensbisse rächt.

Al-Badri ist eine Meisterin der minutiösen sprachlichen Wiedergabe von immer wieder anderen Variationen zur Beschreibung von Liebesszenen, Vergewaltigungen, medizinischen Operationen,

landschaftlicher Schönheit sowie unterschiedlicher Charaktere. Das macht ihren anspruchsvollen Roman, der analytische Fähigkeiten bei der Verfolgung und Synthese von Handlungssträngen voraussetzt, zu einem beständigen Erlebnis visueller, auditiver, olfaktorischer Sinneswahrnehmungen, die zum Beispiel mit den Metaphern von Licht und Schatten sowie der Beschreibung von Düften das Grauen vor hybriden Verbrechen und zugleich die Schönheit aufopferungsvoller Liebe erfahrbar machen.

Nach meiner Jugend, in der ich mich stundenlang in die Romane von Dostojewski und Tolstoi vertiefte, wurde ich wieder von einem umfangreichen schicksalsträchtigen Roman so gefesselt, dass ich ihn gebannt von der Erzählkunst in einem Zuge gelesen habe.
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Kommentare zu dieser Rezension


 Saira (20.11.25)
Lieber Ekki,

dein Blick auf meinen Roman hat eine Tiefe erreicht, die mich still und dankbar macht.

Mit herzlichen Grüßen
Sigi

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