Flüchtig, berührt.

Kurzprosa zum Thema Loslassen

von  BrigitteG

Der Aufenthaltsraum war gemütlich eingerichtet, der Boden in taubenblau, Stühle und Esstisch in hellem Holz. Vor der großzügigen Fensterfront eine Voliere für zwei stille, gelbe Kanarienvögel, deren Krallen zu lange nicht mehr geschnitten waren. Regale an der langen Wand mit gebrauchten Büchern, wenig benutzten Spielesammlungen, in der Ecke ein Aquarium mit einem Saugwels ohne Partner. An der Glaswand zur Küche die kleine Theke, darauf selbstgebackener trockener Kuchen und leicht bitterer Thermoskannen-Kaffee.

Er saß mit uns am großen, sonst leeren Esstisch. Wir tranken nur etwas, er dagegen löffelte sein Mittagessen, einen kleinen Teller Gemüsesuppe. Ich schätzte ihn auf unter 30, ein sehr schmaler, groß gewachsener junger Mann, hellblondes, kurzes Haar. Während er sehr langsam und unbeteiligt seine Suppe aß, erzählte er von seinem Nierenkrebs, und dass die Metastasen inzwischen im ganzen Körper seien. Seinen dauerhaften Zugang für das Morphium habe er am Hals – das war nicht zu übersehen, stellten wir fest. Seine Mutter sei früh gestorben, sagte er, und dass sein Vater sich nicht um die Auflösung der Wohnung kümmern könne, weil der so weit entfernt vom Saarland wohne. Deswegen habe er eine Betreuerin bestellt bekommen, die alles für ihn erledige.

Als die Pflegerin kam, drehte er sich zu ihr hin, so dass sie ihm das Morphium spritzen konnte. Danach wendete er sich wieder seinem Essen zu. Es sei wichtig für ihn, dass das Morphium langsam gespritzt werde, sagte er, sonst kribbele es sehr in den Armen und Beinen. Nach dem Essen erhob er sich langsam, stützte sich dabei am Tisch ab,  und ging vorsichtig mit steifem, ungelenkem Schritt aus dem Raum.

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Kommentare zu diesem Text

paulhesse (54)
(12.05.06)
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 BrigitteG meinte dazu am 15.05.06:
Schön, dass das mit dem Berührt sein auch auf Dich als Leser überspringt. LG Brigitte.
paulhesse (54) antwortete darauf am 15.05.06:
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 Bergmann (12.05.06)
Das ist eine kleine Studie eines Krebskranken, der noch gehen kann. Es ist ein bisschen wenig, finde ich. Kaum mehr als eine Tagebucheintragung oder ein Absatz in einem Brief. Fast nur berichtend. Kaum erzählt. Eigentlich zu wenig, um es als einen literarischen Text zum Lesen und Beurteilen anzubieten.

 BrigitteG schrieb daraufhin am 15.05.06:
Ja, Ulrich, ich wollte es anfangs sogar "Bericht" nennen, und habe mich dann doch noch für "Kurzprosa" entschieden. Von daher denke ich in der Hinsicht ähnlich. Zu kurz finde ich es nicht, um es zum Beurteilen anzubieten. Aber wahrscheinlich wirst Du mit "zu wenig" das meinen, was Tine ganz am Anfang ihres Kommentares schreibt. Ich werde darüber nachdenken. Gruß, Brigitte.

 bratmiez (12.05.06)
in bestimmten momenten sieht man die welt einfach anders. bewusster vielleicht. Und trotz all der Flüchtigkeit hat es mich doch berührt.
die miez.

 BrigitteG äußerte darauf am 15.05.06:
Ja, man sieht die Welt anders, aber irgendwann später ist der Alltag wieder da, zieht einen mit Krakenarmen in den Durchschnitt und die Routine. Vielleicht, wenn ich gut bin, merke ich es in Zukunft öfter. Liebe Grüße, Brigitte.
steinkreistänzerin (46)
(12.05.06)
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 BrigitteG ergänzte dazu am 15.05.06:
Wichtig - ja wohl auch. Im Endeffekt hat es mich wohl einfach nur geschockt, ihn kennenzulernen. Und obwohl er mir nicht nahe stand, hat es mich so entsetzlich berührt. LG Brigitte.

 Vaga (12.05.06)
Ein sachlich beschreibend anmutender Beobachtungstext, der mich, als Leserin, durch viel Unerwähntes zwischen den Zeilen, sehr tief berührt. Ich fühle mich in die Beobachtungsrolle hinein versetzt, kann mir genau vorstellen, was dort passiert und, vor allem, was dort nicht passiert, sondern nur angedeutet wird. In der Nähe eines todkranken Menschen entsteht oft Befangenheit. Gedanken an den Sinn bzw. die Sinnlosigkeit des Lebens - mit oftmals zu frühem Ende - klingen in mir an.
Am Schluss dieses Textes schaue auch ich hinter ihm her, sehe, wie er aus meinem Blickfeld verschwindet. Für immer.
Der Titel ist sehr gut gewählt, finde ich, weil "flüchtig" mehrdeutig ist - und auch "berührt" einen doppeldeutigen Sinn in sich trägt.
Fazit: Ein Text, der sich mir bild- und sinngebend einprägt - trotz - oder vielleicht gerade wegen seiner Kürze. LG - Vaga.

 BrigitteG meinte dazu am 15.05.06:
Hallo Vaga. Ganz ehrlich, über eine Doppeldeutigkeit im Titel habe ich mir keine Gedanken gemacht. Diese beiden Worte waren eigentlich nur die Quintessenz dieser Begegnung. Ein Mann, den ich nur dreimal gesehen habe, kaum mit ihm geredet habe, und von dem ich wusste, dass er bald sterben wird. Das ist mir unheimlich nahe gegangen. Das letzte Mal habe ich am 08.05. nach ihm gefragt, da sagten mir die Pflegerinnen, dass er kaum noch aufsteht, fast immer nur liegt und müde ist. Danke für Deinen Kommentar, und gut, dass es so rübergekommen ist, wie ich es selber gespürt habe. Liebe Grüße, Brigitte.

 AlmaMarieSchneider (12.05.06)
Ich mag diese kurzen Texte. Wie Skizzen geben sie mir Anstöße und dann Räume zum Weiterdenken.
Der Titel passt ausgezeichnet. Flüchtig, berührt ...und in eigene Gedanken entführt.

Liebe Grüße
Alma Marie

 BrigitteG meinte dazu am 15.05.06:
Raum zum Weiterdenken - das klingt gut, Alma Marie. Liebe Grüße, Brigitte.
DieTine (43)
(12.05.06)
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 BrigitteG meinte dazu am 15.05.06:
Puh, Tine, Du stellst kluge Fragen. Und im Endeffekt ist die Antwort zum Teil restlos banal: ich habe recht oft in diesem Raum gesessen, und konnte mich deswegen gut an ihn erinnern. Den jungen Mann habe ich wirklich nur dreimal gesehen, und wenig mit ihm geredet. Und damals wusste ich noch nicht, dass ich über ihn schreiben wollte.
Das bedeutet im Endeffekt natürlich nicht, dass es nicht literarisch veränderbar ist. Es ist tatsächlich ein Ungleichgewicht im Umfang der Beschreibung des Raumes und des Mannes, das ich ja hätte verändern können, wenn ich gewollt hätte. Oder gekonnt.
Vielleicht ist das der Knackpunkt bei meinen beiden kurzen ernsthaften Prosatexten - ich halte mich an Tatsachen oder an den Handlungsstrang einer fiktiven Geschichte, und denke nicht an den Rest. Ich finde die Texte auch nicht schlecht, habe aber das Gefühl, es könnte absolut besser sein, ohne genau zu wissen, wie ich es anstellen soll. Ich muss halt weiterschreiben, denke ich.
Das mit der Scheu, die Du beschreibst, habe ich bei mir selber nicht kennengelernt - es ist einfach nur eine große Ratlosigkeit, Hilflosigkeit. Liebe Grüße, Brigitte.
Tinas_Galaxy (31)
(12.05.06)
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 Traumreisende meinte dazu am 14.05.06:
eine Zwischenfrage: "harter Tobak " heißt bei uns "großer Mist", "ziemlicher Stuß der geflunkert und übertrieben ist"

sehe ich das jetzt regional falsch?????

lg silvi
Tinas_Galaxy (31) meinte dazu am 14.05.06:
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 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Ja, Silvi, da muss ich Tina recht geben, auch wenn sie irgendwoanders in Deutschland wohnt, denn harter Tobak ist im Pott auch was Heftiges, das schwer ist, provokativ, vielleicht auch eine Zumutung, ohne dass es sofort als negative Wertung gemeint ist.
Tina, warum der erste Abschnitt länger ist als der zweite, steht schon in meiner Antwort an die Tine. Ja, und der dritte Abschnitt - das war wirklich eine ganz seltsame Mischung aus Normalität und Entsetzen für mich, diese Situation. LG Brigitte.
locido (21)
(13.05.06)
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 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Den englischen Spruch finde ich richtig gut. Aber im Grunde empfand ich die Situation als statisch, es gab kaum Bewegungen, und wenn, dann nur langsame (Wo sollen diese Patienten auch hin, sie sterben sowieso in ein paar Wochen oder Monaten und haben bis dahin alle Zeit der Welt). Was meinst Du mit schneller machen beim Text? Action will ich nicht rein bringen. Und der zweite und dritte Abschnitt sind schon reichlich kurz. Liebe Grüße an unseren Quasistiefsohn Peter von Brigitte.
locido (21) meinte dazu am 16.05.06:
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alex (30)
(14.05.06)
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 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Hallo Alex. Vielleicht magst Du mal bei derTine gucken, da habe ich schon was längeres dazu gesagt. Danke für Deinen Kommentar und LG Brigitte.
ichi-jo (26)
(15.05.06)
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 leorenita meinte dazu am 15.05.06:
Wir üben hier kritisieren, das bedeutet, dass wir auch dabei Fehler machen dürfen. Allerdings halte ich deine Bemerkungen zu diesem Text für, in ärgerlichem Maße, unqualifiziert.
Erstens ist "er wendete" kein unschönes Deutsch es ist eine gebräuchliche Form die in diesen Text hineinpasst.
Die Form die du meinst wäre hier viel zu geschwollen und schreibt sich übrigens mit dt. Er wandte sich ...zu, denn er hat sich ja nicht im Essen gewunden, sondern ihm zugewandt.
Deutsch ist sächlich, also das Deutsche, damit müsste es heißen, kein schönes Deutsch, wenn es denn zuträfe. Schön ist ein Adjektiv und wird damit, außer am Satzanfang klein geschrieben.
Regine
ichi-jo (26) meinte dazu am 15.05.06:
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 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Regine, die junge Frau Jo hat sich unter verändertem Namen hier wieder hintenrum eingeschlichen. Vorher habe ich sie öfter kommentiert und wir pflegten eine nasagenwirmal eher rustikale Umgangssprache, die uns beiderseits amüsierte, denke ich. Von daher hast Du natürlich in der Sache recht, aber andererseits einfach nicht gewusst, dass ihre Formulierung "Kein Schöner Deutsch" in die Kategorie "Ich formuliere für Brigitte mal wieder besonders albern" gehört.
Und im Übrigen habt Ihr mich jetzt mit dem "wendete" oder "wandt" völlig durcheinander gebracht, ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig ist, oder was sich schöner anhört. TzTzTz...
(Ichiline - ich warte auf Deinen Verriss *g*)
Liebe Grüße an Euch beide von Brigitte.

 Bergmann meinte dazu am 16.05.06:
wandte sich zu - das ist (z. Z. noch) richtig besser.

ichi-jo, in der Tat teils sprühend eigenwillig - hat(t) sehr gute Texte!

 Traumreisende (15.05.06)
ja, nicht einfach in dieser berührung zu kritikeln...

weißt du, wenn ich entscheiden sollte ob genre richtig gewählt, dann stört mich das wort prosa weil es für mich viel zu prosarisch ist...

die eingeschobenen sätze haben mich erst irritiert, aber sie komprimieren das bild fast noch mehr als kurze sätze

diese absolut detalierte beschreibung des zimmers, welches genau ein drittel einnimmt ist heftig... irgenwie ist alles bedrückend.

die darstellung des mannes taucht ihn und den leser in eine sachlichkeit... er damit er noch halbwegs damit zurechtkommt, der leser bleibt betroffen zurück... sprachlos...

ich öhte nichtwissen, wie oft wir solchen momentaufnahmen begegnet sind... oft , sehr oft...

fazit, stil und umsetzung sehr gut. die eine stelle... du weißt die mit dem leeren tisch.... bin froh an dieser stelle in erinnerung an unser gespräch zu einem lächeln gefunden zu haben...

lg silvi

 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Silvi, was würdest Du denn für ein Genre vorschlagen? ich hatte "Bericht" oder "Beschreibung" im Kopf. Deine Worte "Betroffenheit" und "Sprachlosigkeit" treffen die Situation übrigens sehr gut, und "bedrückend" war einfach alles, auch die betont lebendigen Bilder mit Blumenmotiven. Liebe Grüße, Brigitte.
wupperzeit (58)
(16.05.06)
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 BrigitteG meinte dazu am 16.05.06:
Oh, danke.
Balu (57)
(07.01.07)
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 BrigitteG meinte dazu am 07.01.07:
Danke für Deinen Kommentar, Balu. Ich denke auch, dass eine schlichte Sprache hier angemessen ist, weil alles andere zu kitschig wirken würde. Grüße von Brigitte.

 IngeWrobel (08.01.07)
Liebe Brigitte,
das ist ein Text, der mich sehr anspricht. Die Sachlichkeit Deiner Sprache erinnert mich an einige eigene Prosa-Texte über Situationen, die für mich außergewöhnlich waren, und mich emotional stark ansprachen. Ich verfalle dann auch in diesen Beschreibungs-Stil - wahrscheinlich, um nicht zu sentimental zu werden. Gerade durch diesen Abstand bei der Beschreibung bekommt das Geschehen eine spartanische Nüchternheit, die dem Leser alle Möglichkeiten der persönlichen emotionalen Einlassung auf das Gesagte gewährt.
Wie gesagt: ein sehr guter Text!
Inge

 BrigitteG meinte dazu am 08.01.07:
Ja, Inge, ich denke, dass so ein Text durch die Nüchternheit sogar eindringlicher wirken kann, als wenn er überladen mit Bildern wäre. Es ist schön, dass die Wirkung, die diese Situation auf mich hatte, durch meinen Text rüberkommt. Liebe Grüße, Brigitte.

 Lars (16.02.07)
ein ganz intensiver schreibstil, liebe brigitte, der eigentlich daher zustande kommt, dass du auf völliges fehlen von emotionalität zurückgreifst. total schnörkellos, glasklar, fast schon ein bißchen technisch - aber nicht unterkühlt - erzählst du von einem erlebten moment, der kurz und schmerzvoll war.

lg von talkshow-lars:-))))

 BrigitteG meinte dazu am 16.02.07:
Ja, das ist gut und richtig beschrieben von Dir, finde ich (bis auf das "kurz", das passt nicht so ganz). Liebe Grüße zurück!
myrddin (47)
(11.03.07)
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 BrigitteG meinte dazu am 11.03.07:
Da das Lyrische Ich identisch ist mit mir, habe ich dieses Bild auch immer noch vor Augen, Ralph. Er ist vermutlich im Mai 2006 gestorben, und eigentlich war das Entsetzliche sein Alter und diese quasi "Normalität", mit der er sich benommen hat. Im Grunde wusste ich kaum etwas von ihm, nur wenig mehr als das, was ich geschrieben habe. LG Brigitte.
The_black_Death (31)
(25.06.08)
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 BrigitteG meinte dazu am 26.06.08:
Hallo B.D., das mit den Adjektiven - ich glaube, ich müsste den Text um Einiges anders schreiben, wenn ich mit weniger Adjektiven einen ähnlichen Eindruck beim Lesen vermitteln will. Das grundsätzliche Umschreiben möchte ich nicht - aber es wurde ja hier bei kV an verschiedenen Stellen schon öfter über zu viele Adjektive diskutiert, und ich kann da Etliches nachvollziehen. Ich lass es in mein Schreib-Hirn sacken, zur Anwendung beim nächsten Text... Was Du in Deinem Komm sehr schön beschrieben hast, ist das mit dem Nichts, aus dem heraus die Geschichte beginnt und in dem sie endet. Das ist eine Klasse-Formulierung! Unverehrende *g* Grüße von Brigitte.
Dieter Wal (58)
(02.02.14)
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 BrigitteG meinte dazu am 03.02.14:
Vermutlich konnte ich es damals nur so nüchtern schreiben, weil ich es anders nicht geschafft hätte. Es ist seltsam, weil mir dieser junge Mann bis auf die kurzen minutenlangen Begegnungen völlig unbekannt war. Danke für Deinen Kommentar.
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