II-I – mit Gloria - Es muss deine Haut sein, in der ich versinke

Roman zum Thema Untergang

von  Ricardo

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann fällt es mir schwer zu atmen, weil ich die Gedanken und Assoziationen dann nicht mehr unterdrücken kann und für die nächsten paar Stunden nur noch damit beschäftigt bin, abwechselnd mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, was letzten Endes nichts bringt, fernzusehen, was mich sowieso nie ablenkt, zu lesen, was ich in so einem Zustand auch nicht genießen kann oder aus dem Fenster zu starren, was die ewigen Assoziationsketten allerdings ebenfalls nicht brechen kann, da ich immer und überall ihr Gesicht sehe, sehe wie wir nebeneinander liegen und ich mit meiner Hand über ihre Haut fahre, weil ich ihre Haut immer noch spüre, sie rieche und das nach all der Zeit, weil ich sehe wie wir zusammen im Herbst ins Kino gingen, und sie mich mit Popcorn füttern musste, weil ich mir die rechte Hand gebrochen hatte und mit links nichts auf die Reihe kriegte, und wie sie vor mir kniet und mir einen bläst, weil ich sehe wie wir zusammen auf meinem Balkon sitzen und dabei über Marx und Proudhon diskutieren und rieche wie es roch, wenn wir miteinander geschlafen haben, weil ich daran denke wie laut wir schreien konnten, wenn wir uns stritten und wie laut sie schrie, als wir uns nachher wieder versöhnten, weil ich jedes Mal, wenn ich mein Bett sehe, auch sehe wie schön sie aussah, wenn sie gerade aufgewacht war, wie viel schöner sie ungeschminkt war, weil der Geschmack ihrer Haut allgegenwärtig ist, egal was ich tue, weil ich jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sehe, auch sehe wie sie da neben mir steht und wir uns zusammen die Zähne putzen, obwohl wir nach dem Zähneputzen sowieso immer noch geraucht, und dementsprechend auch noch Bier, Kaffee oder Cola getrunken haben, weil ich den Geschmack von Zigaretten im Mund habe, die sie angeraucht hat, weil ich daran denken muss, wie sehr ich mich Zuhause fühlte, als ich von einer Lesung aus Berlin wiederkam und sie in meinem Bett auf mich wartete, nur mit Rosen bedeckt, weil ich noch genau weiß, wie oft sie mich dazu gebracht hat, dass ich mich fragte wann genau ich zu so einem hoffnungslosen Weichei geworden war, weil ich einfach merke, dass es richtig mit ihr war, zu jedem verdammten Zeitpunkt.
Wir gehen aus und ich stelle sie meinen Freunden vor. Das war der Plan. Also gingen wir ins Underground. Da wo irgendwie alle irgendwie immer hingehen. Da wo vor allem seit geraumer Zeit nur noch politisch ungebildet und somit politisch desorientierte Besserwisser mit gefährlichem Halbwissen hingehen. Der Kölner Punk-Treffpunkt lebe hoch. Die linke Szene lebe hoch. Fußball wird vom Arbeitersport zum national-bourgeoisen Volkserlebnis. Punk wird von einer Ideologie zu einem Kult und dann zu einem Trend und damit zu Nichts.
Nichtsdestotrotz gehen wir also hin, weil ja schließlich alle da sind.
Es war nicht das erste Mal, dass ich ein Mädchen in unsere illustre Runde mitbrachte und es vorstellte, aber das erste Mal, dass es mir ernst war und das erste Mal, dass sich alle ihren Namen merkten, weil sie mir auch ansahen, dass es mir diesmal ernst war.
Also sagte ich „Guten Abend die Damen! Darf ich euch Gloria vorstellen?“, und legte ihr einen Arm um die Hüfte. Liebe ist Besitz. Besitz.
In dem Tonfall einer Selbsthilfegruppe antworteten alle monoton simultan:
„Hi Gloria!“, einer von unzähligen Running Gags von uns, die, objektiv betrachtet weder lustig, noch originell sind, aber in entsprechenden Situationen einfach gebracht werden müssen.
„Und das sind Paul, Guido, Robert und Eva.“ Sie lächelte alle freundlich an und alle lächelten freundlich zurück.
„Setz dich schon mal hin, ich besorg’ uns was zu trinken.“ Eva lächelte am meisten, sie hoffte schon lange darauf, dass ich endlich jemanden fand, der mir irgendetwas bedeuten könnte, schlug Paul in die Seite, damit er rückte und spielte durch Handbewegungen und Blicke das alte „Mein rechter, rechter Platz ist frei…“-Spiel. Als ich mich umdrehte und Guido mir hinterher hechtete, sah ich, dass sie sich anscheinend gut verstanden. Ich war zufrieden.
„Du siehst zufrieden aus.“, klopfte Guido mir auf die Schulter. Er ist ein guter Kerl und der Mensch, der mich am besten und am längsten kennt, abgesehen von meiner Mutter, dachte ich. Er erkannte sofort, dass das nicht eine von meinen üblichen Fick-Eskapaden war.
„Da sagst du was. Die ganze Nacht gepimpert! Nein, mal ehrlich. Wir ham uns gestern im Cafe Storch kennen gelernt. Ich bin jetzt noch total neben der Spur.“
„Gloria sieht nett aus. Zu nett um sie nur ein paar Mal flachzulegen.“, sagte er, weil er aus meinem Mund hören wollte, dass ich das genauso sah. Das wusste ich, weil er sich ihren Namen gemerkt hatte. Sonst nannte er immer alle, die ich mitbrachte, „Uschi“, oder auch „Gretchen“.
„Das hab ich auch nicht vor.“
“Gut. Wird eh langsam Zeit, dass du erwachsen wirst.“
“Schnauze, bezahl’ lieber das Bier.“
Wieder draußen, verteilte ich das Bier und Robert rief über den Tisch:
„Da hast du dir ja mal wieder `ne geile Sau geangelt, Mann.“
Mann.
Dieser Vollidiot. Manchmal fragte ich mich, ob er mit irgendwem eine Wette laufen hatte, in der es darum ging, mich in immer peinlicher werdende Situationen zu bringen. Falls ja, hätte er wahrscheinlich haushoch gewonnen, woran ich mich eigentlich gewöhnt hatte, aber vor Gloria war es mir trotzdem ziemlich unangenehm. Sie wusste nicht, wie das bei uns lief. Das war zwar genau das, was ich an ihr mochte und ich dachte auch nicht, dass sie so weltfremd sei, dass sie nicht verstand was wir für eine Scheiße verzapften – im Gegenteil -, aber ich hatte trotzdem Angst, direkt am ersten Abend bei ihr zu verkacken.
„Bist du etwa neidisch?“, wollte ich entgegnen, aber es kam bereits aus ihrem Mund.
Alle lachten. Ich staunte. Sie zwinkerte.
Robert nippte an seinem Bier und starrte vor sich hin. Er war sichtlich angepisst. Nicht ich hatte bei ihr, sondern sie bei ihm, verkackt – und andersrum. Wegen solchen Sätzen heißt es übrigens Fäkalsprache.
Wir tranken noch mehr Bier, ein paar Whiskys und gingen dann vom Biergarten nach drinnen um den Nahkampf-Befruchtungs-Tanz zu vollziehen. Mit einem Bier in der Hand ließ ich sie an mir tanzen, schüttete ihr genauso viel rein wie mir und fühlte mich gut. Paul und Eva versuchten uns in unserer Laszivität zu übertreffen, aber wir als frisch Verliebte hatten naturgemäß fast schon Sex auf der Tanzfläche.
Robert saß immer noch draußen, alleine, beobachtete uns grimmig und trank seine zehnte Flasche Bier.
Du bist Harald Juhnke. Du bist Deutschland.
Früher, als wir angefangen haben regelmäßig zu trinken, also mit 14 oder so, hat er einmal 12 Absinth hintereinander getrunken, mich dann ganz ernst angeschaut und gesagt: „Ich merke immer noch nichts.“, während ich nach dem vierten Absinth auf Bier umgestiegen war und trotzdem für die nächsten drei Tage unter einer Gesichtslähmung litt. Danach war er aufgestanden und ist ohne zu schwanken zur Theke gegangen, wo er sich, ohne zu lallen oder gar zu nuscheln, noch einen Doppelten bestellte, nach dem er allerdings immer noch nicht betrunken, und anscheinend noch nicht einmal angetrunken war und es daraufhin aufgab. An diesem Abend dachte ich zum ersten Mal, dass mit einem Typen, der 50kg wiegt und soviel Absinth saufen kann ohne zu kotzen, irgendwas nicht stimmen kann.
Gloria, die mittlerweile genauso betrunken war, wie ich, tanzte unaufhörlich und mir blieb nichts anderes übrig als zu versuchen, mit ihr mitzuhalten. Aber nach 10 Minuten brauchte ich ein neues Bier und entschloss mich, zuvor noch einmal die Keramik zu bewässern. Also küsste ich Gloria auf den verschwitzten Hals, leckte mir das Salz von den Lippen und ging zu den Toiletten. Irgendein Scheiß Kokser versperrte die Klotür, doch mit einem kräftigen Tritt flog er davon und mit ihm auch sein halbes Koks. Zum Glück hatte er das Zeug noch nicht durchgezogen und war sichtlich entspannt.
„Du Hurensohn, dir prügel’ ich die Scheiße aus dem Leib!“
Ich verpasste dem Typen zur Sicherheit vorab schon mal eine und erkannte einmal mehr, dass chronische Kokser, wenn sie nicht high sind, richtiggehende Leichtgewichte sind. Ich packte ihn am Kragen und schrie ihm wutentbrannt ins Gesicht:
„Tut mir leid, Mann. Ich wollte dich nicht um deine Line bringen.“, und drückte ihm 20€ in die Hand.
Man kann mir vorwerfen, was man will, aber wenn es um Drogen geht, dann hab ich den ausgeprägtesten Gerechtigkeitssinn der Welt.
Immer wenn ich betrunken bin, spucke ich ins Klo. Immer wenn ich ins Klo spucke, weiß ich, dass ich betrunken bin. Überall hängen diese idiotischen Fußballtore in den Pissoiren, wo man mit dem Pissestrahl ein Bällchen in ein Tor bewegen muss. Und der ganze Scheiß nur dafür, damit ein paar besoffene weniger die ganze Toilette vollsiffen, weil sie zu beschäftigt damit sind diesen Ball zu treffen. Mann.
Als ich gerade abschüttelte kam mir der Gedanke, dass ich mich vielleicht doch mal um Robert kümmern sollte. Besoffen wie ich war, wollte ich mit allen Leuten, die ich kannte Frieden schließen und mich mit allen andern prügeln. Abgesehen von Koksern, die ich um ihren Stoff gebracht hatte natürlich.
Er wollte gerade gehen, als ich raus kam. 
„Robert! Warte mal!“
“Was ist?”
“Das würde ich auch gerne wissen. Wer will denn gerade gehen, ohne irgendwas zu sagen?”
“Als ob es dich interessieren würde, Mann.“
Mann.
Diese Tour wieder. Aber okay.
„Ja, das tut es. Also, was ist? Ist es wegen dem, was Gloria eben gesagt hat?”
”Nein.” Alles klar. “Naja, vielleicht doch. Ich mag sie einfach nicht. Total unsympathisch, die Alte.”
Robert hatte es auch erkannt.
“Du musst sie ja nicht mögen.”
„Tu ich auch nicht, Mann.“
Mann.
„Ja, ist ja gut. Also, saufen wir noch einen?“
“Nein. Ich hab keinen Bock mehr auf eure Show. Ich verzieh mich. Meld dich, wenn du genug von ihr hast”. Und dann war er weg. Das Arschloch.
Dann eben keinen Frieden schließen und um ihm auf die Fresse zu hauen war ich viel zu paralysiert. Also weiter saufen. Ich wollte mir nicht noch einen Abend von seinen hysterischen „Ich-bin-so-arm-dran-und-keiner-hat-mich-lieb-aber-ihr-seid-ja-eh-alle-Wichser-und-ihr-könnt-mich-alle-mal-am-Arsch-lecken“-Anfälle versauen lassen. Vor allem nicht meinen ersten Abend mit Gloria. Langsam ging er mir mit seinem Getue wirklich auf die Eier und ihn immer überall mit durchzuziehen war alles andere als angenehm, aber im Grunde machte ich das alles nicht aus Mitleid, sondern weil ich ihn mochte, zumindest solange er sich solche Aktionen verkniff, was er allerdings nie wirklich begriff und deshalb immer in seine Opferstellung verfallen musste um uns allen, um der ganzen Welt, zu suggerieren, dass wir an seinem Leid schuld wären, damit ihn jemand in den Arm nimmt und ihm sagt, dass das ja alles nicht so wirklich stimmt. Es gibt einen Unterschied zwischen Klagen und Anklagen.
Saufen. Saufen. Glorias Arsch. Saufen. Rauchen. Tanzen. Für Paul Gras besorgen. Paul aus dem Club tragen. Den Türsteher anpöbeln. “Der da hinten hat hier rumgekotzt. Das ist ja ekelhaft hier.” Taxi. Kiosk. Bier.
Und wieder ging ich mit Gloria durch diesen Park und wieder war es genau das, was ich brauchte. Was ich allerdings nicht gebrauchen konnte war, dass sie sagte: „Robert sah echt fertig aus. Wieso hast du dich nicht mal um ihn gekümmert?“
Ich erklärte es ihr und merkte noch an, dass sie ihm ja selbst eine verbale Ohrfeige verpasst hatte.
„Ich glaube das war etwas zu hart. Vielleicht sollte ich mich bei ihm entschuldigen. Er tat mir schon leid, wie er da saß.“
“Ach, lass mal. Der kriegt sich schon wieder ein.”
”Meinst du? Ich will nicht direkt am ersten Abend bei einem deiner Freunde verkackt haben. Außerdem war er der netteste Mann.“
Mann.
„Und was ist mit mir?“ Ich küsste sie.
„Auch nicht schlecht.“, zwinkerte sie mir zu und trank ihr Bier.

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