RELATIVITÄT

Text

von  lilly-rose

Die Zigarette beißt sich in seine Lungen. Ein tiefes inhalieren, und mit einem kurzen, heftigen Druck bläst er den Rauch gegen den in den letzten Monaten immer stumpfer gewordenen, blass leuchtenden Monitor seines Notebooks. Nach der zwanzigsten Kippe schmecken sie einfach nicht mehr, spürt er, und nimmt dennoch nicht wahr, dass er schon wieder marionettenartig an der Schachtel nestelt. Ein flüchtiger Blick auf den Anrufbeantworter. Kein blinkendes Signal, oder doch? Er schaut noch einmal hin, nein, kein Anruf in Abwesenheit. „Irgendwie drehe ich langsam durch“ denkt er kopfschüttelnd. „Was soll dieser ständige, verdammte Blick auf der Suche nach einem blassgrünen Blinken einer nie versäumten Stimme?“

Als würde sein Körper eine unsichtbare Masse zerschneiden geht er zum Fenster, starrt in das Dunkel der Nacht, macht kehrt, und setzt sich wieder an den mit Zeitschriften, ungeöffneten Rechnungen, und jeder Menge hier gänzlich unplatzierten Dinge übersäten Küchentisch. Das Biowetter hatte heute Morgen gesteigerte Neigung zu schizophrenem Verhalten prophezeit, als er mit Kaffee und Zigaretten die Schwäche der zu kurzen Nacht aus seinem müden Körper jagte.

„Wie viel Leere hält ein Leben aus?“, hämmert er mit flinken Fingern in die Tastatur, so als würde er die Worte tief in seine Seele schreiben, und jeder einzelne Buchstabe eine blutende, nie mehr heilende Wunde hinterlassen.

„Wo sind die Grenzen der Normalität?“

„Normal“, brummt es in ihm.

Er erinnert sich an einen Spaziergang im Frühjahr. Die Fußgängerpassage war überfüllt mit lärmenden Menschen. Menschen mit hängenden Mundwinkeln. Mundwinkel die in ihrem Sog nach unten keine Grenzen mehr kannten. Hastige, hetzende Menschen. Dann dieser mongoloide, kleine Junge, der ihm so strahlend entgegen kam, mit einem unendlichen Glanz in seinen Augen, und einem unwiderstehlichen Lachen. Er weiß noch gut wie sie beide, der Junge und er, nahezu magnetisch ihre Augen fanden, und er sich nach ihm umgedrehte, als der Kleine, scheinbar unbeholfen an ihm vorüberging. Dieser strahlende Blick den der Junge ihm schenkte, fröhlich, unbekümmert und eindringlich, weiterlaufend und ebenfalls zurückblickend, so als wollte er ihm für die Ewigkeit eingravieren, wie sich Glücklichsein anfühlt.

Lachend, Späße machend und anerkannt kopiert sich sein Büroalltag. Jeder Tag. Und in den zähen Abendstunden bis zum letzten Schluck bewussten Atmens reißt er sich gelangweilt das Fleisch aus dem sinnlos gestählten Körper.

Das Biowetter hatte heute Morgen gesteigerte Neigung zu schizophrenem Verhalten prophezeit.

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Kommentare zu diesem Text


 Traumreisende (08.12.06)
du hast einen guten bogen gespannt, der sich in einer völlig anderen sicht auflöst, anfangs war es rauchig schwer, aber dann die gedanken des protagonisten in eine erinnerung, die ihn aus dem rauch holt.
ob es das wetter ist... wer weiß... wir vergessen alle oft den blick zu einem lächeln ohne konstruktion, ohne wertung, ohne hektik, ohne wollen, das lächeln des seins...

tief bebildert, da wird frau ja wieder zum nichtraucher ...:-)

dir liebe Grüße silvi
und.........:-)))


"Prognose für Freitag, den 08.12.2006
Neigung zu Unruhe und Schmerzen

Aufgrund von schwachem Tiefdruckeinfluss neigen Wetterfühlige zu leicht erhöhter Schmerzempfindlichkeit und innerer Unruhe. Die nächtliche Schlaftiefe ist herabgesetzt. Dadurch liegt die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit am Tage oft unter dem individuell durchschnittlichen Niveau. Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit treten häufiger auf." (Quelle wetteronline.de )

 lilly-rose meinte dazu am 08.12.06:
Der Bogen spannte sich von selbst, während einiger wenigen Minuten am gestrigen Abend, in denen ich ziellos, teils bewegungslos auf und abging...

War zwar nicht miene Absicht, eine zum Nichtrauchen motivierenden Text zu schreiben, aber ich hätte nichts dagegen, wenn es wirkt

lg
Thomas
Ju.Sophie (53)
(08.12.06)
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 lilly-rose antwortete darauf am 08.12.06:
Danke für Deine Worte!
Ja, vor allem die anderen Wertigkeiten sind es, denke ich, bzw. unsere oft verwirrten, verfehlten Vorstellungen von den Werten des Lebens. Sicher mögen diese Vorstellungen so vielfältig wie die Farben der Natur sein, auf das Wesentliche beschränkt jedoch, bleibt nur noch ein helles Grundrauschen übrig welche alle Bedürfnisse befriedigen könnte... würden wir es zulassen.

glg zurück
Thomas

 Martina (08.12.06)
....man verliert in der Hektik den Blick für das Schöne, man verliert die Lebendigkeit weil man starr wird für das Leben, aber schön, wenn man noch ein Geschenk in Form eines Blickes hat, dass uns immer wieder daran erinnert, was wir verloren haben. Ach, ich kann sehr schwer ausdrücken, aber ich weiß...du weißt....Lg Tina

 lilly-rose schrieb daraufhin am 08.12.06:
Du hast völlig Recht. Doch haben wir es verloren, oder werfen wir es einfach voller Gleichgültigkeit, übersättigt ob der vielen Trugbilder angeblichen Glücks weg?

Ja, ich weiß

Danke für Deine Worte und
lg
Thomas

 Maya_Gähler (08.12.06)
Deinen Text kann man aus verschiedenen Blickwinkeln sehen. Das ist etwas, was mir immer gefällt, wenn noch vieles so offen ist.
Ich kenne die Blicke von Kindern mit Down-Syndrom (mongoloid ist eine sehr abwertende Bezeichnung, die auch dem Volke der Mongolen nicht gerecht wird)
ich lebe seit 15 Jahren mit einem Kind mit Trisomie21 (andere Bezeichnung für Down-Syndrom)
und du hast recht, sie leben unbeschwerter als wir,
vieles, was uns den Blick verklärt, kennen sie nicht...
Wetterfühligkeiten sind eine sehr unangenehme Erscheinung und sogar Down-Menschen können darunter leiden
auf alle Fälle, was ich eigentlich sagen wollte, mir gefällt dein Text, er zeigt Menschlichkeit, er zeigt Leben...
Herzliche Grüße von der Maya

 lilly-rose äußerte darauf am 08.12.06:
Freut mich, wenn Dir die Offenheit der Worte gefällt.
Natürlich habe ich mongoloid nicht abwertend gemeint. Ich finde aber auch nicht, dass es ein abwertendes Wort ist, erst recht nicht da es gleichbedeutend mit einem Völkerstamm ist. Das Wesentliche ist aber, wie Du schon sagst diese ausgesendete, unbeschwerte Fröhlichkeit, das Erkennen zu dem wir nicht mehr in der Lage sind...

Danke für Deine schönen Worte
lg
Thomas
para.gone (26)
(08.12.06)
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 lilly-rose ergänzte dazu am 08.12.06:
Oh, vielen Dank für die vielen lobenden Worte, freut mich sehr!

lg
Thomas

 mondenkind (08.12.06)
wow, wow! das ist klasse geschrieben! eine überaus gelungene persönlichkeitsstudie. und so schön latent schizophren.. :)

 lilly-rose meinte dazu am 08.12.06:
Danke Sister!

Vielleicht tragen wir alle ein Stückchen Schizophrenie in uns, wer weiß

lg
Thomas

 mondenkind meinte dazu am 08.12.06:
also bei mir weiß ichs ganz sicher.. *gg* ;)

 michelle (09.12.06)
mir stockt der atem, und ich ringe nach worten....lg michelle

 lilly-rose meinte dazu am 10.12.06:
DANKE!!
Manchmal fehlen uns auch die Worte, wenn wir dem Bewusstsein gegenüberstehen.

lg
Thomas
MicMcMountain (59)
(13.12.06)
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Maushamster (30)
(26.12.06)
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 lilly-rose meinte dazu am 26.12.06:
Vielen, vielen Dank. Es freut mich ganz besonders, wenn Dieser Text gelesen und interpretiert, aufgenommen wird, und zum Nachdenken anregt.

Ich danke Dir!!!!

LG
Thomas
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