Die Buche war gelangweilt. Sie stand jetzt schon seit zweihundertsieben Jahren am gleichen Platz im Park: etwas abseits des Hauptwegs und nah an einer seiner Begrenzungsmauern.
Gepflanzt wurde sie zu Ehren von Napoléon Bonaparte. Ursprünglich wies eine Eisentafel am Wegrand auf die Napoléon-Buche hin, und unter der Buche (damals noch neben ihr, denn sie war zu dem Zeitpunkt erst ein kaum zwei Meter hoher Heister) wurde eine steinerne Bank aufgestellt. Irgendwann, als die Alten, die sonntags mit ihren Enkeln auf der Bank ausruhten, nicht mehr von Revolutionen erzählten, wurde die verrostete Tafel entfernt. Die Bank unter der Buche wurde immer seltener besucht, anfangs noch von Liebespaaren, später von spielenden Kindern oder von Spaziergängern mit Hunden. Doch Brennnesseln und Brombeerranken ließen den schmalen Seitenweg zum Baum immer unsichtbarer werden, und so verirrte sich heute nicht mal mehr ein entwischter Hund hierher.
Die Bank gab es aber immer noch, wenn sie auch kaum zu erkennen war unter Moos und abgefallenem Buchenlaub.
Im Augenblick döste die Buche in der heißen Mittagssonne, sanft eingelullt vom Rascheln des Winds in ihren Zweigen, dem pflichtbewussten, müden Flöten eines Amselmännchens und dem Streicheln zweier Eichhörnchenschwänze. Sie war so träge, dass sie die Ankunft eines Menschen verschlief.
Als sie erwachte, sah sie auf der Bank an ihrem Fuß etwas liegen. Es sah aus wie ein breites flaches Holzscheit, mit sehr glatten Kanten. Der Buche lief ein Schauer durch die Zweige, denn nichts fürchtete sie mehr, als eines Tages als Brennholz zu enden. Manchmal hörte sie den Wind darüber flüstern, wenn er aus dem Wald zurückkehrte und einen beunruhigend rauchigen Duft mit sich trug.
´Ein Mensch muss dieses Ding auf der Bank liegen gelassen haben, als ich schlief`, dachte sich die Buche. Schon öfter konnte sie nämlich beobachten, wie menschliche Besucher solche Scheite auseinander klappten, so dass diese ihr Inneres preis gaben. Dann starrten die Menschen stundenlang hinein und wendeten dabei Blätter um, die dünn wie Buchenblätter waren – nur nicht so grün, sondern blass, als bekämen sie dort im Inneren des Scheits nicht genug Licht. Momentan war von den weißen Blättern jedoch nichts zu sehen, denn das Scheit war zugeklappt. Ob es schlief?
Knarrend räusperte sich die Buche. Dann raschelte sie ein bisschen mit den Ästen, bis die Amsel erschrocken kreischend aufflog. Das Scheit rührte sich nicht.
„Schsch...schläfst du?“, sprach die Buche es schließlich mutig an.
Ruckartig richtete sich da das Ding auf und schaute die Buche an – zumindest schien es ihr so, denn auf seiner ihr zugewandten Seite prangte etwas Dunkles, wie Astlöcher in glatter Buchenrinde, schwarz wie Eichhörnchenaugen.
„Ich schlafe nie, ich bin nur gerade geschlossen“, sagte das Scheit.
Die Buche war beeindruckt, denn sie selbst schlief viel und gern.
„Bist du denn nie müde?“, fragte sie schüchtern.
„Nie“, entgegnete das Scheit, „wovon denn auch?“
Die Buche wusste keine Antwort und wedelte verlegen mit zwei Zweigen ganz oben links.
„Wer bist du eigentlich?“, fragte sie dann, um das Thema zu wechseln.
„Ich bin ein Buch“, sagte das Scheit.
Das musste die Buche erst mal veratmen! Ein Buch?! Buche und Buch... wie seltsam stimmig... Sollte dieser Buch am Ende gar ein Freund für sie...?
„Oooooh!“, rauschte sie endlich, ganz atemlos vor Aufregung, „Wir sind von einer Art! Ich bin eine Buche! Buch – Buche, hörst du?“
Die Buche hörte ein Rascheln, und als sie nach unten blickte, sah sie den Buch auf dem Rücken liegen, seine Blätter bewegten sich, als ob eine Brise hindurch fuhr.
„Die Buchen, Fagus, sind eine Gattung in der Familie der Buchengewächse, Fagaceae“, teilte er mit, und seine Worte prasselten schnell wie Regentropfen. „In Europa sind zwei Arten heimisch, die Rotbuche, Fagus sylvatica, und die Orientbuche, Fagus orientalis... Zu welcher Art gehörst du?“, fragte der Buch.
Nachdenklich betrachtete die Buche ihre Blätter. Die waren nicht rot, sondern grün. Vom Orient hatte sie noch nie etwas gehört, das musste eine sehr seltene Farbe sein.
„Ich weiß nicht“, sagte sie schließlich, „ist das denn wichtig?“ Der Buch überlegte und sprach dann weiter.
„Buchen bevorzugen ein wintermildes und sommerkühles, feuchtes Klima. Gebiete mit strengen Winter- und Spätfrösten und starker Trockenheit werden gemieden...“
„Oh, das stimmt“, rief die Buche erfreut, „ich liebe sanften Sommerregen, wenn die Tropfen auf meinen Blättern perlen! Und einen langen kalten Winter mag ich gar nicht!“
Beim Gedanken an Raureifnadeln auf ihren nackten Zweigen schüttelte sich die Buche.
„Hm“, machte der Buch, „ Feuchtigkeit würde mir eher schaden, ich könnte verschimmeln.“
Die Buche sah genauer hin – tatsächlich! Auf den Blättern des Buchs befanden sich winzige schwarze Punkte und Flecken, als ob dort Schimmelpilzchen wuchsen.
„Aber hast du denn nie Durst?“, wunderte sich die Buche.
„Nein, nie“, sagte der Buch, „ich bin ja voller Wissen.“
Die Buche verstand das nicht, schwieg aber und hörte dem Buch weiter zu.
„Buchen sind sommergrüne Bäume mit glatter, grauer Rinde. Nur selten wird im Alter eine schwache Borke ausgebildet. Die Laubblätter stehen wechselständig und sind ganzrandig, gekerbt oder gezähnt.“
Die Buche nickte und spreizte zur Bestätigung ihre Blätter.
„Buchen besitzen hartes und schweres Holz mit hoher Biegefestigkeit. Wird es ständig der Witterung ausgesetzt, ist es wenig dauerhaft. Das Buchenholz hat einen farblich gleichmäßigen Aufbau. Das Holz der Buchen wird massiv und als Furnier im Möbelbau und für den Innenausbau verwendet. Außerdem liefern Buchen ein hochwertiges Brennholz, dass sich leicht spalten lässt. Durch seinen hohen Brennwert und das schöne Flammenbild gilt es als eines der besten Hölzer für Ofen und Kamin. Buchenholz sprüht zudem nur wenig Funken....“
„Genug!“, schrie die Buche, denn über Feuer mochte sie nichts hören.
„Du, Buch, tat es weh, als sie Brennholz aus dir machten? Wie haben sie dich so klein gekriegt? Wurden dabei deine Blätter blass?“, fragte die Buche zitternd.
Verdutzt schaute der Buch nach oben. Und endlich dämmerte ihm etwas.
„Ich bin kein Baum“, erklärte er leise, „also... ich meine, es stimmt schon... manches von mir ist aus Papier und das wurde aus Holz gemacht, also aus Bäumen... aber ich selbst bin kein Baum.“
„Aber du hast Blätter...“, protestierte die Buche.
„Das sind meine Seiten, darauf steht alles, was ich weiß. Siehst du?“
Und der Buch rückte seine weißen Seiten besser ins Sonnenlicht. Die Buche betrachtete lange die schwarzen Flecken und erkannte allmählich Muster und Linien. Wie Spuren im Schnee sahen sie aus. Und die konnte die Buche gut unterscheiden. Sie ahnte, dass die Zeichen auf den Blättern des Buchs ähnlich zu deuten waren. Und dass der Buch keineswegs zu ihrer Art gehörte.
„Was weißt du noch?“, flüsterte sie leise.
Und der Buch erzählte. Er berichtete von anderen Bäumen. Davon, was aus Holz gemacht wurde. Von der Geschichte des Papiers und der der Bücher. Die Buche hörte zu und lernte. Sie lernte auch, dass nichts, weder Buch noch Buche, ewig leben konnten. Doch konnte und wollte sie es nicht glauben.
Es dauerte den ganzen Sommer lang, alles zu erzählen, was auf den Schneespurenblättern stand. Wenn es regnete, klappte sich der Buch zu und die Buche schwenkte schützend ein paar Zweige über ihren Freund, damit er nicht schimmelte. Wenn die Sonne wieder schien, blätterte sich der Buch auf und trocknete seine Seiten, die mit den Wochen immer dunkler wurden, fast, als hätte sie das Sonnenlicht gebräunt.
„Siehst du“, murmelte die Buche schläfrig, „nun sind deine Blätter nicht mehr so blass.“
Der Buch schwieg.
Als sich im Herbst die Buchenblätter goldbraun färbten und eins nach dem anderen von den Zweigen fielen, bat der Buch die Buche um etwas.
„Lass ein paar deiner Blätter auf mich fallen, damit ich vor Regen und Schnee geschützt bin.“
Die Buche wollte seinen Wunsch gern erfüllen, denn sie machte sich Sorgen um ihren Freund. Seine glatte Rinde war fleckig geworden und seine Seiten wellten sich wie welkes Laub nach dem Winter.
„Leb wohl, Buch“, flüsterte sie, „wir sehen uns im Frühling wieder.“
Dann warf sie goldglänzende, trockene Blätter auf ihn hinab. Der Buch sah so lange in die Buchenzweige hinauf, wie noch ein Stückchen Himmel durch die Blätterschicht zu erkennen war.
Der Winter war lang und schneereich. Bucheckern waren schwer zu finden, weshalb Eichhörnchen und Amsel nicht mehr vorbeikamen. Die Buche fror im eisigen Wind und träumte vom Sommer mit dem Buch. Zu ihren Füßen stand die steinerne Bank, auf der die Buche ein Häufchen erkennen konnte, das von Tag zu Tag ein bisschen kleiner zu werden schien. Ab und zu rief die Buche, zitternd vor Kälte, nach ihrem Freund. Doch nie hörte sie eine Antwort.
Frühlingsstürme tobten durch den Park und rissen Äste von der Buche. Der Schnee wurde dunkelfleckig und verbarg die Vogelspuren. Aufgeregt beobachtete die Buche, wie unter dem Schneehaufen auf der Bank das Laub wieder sichtbar wurde. Wind und Mäuse wirbelten den Rest davon. Doch der Buch war weg. Nicht ein weißes Fetzchen von ihm hatte den Winter überdauert.
Die Buche trauerte. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht mehr Laub auf den Buch geworfen hatte. Sie sehnte sich nach seiner Gesellschaft und seinen Geschichten. Um sie nicht zu vergessen, begann die Buche selbst zu erzählen.
Den Eichhörnchen beschrieb sie, welcher Gattung sie angehörte, und diese erzählten es ihren kleinen Hörnchenkindern weiter, wenn sie ihnen Bucheckern in den Kobel brachten.
Der Amsel berichtete die Buche von den Zeichen auf den schneeweißen Seiten des Buchs, wofür sie standen und woraus sie gemacht waren. Und die Amsel sang von Spuren im Schnee, vom Winter und der Sehnsucht nach Wärme.
Dem Wind jedoch flüsterte die Buche zu, wie wertvoll ihr Holz wäre. Wie gut es brennen würde, wie wenig Funken es schlüge. Der Wind verstand. Und als der Sommer am heißesten war, brachte der Wind eines Mittags eine Flamme hervor. Sie war unter den Scherben einer Flasche geboren worden, hatte sich im Unterholz verborgen und wurde nun vom Wind herangetrieben. Schnell nährte sie sich von der dicken Schicht Buchenlaub, wurde größer und heißer.
Als das Feuer die untersten Zweige erreichte, betrachtete die Buche ihre Blätter. Rot glühten sie auf, bevor sie ins Nichts verschmorten.
„Rotbuche bin ich“, flüsterte sie.
Und jäh regten sich Stolz und Lebenswillen in ihr. Kraftvoll saugte sie Wasser aus dem Boden und schlug mit den Ästen nach den Flammen. Der Wind, der das sah, änderte seine Richtung und blies den Rauch in die Straßen der Stadt.
Menschen löschten das Feuer. Die Buche war geschwächt und geschwärzt, jedoch glücklich, noch am Leben zu sein. Die Flammen hatten die Lichtung frei gebrannt, die Bank unter der Buche war nun vom Weg aus zu sehen. Als das Gras wieder grün durch die verkohlte Laubschicht spitzte, fanden immer öfter Menschen zu Bank und Buche. Manche mit, manche ohne Buch. Manchmal las jemand etwas vor, was die Buche besonders freute. Und wenn es schien, als würde ein Mensch sein Buch liegen lassen wollen, rauschte die Buche mahnend.
Eines Tages schnitzte jemand etwas in die schwarzverbrannte Rinde:
´Ein Freund muss dir nicht ähneln, um dich zu verstehen.`
Es tat nur ganz wenig weh.