Sehr geehrter Herr Marx II

Text

von  GiraffeFolle

Sehr geehrter Herr Marx,
mir kam wieder der Gedanke, Ihnen zu schreiben, auch, wenn ich das vielleicht nicht sollte, weil es nicht dazu beitragen wird, dass einer von uns mehr oder weniger versteht über diese Welt und all die Situationen und Emotionen und dem ganzen Rest, der sich darin verbirgt und das Leben lebenswert macht. Sie werden vielleicht jetzt schon lächeln, schmunzeln, um genau zu sein, und mich im Stillen fragen, ob es dann nicht Zeitverschwendung ist, ob ich meine Stunden (ja, es braucht zuweilen Stunden, um Ihnen einen solchen Brief zu schreiben) nicht sinnvoller ausfüllen könnte als mit Dingen, über die ich mir sicher bin, dass sie keinen größeren Effekt haben werden. Die Antwort ist für jeden, der mich länger als einige Stunden kennt, denkbar einfach, und Sie wissen sie (weswegen Sie die Frage auch nie laut stellen würden): Ich habe nicht das geringste Interesse daran, Zeit oder Aufwand oder Energie zu sparen. Ich will nichts Sinnvolles. Ich will etwas, das gut ist, etwas, das sich richtig anfühlt – wen kümmert es, ob es einen Sinn ergibt? Mein Gott, dieses ganze Leben hat keinen Sinn, wieso sollte ich zwanghaft etwas hineinzwängen wollen, das einfach nicht hineinpasst? Den Sinn erhalten die Dinge erst dadurch, dass wir sie vorerst nur machen, im Nachhinein sozusagen. Und ich habe schon so viele „sinnvolle“ Dinge getan, die am Ende dann doch keinen Sinn hatten, dass ich an dieser Aktivität einfach schnell das Interesse verloren habe.
Wenn Sie jetzt da wären, würden Sie wahrscheinlich dieses winzige, kaum merkliche Lächeln lächeln, das sich immer auf Ihrem Gesicht zeigt, bevor Sie gegen etwas, das ich sage, gegenhalten, und mir mehrere sehr gute sehr kluge Sachen sagen, die Ihnen sofort einfallen, jedes Mal, wenn ich eine Meinung von mir zum Besten gebe, und die doch magischerweise nichts von dem, was ich gesagt habe, kaputt reden oder kleiner machen. Sie haben, da bin ich mir mittlerweile sicher, nicht die Absicht, meine Weltanschauung plattzuwalzen – dafür habe ich mich mit zu vielen anderen Menschen unterhalten, die tatsächlich nur dieses Ziel hatten, und ich kenne das Gefühl nur allzu gut, mir so entsetzlich dumm und unwissend vorzukommen, nur weil irgend ein anderer, eventuell nicht einmal besonders liebenswerter Mensch sich entschieden hat, meine kleine Philosophie zunichte zu machen. Dabei wollte ich Ihnen so gerne vorführen, dass in mir eine starke Frau schlummert (oder herumlungert – lungern starke Frauen herum?), ein großes Mädchen. Ganz ehrlich, ich habe es darauf angelegt, ich habe es versucht. (Sie wissen das nicht, denn es hat ja auch nicht funktioniert.) Ich wollte intelligente Äußerungen von mir geben und mich erwachsen verhalten und gut schreiben. Ich wollte, dass jemand stolz darauf ist, behaupten zu können, dass er mich kennt, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Aber Sie haben mich schon gesehen, nervös und verzweifelt, naiv und enttäuscht, pathetisch und wütend auf mich selbst, Sie wissen, dass ich nicht viel Anderes zu präsentieren habe als das, was ich täglich bin (was, im Normalfall, nicht über das oben genannte hinausgeht). Deswegen spiele ich niemandem mehr etwas Anderes vor, und währenddessen lauere ich wie ein Wolf darauf, dass jemand kommt – dass Sie kommen! – und ich nach meinem Rat oder zumindest meiner Meinung gefragt werde.
Sie werden sich beispielsweise daran erinnern, dass wir uns darüber unterhalten haben, ob es Menschen gibt, die keine richtigen Wurzeln haben und deswegen auch nichts Anderes Gleichbleibendes in ihrem Leben, an dem sie gut und gerne festhalten. Ich denke sehr oft an dieses Gespräch, und mir fällt immer mehr dazu ein. (Nichts Tröstliches, diese Hoffnung kann ich Ihnen gleich nehmen, denn natürlich kann es sein, dass es solche Menschen gibt, und es kann genauso gut sein, dass wir dazu gehören, auch, wenn man das zum jetzigen Zeitpunkt unseres Lebens noch nicht genau sagen kann.) Ich denke, man lernt, wenn man noch sehr klein ist, was gleich bleibend und wurzelartig und zum Dranfesthalten ist, und dieses Wissen nimmt man mit in sein Erwachsenenleben und baut unter seiner Verwendung bombensichere Arbeitsplätze und Meinungen und Ansichten und Freundschaften auf. Wenn man es aber nicht hat, muss man es entweder selbst erlangen, oder man lebt sein Leben eben unter immer wechselnden Bedingungen und macht sich nichts daraus, alles irgendwie zu meistern. Man muss sich damit abfinden, dass man nichts Festes hat, und deswegen muss man sich vorteilhafterweise auch nicht mit irgendwelchen Grundsätzen abfinden, die das Leben einem auferlegt hat. Man geht einfach weiter, wenn es einem irgendwo nicht mehr gefällt. Man nimmt Prinzipien auf und legt sie wieder ab, wenn sie einem nichts mehr geben. Man befreundet und entfreundet sich mit anderen Menschen, je nachdem, wie es für einen selbst gerade vorteilhaft ist (weil man schon früh begriffen hat, dass es nichts Wichtigeres im eigenen Leben gibt als das Ich). Manchmal sehe ich in die hellerleuchteten Wohnzimmerfenster irgendwelcher Personen, an denen in beide Richtungen eine Familie dranhängt und ein guter Job und ein stabiler Freundeskreis und das Gefühl, etwas erreicht zu haben, und dann frage ich mich besorgt, ob ich das nicht auch irgendwann wollen werde, ob ich mit 40 immer noch nachts alleine in mein chaotisches kleines Zimmer heimkehren und übermüdet mit ungeputzten Zähnen und noch immer geschminkten Augen ins Bett fallen werde. Meistens stelle ich in diesen Situationen fest, dass mir die zweitere Vorstellung immer noch besser gefällt als die erstere.
Man hat nämlich doch eine Wurzel, glaube ich ganz fest (und das glaube ich nicht nur, weil man als Mensch nun mal irgendwas glauben muss, sei es auch noch so albern und lächerlich und offensichtlich nur, um sich einzureden, das, was man glaube, könne einem helfen), und wenn sie nur daraus besteht, dass man keine Wurzeln hat. Es gehört zu einem dazu wie der Vor- und Zuname, dieses Nomadenleben, und deswegen sollte man es lieben und nebenbei versuchen, diese Chance zu nutzen – frei zu sein, unabhängig, unverlässlich. Man hat die einmalige Gelegenheit, sein Leben zu führen wie einen moralischen Urlaub. Sie werden mir vielleicht nicht Recht geben, aber ich weiß, dass Sie zumindest darüber nachdenken und mich nicht für meine Denkweise  verurteilen werden. (Dafür kennen Sie es zu gut, dass jemand etwas sagt, wovon man sich schon immer erhofft hatte, irgendwer möge das Thema auch nur umrissweise anschneiden. Ich glaube, wenn Sie eine Frau wären, dann wären wir Schwestern, und wenn ich ein Mann wäre, dann wären wir Brüder. Ab und zu habe ich das Schicksal schon gefragt, wieso es uns verschiedene Geschlechter hat zukommen lassen, aber bisher hat es noch nicht geantwortet.)
Natürlich würde ich mich gerne als Konstante für Ihr Leben anbieten, aber ich glaube, dafür bin ich selbst zu konstantenlos. Für etwas, das ich selbst nicht verstehe, kann ich keine Versprechungen machen. Ich kann beim Tanzen nicht einmal eine einzige Figur verderben, ohne mich selbst dafür zu hassen und die ganze Leidenschaft über Bord zu werfen und mir etwas Neues zu suchen, das ich dann natürlich auch wieder nicht kann. (Leidenschaft! Ich sollte solche Wörter gar nicht erst in den Mund nehmen. Sie stören beim Herumwandern.) Es könnte doch, denke ich dann, wenn ich in meinen Tanzschuhen nach Hause laufe und mir schwöre, dass es das letzte Mal ist,  zumindest so etwas wie ein Schutz sein, etwas Griefbares, etwas, worauf man sich wirklich verlassen kann. Meiner Meinung nach muss man, wenn man selbst keinen doppelten Boden hat im Leben, sein Herz schützen wie eine kleine Pflanze. Aber meinen Sie, es gibt eine Methode, sein Herz zu schützen, ohne es einzumauern, abzuschotten? Ich habe zumindest noch keine gefunden, und deswegen laufe ich zwischen den beiden Extremen hin und her – ich mauere es ein, nur um es danach wieder offen und schutzlos irgendwem auszuliefern, und dann mauere ich es wieder ein. Die meisten Menschen sind zum Glück zu kurz ein Teil meines Lebens, als dass beide Extreme sie betreffen könnten.
Dabei klingt es natürlich reizvoll, sehr reizvoll sogar, jemandem etwas anzubieten, das man selbst eigentlich nicht hat. Wenn man sich dann eines Tages zurückerinnert und denkt Ach ja, ich selbst hatte zwar nie irgendwas Konstantes in meinem Leben, aber ich war wenigstens selber im Leben eines Anderen konstant. Da das aber, wie ich meine, außerhalb des Möglichen (oder zumindest: außerhalb des für mich Möglichen) liegt, kann ich bestenfalls versuchen, Ihnen etwas Anderes anzubieten. Was denn, fragen Sie mich. Ich weiß es nicht, jedoch können Sie sich sicher sein, dass ich des Öfteren darüber nachdenke. Für Sie würde ich gerne besser sein. Aber bei unserem nächsten Zusammentreffen bin ich dann doch irgendwie jedes Mal wieder nur ich.
Können Sie mir das verzeihen?
Mit Hochachtung,
Ihre Frau Giraffe


Anmerkung von GiraffeFolle:

21. Februar 2007

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