Sehr geehrter Herr Marx III

Text

von  GiraffeFolle

Sehr geehrter Herr Marx,
langsam beginne ich, Gefallen daran zu finden, Ihnen zu schreiben. Nicht, weil ich Antworten erwarte oder gar glaube, dieser Briefwechsel könne uns beiden von irgendeinem Nutzen sein. Nein, es ist vielmehr der Wunsch, die in meinem Kopf herumschwirrenden Gedanken in schön geordneten Linien auf dem Papier anzuordnen, welche dann eines Tages Zeile für Zeile von Ihren Augen abgetastet werden. Zugegeben ist es eine meiner schönsten Vorstellungen, die ich habe, auch, wenn Sie Ihnen – ach, was, mir selbst ebenso – wie eine Kleinmädchenphantasie vorkommen mag. Ich kenne Ihr Gesicht auswendig, wenn Sie Ihre Augen zeilenweise von links nach rechts und wieder zurück einen von mir verfassten Text entlangrutschen lassen, weswegen ich mir dieses Bild – Sie, zu Hause, meinen Brief lesend – perfekt in meinem Inneren zusammenbauen kann. Dies gibt mir das Gefühl, an ein Zuhause zu schreiben, das ich, wie mir gerade beim Reisen auffällt, vielleicht gar nicht habe.
Ich bin gerade auf einer meiner Reisen, während ich diesen Brief an Sie schreibe, auch, wenn ich mich kaum so fühle. Sie müssen wissen, dass ich die Stadt, in der ich mich derzeit aufhalte, einst bewohnt habe. Sie ist mir keinesfalls fremd geworden in der Zwischenzeit, in der ich nicht hier sein konnte. Ich bin zu Besuch bei Freunden und das Kuriose ist, dass mir bei ihnen ganz klar ist, wann diese Menschen für mich an Bedeutung gewonnen haben. Nachbarn, Schulfreunde und Bekannte von Bekannten plätschern ins Leben hinein, finde ich, in fließenden Übergängen. Aber ein Umzug in eine andere Stadt ist wie ein Schubs in ein Zoogehege: Man steht auf einmal vor dem Löwen und beginnt augenblicklich, ihn auch als solchen zu erkennen. Jedenfalls bilde ich mir ein, es so genau sagen zu können, wahrscheinlich verzerrt sich nur meine Wahrnehmung mit meiner jeweiligen Umgebung.
Das Reisen erinnert mich immer daran, wie sehr mein Leben auf verschiedene Orte verstreut ist. Erstaunlicherweise hängt dies offenbar hauptsächlich mit anderen Menschen zusammen, obgleich ich, wie Sie wissen, nicht direkt ein geselliger Typ bin. Ich reise für gewöhnlich nicht, um dann an einem Strand oder in einem Wald zu sitzen und es dort einfach schön zu finden. Ich reise, um Menschen zu treffen – ob ich sie nun schon kenne oder nicht. Ich reise, um Begegnungen entstehen oder wieder aufleben zu lassen. An Orte, die ich mit Personen verbinde, kann ich mich erinnern, jedes alberne kleine Detail bleibt mir im Gedächtnis haften. Die besondersten Naturschauspiele und –wunder hingegen vergesse ich. Meine Aufmerksamkeit ist so sehr an andere Menschen gebunden, dass es kaum zu fassen ist.
Die Leute, die ich hier also wiedertreffe, sind fühlbar Teile meines Daseins – einige wichtiger, einige weniger wichtig, andere wiederum weniger wichtig, als ich selbst gedacht hätte. Es ist eigentlich absurd, wie sehr unser kleines Menschenleben von anderen Menschen abhängt, und wenn es auch nur diejenigen sind, die wirklich zählen. Es ist etwas, worüber ich auf dieser Reise so viel nachdenke wie schon lange nicht mehr. Wir Menschengeschöpfe geben uns so viel Mühe, uns unabhängig zu machen, uns nicht zu sehr auf andere zu verlassen, niemandem zu sehr zu vertrauen, uns selbst am meisten zu achten. Dafür trainieren wir die ganze Zeit, jeden Tag, nur um dann beim nächsten Herzschmerz, Todesfall oder auch nur am nächsten Samstagabend, den wir allein zu Hause verbringen, zugeben zu müssen, dass es so nicht geht. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich finde das höchst paradox. Und ich persönlich werde ausnahmslos immer wieder von mir selbst enttäuscht, wenn ich mir vornehme, mich in den riesigen Weiten meiner paar Jahrzehnte hier auf der Welt allein zurechtzufinden. Der Mensch muss sich entscheiden, was er mehr will, scheint es mir, glückliche Einsamkeit oder herzerfüllende Gesellschaft, was immer das heißen mag, und die meisten Menschen wollen Beides, obwohl es nicht klar ist, ob und wie man auch nur eines davon erreichen kann. Vielleicht ist das auch keine Frage der Entscheidung, habe ich überlegt, vielleicht ist es eine Frage der Zeit. Man kommt in beide Lagen, in Situationen, in denen man entweder oder das andere mehr braucht. Nur finde ich es verwirrend, dass das Leben immer in Zeiten, in denen man sich mit dem einen oder dem anderen gerade abgefunden oder sich zumindest daran gewöhnt hatte, alles umkippt. Es spielt uns Streiche, dieses Leben, jedes Mal, wenn es uns zu Alleingängern macht, aber genau so,  wenn es so ein geisterhaftes Wesen schickt, das auf einmal mitten auf unserem Weg steht und seltsame Geschosse mitten in unsere Einsamkeit feuert, die dort alles verändern. Doch bin ich mir sicher, dass es genau diese Geschosse sind, die in der Lage sind, in uns hineinzureichen wie nichts anderes, die tatsächlich wirklich wichtig sind. Was sonst soll wirklich wichtig sein? Wie unbedeutend. Viel wichtiger ist, zu fragen, wie man den Menschen, die in unserem Leben etwas bewirken, auch nur mitzuteilen, wie groß ihr Einfluss war und ist. Kann man das?
Manchmal denke ich, ich würde gerne auf meinem Leben wie auf einer großen Landkarte Kreuze machen und Notizen daran schreiben: „Hier hat ein Mensch meinen Weg gekreuzt, der wirklich gezählt hat!“ Für die jeweilige Person könnte das sicher schmeichelhaft sein. Das Problem hierbei ist, dass das Leben keine Landkarte darstellt, und man deshalb keine genauen Kreuze draufkritzeln kann. Alles fließt, alles bewegt sich. Deswegen weiß man schlichtweg nicht, wo das Kreuz sein müsste. Jemand mag zu einem Zeitpunkt in mein Leben getreten sein, an dem ich noch gar nicht wusste, wie wichtig er für selbiges werden würde. Und umgekehrt kann es sein, dass jemand schon lange Einfluss auf mein Leben genommen hat, bevor mir bewusst war, dass er tatsächlich da war. Nur der Klang einer Stimme, nur ein Blick, nur ein einziger Moment kann die Macht haben, etwas zu verändern, das glaube ich ganz fest, und es kann geschehen, ohne, dass wir es wirklich wissen. Unser Bewusstsein ist so darauf getrimmt, sich an das Wesentliche zu halten, dass es das tatsächliche Wesentliche meistens übersieht. Vielleicht hat das Lächeln des alten Mannes heute Morgen in der Straßenbahn meine Tagesstimmung gerettet, und ich weiß es nicht und werde es auch nie wissen, egal, wie wichtig es gewesen sein mag. Ich habe lediglich flüchtig zurückgelächelt und wieder aus dem Fenster gesehen.
Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, nach Antworten zu suchen auf die Art von Fragen, die man selbst nicht einmal wirklich ausformulieren kann. Genau das ist das, was mir Sorgen macht, sobald ich mir Gedanken darüber mache. Der Mensch sucht die ganze Zeit nach irgend einer Antwort und versteht nicht, dass es die Fragen sind, die vollkommen genügen. Was ist vom Menschen noch übrig, wenn es ihm nicht gestattet ist, sich zu fragen, ob etwas, das er nicht einmal völlig bewusst erlebt hat, sein Leben verändert haben könnte? Ich weiß, Sie mögen keine Was-Wäre-Wenn-Überlegungen, und Sie wissen hingegen, dass ich nicht aufhören kann damit. Es erscheint mir einfach zu wichtig, sich ab und zu umzudrehen und mich zu fragen, ob auch alles anders hätte kommen können. Man bleibt so dankbar, man bleibt wach für das ganze Glück, das einem zugeflogen ist, Sie verstehen. Und was wäre, wenn ich doch ein Kreuz machen könnte, für Sie beispielsweise, wo würde es sein? Dort, wo ich Sie das erste Mal gesehen habe, dort, wo ich Sie das erste Mal gesprochen habe? Dort, wo ich das erste Mal geweint habe beim Gedanken daran, sie könnten nichts von mir wissen wollen? Sie würden mich belächeln, wenn ich Sie das wirklich fragen würde, Sie würden sagen, Sie wollen gar kein Kreuz, es sei unnötig, gerade jetzt, wo so lange Zeit verstrichen ist, seit unsere Wege sich getroffen haben. Diesen Einwand verstehe ich. Man kann seine Kreuze nicht in der Vergangenheit ansiedeln. Deswegen würde ich mein Kreuz für Sie wohl (mit dieser dicken, farbigen, nicht wasserlöslichen Kreide) im Hier und Jetzt machen, mit einer unübersehbaren Notiz daran: „Da gehören Sie hin.“ Machen Sie mir keine Vorwürfe aus meiner Vehemenz. Man wird nie erwachsen genug, um zu verstehen, dass man nichts festhalten kann nur weil man es festhalten möchte, aber ich lerne, verspreche ich Ihnen, ich bin auf dem Weg.
Mit Hochachtung,
Ihre Frau Giraffe


Anmerkung von GiraffeFolle:

22. März 2007

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Kommentare zu diesem Text

Locklin (48)
(25.08.07)
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 GiraffeFolle meinte dazu am 25.08.07:
Das musst du wohl, tut mir Leid ;)
DANKE!
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