Reepschläge
Kurzprosa zum Thema Erinnerung
von Pameelen
Reepschläge
Die sechsundachtzigjährige Edith W.
Ein Portrait.
Pflaumenkuchen mochte sie als Kind schon gern.
Sie schmunzelte und die Augen verengten sich zu dünnen Sehschlitzen wie man es nur gewohnt ist bei dem Blick in gleißendes Sonnenlicht. Damals in Ostpreußen waren es die verwachsenen, mit Schrunden am Stamm versehenen alten Bäume die besonders aromatische Früchte hervorbrachten. Und wie es in der Küche im Altweibersommer roch . . .
„Kindheit das war was!“, ließ sie mit aller Bestimmtheit wissen und klopfte die Gabel bes-tätigend auf den Tellerrand. Kindheit war vor allem Weite, niemals enden wollendes Blau, kartoffelbeladene Pferdegespanne, die über holprige Feldwege wackelten, verbunden mit Erinnerungen an Geräusche, Laute, an das Rufen der Mutter über die sonnenvergleißten Felder, an den Geruch, der entstand, wenn das Fallobst in unermüdlichen Stunden zu Kompott verarbeitet wurde. Die Tage, an denen alle Landweiber gemeinsam noch spät am Abend um den Küchentisch saßen und redeten, während Pflaumenkuchenbleche in den heißen Ofen verschwanden, den Duft von Pflaumen preisgaben und das Aroma von zerschmelzenden Zimtzucker in ihre Welt sanft verströmte. Kindheit war auch die Zeit, in der ihre roten langen Haare zu einem dicken Zopf zusammengeflochten wurden, wenn es auf ging zum Erntedankgottesdienst mit einem schwerbeladenen Karren voller Feldfrüchte, für die es demütig zu danken galt.
Hinten saß sie.
Ihre Füße wippten und baumelten in der Luft.
Denselben Zopf trug sie später bei der Wehrmacht in den Zelten der Lazarette Nacht für Nacht, von Notoperation zur Amputation und wieder zurück. Und bei denjenigen, bei de-nen jede Hilfe sicher vergeblich sein würde, als für sie nichts weiter zu tun war, außer auf ihr leeres Bett zu warten, setzte sie sich an ihre Lager und summte für sie die alten Lieder. Sie lächelten aus ihren lebensfernen Zwiespalt, manche ein letztes Mal vor ihrer großen Heimkehr, wie sie selbst in ihren wenigen der Zeit mühsam abgerungenen Stunden Schlaf lächelte, wenn Splitter ihrer Heimat in den Träumen plötzlich wie Funken aufstieben und ebenso rasch wieder vergingen. Manchmal schrieb sie diese Träume gleich auf, um auch später noch zu wissen, dass es wahr war.
Hier, jenseits der Wendensteine, lernte sie die Aufmärsche, die Siegeslieder und die Stümpfe der Landser kennen. Sie lernte Deutschland kennen. In den Bomben- und Bunkernächten standen sie reglos zusammen, Ärzte und Schwestern gleichermaßen. Sie lauschten in die eigene Angst hinein, während die Bomben im Feld tiefe Krater rissen, und im Hirn Leerstellen erzeugten, die spätere Erinnerungen unmöglich machen sollten. Eine Andere fehlte in einer solchen Nacht ohne Wiederkehr in die Irre. Aus Fernen und aus Tie-fen lud sie mit einladenden Gesten ein, es ihr gleich zu tun. Sie riss sich das schwere Tuch vom Leib, ruderte und tanzte lauthals lachend, teils entblößt über den Platz, weil sie glaubte, in einem See voll Blut zu schwimmen, aber das war wieder eine ganz andere Geschichte. Und immer dann, wenn sie ihrem Zusammenbruch nahe war, sich ihr Rücken beugte unter der Last von Säcken voller Amputate, erinnerte sie sich an die deutlich unterschiedene Welt der Jugend oder daran, dass sie doch alle nur gekrümmte Menschen hier auf Erden waren.
Wie ihre Schwester erlernte sie den Beruf der Krankenschwester in den Dreißiger Jahren. Das Blutgerinnsel einer ganzen Generation breitete sich gerade aus, trieb wie eine Egge tief durch das alte Land, riss es auf und hackte die Wurzeln an das Tageslicht, kehrte alles Vertraute blindlings um, bevor es in tausend Stücke zerbrach wie ein blinder Spiegel. Sie lernte bei der Diakonie, ihre Schwester bei den Nazis, bei der sie auch ein Stückweit vor-wärts kam. So weit zumindest, dass sie während des Krieges -die Familie war inzwischen ins industriell blühende Ruhrgebiet gezogen- ihre Mutter mit eigentlich schier unerschwinglichem Zahnersatz versorgen konnte.
Und nach all diesen Reden brach die Erinnerung plötzlich wieder auf: als die Schwester 1943 an Schwindsucht starb, dreiundzwanzigjährig, stand sie bei der Beisetzung in zugewiesener hinterster Reihe vor dem Grab. Die ersten Reihen waren der Nazischwesternschaft vorbehalten, sodass die letzte lichterfüllte Formel, die auf den eichenen Sarg fiel, ein dreifaches „Sieg Heil“ war. Erst dann folgten Familie, Fürbitten, Blumen über Blumen und ein retournierter Feldpostbrief. Ja, damals wurde sie sogar im Elternhaus im größten Raum unter dem Portrait Hitlers aufgebahrt, zwei kräftige weiße Kerzen leuchteten ihr auf dem letzten Weg bei Tag und in der Nacht heim. Sie wickelte die Männer um einen jeden ihrer Finger, ohne sich jemals für den Einen entscheiden zu wollen und verschob ihre Wahl auf die Zukunft, die nun bis in alle Ewigkeit verschwamm. Sie war die Temperamentvolle, die Zielstrebige und wusste immer, was zu tun war. Jetzt lag sie schweigend da, ganz ruhig. Draußen an der Hoftür nagelte man schwarzes Tuch auf das Holz zum Zeichen des anwesenden Todes in diesem Haus. Sie aber durfte weiterleben.
Die Lastwagenfahrer wussten, wer wichtig war für das Reich. Sie zog ihre Schwesternhaube tief ins Gesicht und noch am gleichen Tag fuhr sie nach der Beerdigung per Anhalter zurück ins Schwesternwohnheim nach Witten.
„So war das halt und nicht anders!“ Jetzt endlich konnte sie darüber lächeln, wie kalt, dass das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gefrorenes glich. Sie stach mit der Kuchengabel in eine herrenlos liegengebliebene Pflaume, bevor sie erneut zur Rede ansetzte.
Dann, nach dem Krieg wurde es allmählich besser. Heirat mit einem Bergmann, der noch im Streb die Kohle brach, das erste Auto eine Isetta, dann ein NSU, ein Schnellkochtopf, eine drei Zimmer Wohnung und die Fahrten in den Norden zur See. Immer wieder dieser Sog zur See. Immer und immer wieder nach Büsum, zum Greetsieler Nacken, ins Dukegat, zu den Westfriesischen Inseln und danach die Jahre hangelten sie sich auf Zeltplätzen und in Ferienwohnungen die niederländische Küste entlang. Wanderungen im Watt, nicht nur auf der Suche nach Strandgut. Dann die Wochenenden in Rotterdam, in Bremen und Hamburg. Den ersten Matjes hatten sie gierig verschlungen und die alte Reiferbahn hunderte von Metern abgeschritten. An der Kaimauer hatten sie über dem Brack gestanden, still und regungslos der Blick aufs Meer und den Sirenen einfahrender Schiffe gelauscht.
Jahre der Gleichmut. Jahre der Demut.
„So ein Verrückter war das. Manchmal war er so richtig närrisch und immer auf Trab.“ Als sie sich kennen lernten, fehlte er auf keiner Feier, spielte Akkordeon, ein kleines Rotes mit Lederbesatz und Perlmutteinlagen, sodass der Bierschaum im Glas verstört erzitterte. Später zeigte er ihr, wie man die noch grünen Pflaumen mit einer Zwille weit übers Land schoss, sammelte meist eine Schar rotziger Kinder um sich beim Baden am Kanal, bediente sich frank und frei in des Nachbars Garten und verschonte mit seinen Blicken nicht einmal die fremden Kochtöpfe der Nachbarschaft.
Er kam niemals zur Ruhe, konnte selten lange sitzen, war immer in Bewegung, immer auf dem Weg, getrieben nach vorn, wohin auch immer, sogar nachts wachte er mindestens einmal vor lauter Albdruck auf, saß einfach da, ratlos fragend und stierte fassungslos in die Dunkelheit, so als verstünde er ihre Schwere nicht. Und sie zückte das Portrait eines jungen Soldaten eingebettet in einem Brief von der Front. Welk das Papier, feucht die Oberfläche und verworfen.
Sie wendete ihren Kopf, ihre Augen blickten streng und starr in die Ferne jenseits des Fensters. „Das hier, das ist die Stele“, und sie holte ein weiteres Bild aus ihrer Handtasche hervor. Die Stele, in der die verbrannten Überreste ihres Mannes Platz fanden. Für dreißig Jahre hatte sie im voraus bezahlt. „Da ist noch Platz für mich. Mein Eigenheim!“ Vor wenigen Wochen ging sie mit ihm den letzten Weg, sie fühlte nichts, nur die Leere an ihrer Seite. Der Himmel riss auf und gab nur kurz die wärmende Sonne frei. Sie ging den Weg zur Kapelle hinauf und ringsherum diese unerwartete Stille. Drei Vögel kreisten geduldig am Himmel, die nach der Beisetzung in die Winde aller Richtungen zerstieben.
Wie still es plötzlich war.
Sie rührte die gewohnten zwei Teelöffel Zucker viel zu lange in die volle Tasse ein, aber Zeit, wenn es auch nur das war, wenn es auch das einzige überhaupt war, das ihr verblieb, hatte man hier ganz gewiss. Sie wuchs nun wieder der schwarzen Erde ihrer Jugend entgegen. Geschrumpft und gekrümmt saß sie am Tisch im Aufenthaltsraum des Altersheimes. Ein leichter Altersbuckel trat unter dem grünkarierten Kleid hervor. Manchmal, hin und wieder, so wie heute, suchte sie diesen betriebsamen Ort auf, legte sich ein dickes Polster zur Erhöhung auf den Stuhl, um einen Kaffee einzunehmen und um Ablenkung zu schaffen aus dem trüben Einerlei des Altersalltages.
Noch gehörte sie nicht hierher, hier in diesem flüchtigen Wartesaal, dachte sie, glaubte sie, sagte sie, so ganz forsch, das sich einem Zuhörer kaum ein Zweifel ernstlich einstellen mochte. Ihr angestammter Platz war eine Altenwohnung drüben am knappen Saum einer Lichtung. Nur zu den Mahlzeiten am Mittag, drei Menüs zur Auswahl, aß sie regelmäßig hier und reihte sich zum Vertreib der Zeit zwischen den Tischen der wirklich Alten ein. Blieb einmal ein Platz leer, fehlten die sonst so bemühten Wortverbände, versagte die Sprache und alle Redseligkeit.
Aber heute hatte sie jemanden zu Besuch, jemanden, mit dem sie mal ein offenes Wort sprechen konnte, was ihr hier mit den wirklich Alten unmöglich erschien, weil die alten Plagegeister doch nur um Aufmerksamkeit heischten für ihre Krankheiten. Allmählich wurde es Herbst. Die sonnenerfüllten Tage wurden seltener. Regen lag in der Luft. Jetzt war der dicke lange Zopf und das rote Haar verschwunden, lange schon dem Grauen gewichen, auf Daumenbreite gestutzt. Grau und haltlos, drahtig und hilflos stand es ab.
Wenige Stunden später, am Abend, sitzt sie wieder allein und versinkt in einer viel zu großen Couch. Sie sitzt allein im Mittelpunkt, den Überresten der Vergangenheit gegenüber: Betriebsurkunden ihres Mannes, Sportabzeichen, Muscheln, beleuchtete Korallen und getrocknete Seesterne. Die grünverglaste Positionslampe eines Nordseekutters leuchtet mit vierzig Watt über dem Fernseher, über dessen Wert und Unwert sie längst eine gleichgültige Haltung angenommen hat. Es vertreibt halt die Gedanken, überbrückt die Zeit des Wartens bis zum Schlaf, manchmal auch bis zum nächsten Morgen, wenn sie wieder einmal seitlich wegsackt.
Die sechsundachtzigjährige Edith W.
Ein Portrait.
Pflaumenkuchen mochte sie als Kind schon gern.
Sie schmunzelte und die Augen verengten sich zu dünnen Sehschlitzen wie man es nur gewohnt ist bei dem Blick in gleißendes Sonnenlicht. Damals in Ostpreußen waren es die verwachsenen, mit Schrunden am Stamm versehenen alten Bäume die besonders aromatische Früchte hervorbrachten. Und wie es in der Küche im Altweibersommer roch . . .
„Kindheit das war was!“, ließ sie mit aller Bestimmtheit wissen und klopfte die Gabel bes-tätigend auf den Tellerrand. Kindheit war vor allem Weite, niemals enden wollendes Blau, kartoffelbeladene Pferdegespanne, die über holprige Feldwege wackelten, verbunden mit Erinnerungen an Geräusche, Laute, an das Rufen der Mutter über die sonnenvergleißten Felder, an den Geruch, der entstand, wenn das Fallobst in unermüdlichen Stunden zu Kompott verarbeitet wurde. Die Tage, an denen alle Landweiber gemeinsam noch spät am Abend um den Küchentisch saßen und redeten, während Pflaumenkuchenbleche in den heißen Ofen verschwanden, den Duft von Pflaumen preisgaben und das Aroma von zerschmelzenden Zimtzucker in ihre Welt sanft verströmte. Kindheit war auch die Zeit, in der ihre roten langen Haare zu einem dicken Zopf zusammengeflochten wurden, wenn es auf ging zum Erntedankgottesdienst mit einem schwerbeladenen Karren voller Feldfrüchte, für die es demütig zu danken galt.
Hinten saß sie.
Ihre Füße wippten und baumelten in der Luft.
Denselben Zopf trug sie später bei der Wehrmacht in den Zelten der Lazarette Nacht für Nacht, von Notoperation zur Amputation und wieder zurück. Und bei denjenigen, bei de-nen jede Hilfe sicher vergeblich sein würde, als für sie nichts weiter zu tun war, außer auf ihr leeres Bett zu warten, setzte sie sich an ihre Lager und summte für sie die alten Lieder. Sie lächelten aus ihren lebensfernen Zwiespalt, manche ein letztes Mal vor ihrer großen Heimkehr, wie sie selbst in ihren wenigen der Zeit mühsam abgerungenen Stunden Schlaf lächelte, wenn Splitter ihrer Heimat in den Träumen plötzlich wie Funken aufstieben und ebenso rasch wieder vergingen. Manchmal schrieb sie diese Träume gleich auf, um auch später noch zu wissen, dass es wahr war.
Hier, jenseits der Wendensteine, lernte sie die Aufmärsche, die Siegeslieder und die Stümpfe der Landser kennen. Sie lernte Deutschland kennen. In den Bomben- und Bunkernächten standen sie reglos zusammen, Ärzte und Schwestern gleichermaßen. Sie lauschten in die eigene Angst hinein, während die Bomben im Feld tiefe Krater rissen, und im Hirn Leerstellen erzeugten, die spätere Erinnerungen unmöglich machen sollten. Eine Andere fehlte in einer solchen Nacht ohne Wiederkehr in die Irre. Aus Fernen und aus Tie-fen lud sie mit einladenden Gesten ein, es ihr gleich zu tun. Sie riss sich das schwere Tuch vom Leib, ruderte und tanzte lauthals lachend, teils entblößt über den Platz, weil sie glaubte, in einem See voll Blut zu schwimmen, aber das war wieder eine ganz andere Geschichte. Und immer dann, wenn sie ihrem Zusammenbruch nahe war, sich ihr Rücken beugte unter der Last von Säcken voller Amputate, erinnerte sie sich an die deutlich unterschiedene Welt der Jugend oder daran, dass sie doch alle nur gekrümmte Menschen hier auf Erden waren.
Wie ihre Schwester erlernte sie den Beruf der Krankenschwester in den Dreißiger Jahren. Das Blutgerinnsel einer ganzen Generation breitete sich gerade aus, trieb wie eine Egge tief durch das alte Land, riss es auf und hackte die Wurzeln an das Tageslicht, kehrte alles Vertraute blindlings um, bevor es in tausend Stücke zerbrach wie ein blinder Spiegel. Sie lernte bei der Diakonie, ihre Schwester bei den Nazis, bei der sie auch ein Stückweit vor-wärts kam. So weit zumindest, dass sie während des Krieges -die Familie war inzwischen ins industriell blühende Ruhrgebiet gezogen- ihre Mutter mit eigentlich schier unerschwinglichem Zahnersatz versorgen konnte.
Und nach all diesen Reden brach die Erinnerung plötzlich wieder auf: als die Schwester 1943 an Schwindsucht starb, dreiundzwanzigjährig, stand sie bei der Beisetzung in zugewiesener hinterster Reihe vor dem Grab. Die ersten Reihen waren der Nazischwesternschaft vorbehalten, sodass die letzte lichterfüllte Formel, die auf den eichenen Sarg fiel, ein dreifaches „Sieg Heil“ war. Erst dann folgten Familie, Fürbitten, Blumen über Blumen und ein retournierter Feldpostbrief. Ja, damals wurde sie sogar im Elternhaus im größten Raum unter dem Portrait Hitlers aufgebahrt, zwei kräftige weiße Kerzen leuchteten ihr auf dem letzten Weg bei Tag und in der Nacht heim. Sie wickelte die Männer um einen jeden ihrer Finger, ohne sich jemals für den Einen entscheiden zu wollen und verschob ihre Wahl auf die Zukunft, die nun bis in alle Ewigkeit verschwamm. Sie war die Temperamentvolle, die Zielstrebige und wusste immer, was zu tun war. Jetzt lag sie schweigend da, ganz ruhig. Draußen an der Hoftür nagelte man schwarzes Tuch auf das Holz zum Zeichen des anwesenden Todes in diesem Haus. Sie aber durfte weiterleben.
Die Lastwagenfahrer wussten, wer wichtig war für das Reich. Sie zog ihre Schwesternhaube tief ins Gesicht und noch am gleichen Tag fuhr sie nach der Beerdigung per Anhalter zurück ins Schwesternwohnheim nach Witten.
„So war das halt und nicht anders!“ Jetzt endlich konnte sie darüber lächeln, wie kalt, dass das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gefrorenes glich. Sie stach mit der Kuchengabel in eine herrenlos liegengebliebene Pflaume, bevor sie erneut zur Rede ansetzte.
Dann, nach dem Krieg wurde es allmählich besser. Heirat mit einem Bergmann, der noch im Streb die Kohle brach, das erste Auto eine Isetta, dann ein NSU, ein Schnellkochtopf, eine drei Zimmer Wohnung und die Fahrten in den Norden zur See. Immer wieder dieser Sog zur See. Immer und immer wieder nach Büsum, zum Greetsieler Nacken, ins Dukegat, zu den Westfriesischen Inseln und danach die Jahre hangelten sie sich auf Zeltplätzen und in Ferienwohnungen die niederländische Küste entlang. Wanderungen im Watt, nicht nur auf der Suche nach Strandgut. Dann die Wochenenden in Rotterdam, in Bremen und Hamburg. Den ersten Matjes hatten sie gierig verschlungen und die alte Reiferbahn hunderte von Metern abgeschritten. An der Kaimauer hatten sie über dem Brack gestanden, still und regungslos der Blick aufs Meer und den Sirenen einfahrender Schiffe gelauscht.
Jahre der Gleichmut. Jahre der Demut.
„So ein Verrückter war das. Manchmal war er so richtig närrisch und immer auf Trab.“ Als sie sich kennen lernten, fehlte er auf keiner Feier, spielte Akkordeon, ein kleines Rotes mit Lederbesatz und Perlmutteinlagen, sodass der Bierschaum im Glas verstört erzitterte. Später zeigte er ihr, wie man die noch grünen Pflaumen mit einer Zwille weit übers Land schoss, sammelte meist eine Schar rotziger Kinder um sich beim Baden am Kanal, bediente sich frank und frei in des Nachbars Garten und verschonte mit seinen Blicken nicht einmal die fremden Kochtöpfe der Nachbarschaft.
Er kam niemals zur Ruhe, konnte selten lange sitzen, war immer in Bewegung, immer auf dem Weg, getrieben nach vorn, wohin auch immer, sogar nachts wachte er mindestens einmal vor lauter Albdruck auf, saß einfach da, ratlos fragend und stierte fassungslos in die Dunkelheit, so als verstünde er ihre Schwere nicht. Und sie zückte das Portrait eines jungen Soldaten eingebettet in einem Brief von der Front. Welk das Papier, feucht die Oberfläche und verworfen.
Sie wendete ihren Kopf, ihre Augen blickten streng und starr in die Ferne jenseits des Fensters. „Das hier, das ist die Stele“, und sie holte ein weiteres Bild aus ihrer Handtasche hervor. Die Stele, in der die verbrannten Überreste ihres Mannes Platz fanden. Für dreißig Jahre hatte sie im voraus bezahlt. „Da ist noch Platz für mich. Mein Eigenheim!“ Vor wenigen Wochen ging sie mit ihm den letzten Weg, sie fühlte nichts, nur die Leere an ihrer Seite. Der Himmel riss auf und gab nur kurz die wärmende Sonne frei. Sie ging den Weg zur Kapelle hinauf und ringsherum diese unerwartete Stille. Drei Vögel kreisten geduldig am Himmel, die nach der Beisetzung in die Winde aller Richtungen zerstieben.
Wie still es plötzlich war.
Sie rührte die gewohnten zwei Teelöffel Zucker viel zu lange in die volle Tasse ein, aber Zeit, wenn es auch nur das war, wenn es auch das einzige überhaupt war, das ihr verblieb, hatte man hier ganz gewiss. Sie wuchs nun wieder der schwarzen Erde ihrer Jugend entgegen. Geschrumpft und gekrümmt saß sie am Tisch im Aufenthaltsraum des Altersheimes. Ein leichter Altersbuckel trat unter dem grünkarierten Kleid hervor. Manchmal, hin und wieder, so wie heute, suchte sie diesen betriebsamen Ort auf, legte sich ein dickes Polster zur Erhöhung auf den Stuhl, um einen Kaffee einzunehmen und um Ablenkung zu schaffen aus dem trüben Einerlei des Altersalltages.
Noch gehörte sie nicht hierher, hier in diesem flüchtigen Wartesaal, dachte sie, glaubte sie, sagte sie, so ganz forsch, das sich einem Zuhörer kaum ein Zweifel ernstlich einstellen mochte. Ihr angestammter Platz war eine Altenwohnung drüben am knappen Saum einer Lichtung. Nur zu den Mahlzeiten am Mittag, drei Menüs zur Auswahl, aß sie regelmäßig hier und reihte sich zum Vertreib der Zeit zwischen den Tischen der wirklich Alten ein. Blieb einmal ein Platz leer, fehlten die sonst so bemühten Wortverbände, versagte die Sprache und alle Redseligkeit.
Aber heute hatte sie jemanden zu Besuch, jemanden, mit dem sie mal ein offenes Wort sprechen konnte, was ihr hier mit den wirklich Alten unmöglich erschien, weil die alten Plagegeister doch nur um Aufmerksamkeit heischten für ihre Krankheiten. Allmählich wurde es Herbst. Die sonnenerfüllten Tage wurden seltener. Regen lag in der Luft. Jetzt war der dicke lange Zopf und das rote Haar verschwunden, lange schon dem Grauen gewichen, auf Daumenbreite gestutzt. Grau und haltlos, drahtig und hilflos stand es ab.
Wenige Stunden später, am Abend, sitzt sie wieder allein und versinkt in einer viel zu großen Couch. Sie sitzt allein im Mittelpunkt, den Überresten der Vergangenheit gegenüber: Betriebsurkunden ihres Mannes, Sportabzeichen, Muscheln, beleuchtete Korallen und getrocknete Seesterne. Die grünverglaste Positionslampe eines Nordseekutters leuchtet mit vierzig Watt über dem Fernseher, über dessen Wert und Unwert sie längst eine gleichgültige Haltung angenommen hat. Es vertreibt halt die Gedanken, überbrückt die Zeit des Wartens bis zum Schlaf, manchmal auch bis zum nächsten Morgen, wenn sie wieder einmal seitlich wegsackt.