Wendys Leiden

Text

von  Zeder

Die Schräge des Daches über uns könnte sich ins Unendliche ausbreiten, ich kann nicht sagen, wie weit sie läuft, vielleicht aus unserem Universum hinaus. Vielleicht ist sie eine Treppe in eine andere Welt - und wir liegen darunter -,  ich darf nur meine Augen keinen Millimeter weiter öffnen und um keinen Millimeter bewegen. Es ertönen Geräusche von der anderen Seite der Treppe, glaube ich, vielleicht fliehen Menschen.

Meine Wangen fühlen sich ganz feucht und warm an, vor lauter Tränen, von innen heraus, nicht äußerlich, sie drücken von innen und füllen sich immer mehr mit Flüssigkeit, die hinaus zu drängen versucht - ich will aber nicht, ich fühle gerade eine Hand, die Linien dieser Hand, die Nägel, Poren, und ich versuche so sanft zu sein, dass mich diese Hand nicht bemerkt, was unmöglich sein sollte, denke ich, weil alles um mich herum so kribbelt, dass ich glaube, die ganze Welt mit meiner Energie versorgen zu können.

Wir liegen auf einem fremden Dachboden in einem fremden Haus in einer fremdem Stadt, irgendwo zwischen Gerümpel. Links ein Schaukelpferd mit Strohhaaren, voll von Spinnweben und Staub. Ich schubse es ab und an ein wenig, es schaukelt selig vor und zurück, dreimal, kommt zur Ruhe. Ich stoße wieder mit meinem Zeigefinger und versuche mir vorzustellen, dass meine Bewegung aus der Hand in meiner Hand kommt, dass die Bewegung weitergeleitet wird, aus diesem Kopf neben mir, durch meinen Körper hindurch, in dieses Schaukelpferd hinein. Die Bewegung reibt sich dann an der Luft und am verstaubten Holzboden ab. Dann Stillstand.
Wir sind bewegungslos.

Aus dem Dachfenster erblickst du tausend Sterne. Am Rande des Fenster klebt vereister Schnee.
Wir haben Winter, Weihnachten vielmehr,
und durch den Boden dringt das Geräusch von Gläsern, die aneinander schlagen, von Erwachsenenlachen und leiser Musik - wir hören nicht heraus, was es ist. Ich bin dankbar dafür, dass wir nicht in ein Haus mit Kindern geraten sind. So ruft nur ein bisschen der Hunger, ein bisschen Kälte an den Wangen, doch der Boden ist warm, die Hitze dringt von unten durch, wir sind in Decken gewickelt, das reicht. Ich glaube sogar, dass es nie schöner gewesen ist.

An einem anderen Weihnachten kannte ich dich noch nicht, ich wusste nichts von fremden Händen, von Liebe, die durch das Herz den ganzen Körper, meine ganze Existenz einnehmen kann. Ich kannte deinen Katzenduft nicht, nicht dein aschgraues Haar, aber ich wusste damals, dass ich mir eine Puppenküche wünsche, die meine Freundin Lisa schon seit ihrem Geburstag im Oktober hatte, und ich wusste nicht, dass diese in spätestens fünf Jahren auf dem Dachboden steht und verstaubt und das Lisa und ich auf der Straße plötzlich mit gesenkten Köpfen aneinander vorbei laufen würden und das schamhafte Ziehen im Bauch völlig zu ignorieren versuchten.
Ich wusste damals nicht, dass das Leben ist, dass die Zeit an den Menschen zieht und zerrt, uns formt oder verformt, uns wahllos Lasten gibt und nimmt, wie Waren im Supermarkt, dass wir am Ende unseres Lebens in der Schlange an der Kasse stehen um die Rechnung zu begleichen, mit uns selbst als Kassierer,
ich wollte damals noch einen Hamster haben, zusammen mit meiner Schwester, einen kleinen, zarten, fröhlich quiekenden Hamster, den wir vier Wochen überfütterten. Nur wenig später dann verdreckte der Käfig und der Hamster hatte Angst vor der lauten Musik in unserem Zimmer und wir waren mit den Gedanken fernab von Füttern und Streicheln und Kümmern, weil es auf den Frühling zu ging. Aus lauter Einsamkeit ist er nur ein dreiviertel Jahr alt geworden, ich fand ihn ganz starr, mir traurigen Augen, es war Herbst.
Heute denke ich, dass ich in meiner Einsamkeit die Rechnung dafür begleiche. Ich stelle mir die Schmerzen im Hamsterherz vor, die Trostlosigkeit, und ich glaube, dass sie kaum anders ist als die in meinem Menschenherzen, und dann bin ich voll Reue. Es ist doch so leicht zusammen zu finden. Man muss nur ehrlich sein, man muss nur die Herzen anderer spüren können, theoretisch.

Wir sind früher vor der Bescherung immer spazieren gegangen, egal welches Wetter war, und meine Mutter konnte aus irgendeinem Grund nicht mit - weil sie Bauchschmerzen hatte vielleicht, oder so etwas, und wenn wir wieder kamen, ist der Weihnachtsmann immer schon da gewesen, gerade wieder durch den Schornstein verschwunden, weil er so viele Familien zu bescheren hat und uns Kindern war das völlig egal - wir saßen schon längst unterm Baum und rissen das bunte Papier von den Spielsachen, zogen und zerrten und hatten keine Zeit für Freude oder Dankbarkeit. Danach waren wir ein bisschen neidisch auf die Sachen der anderen, durchwühlten das übrig gebliebene Papier nach mehr und wurden dafür belächelt. Vor dem Einschlafen überlegten wir, was wir uns im nächsten Jahr wünschen würden.

Ich stoße das Pferd an: vor, zurück, vor, zurück, vor, Stillstand.
Unten im Haus wird es ruhig. Ich gehe an das Fenster und stehe dort so lang, bis alle Lichter in den Nachbarhäusern erloschen sind, dann lege ich mich neben dich und ergreife deine Hand. Ich betrachte die Treppe hinaus aus der Welt, bis mir die Augen zu fallen.
Im Traum stehe ich auf der Treppe und komme nicht voran und nicht zurück. Ich bin festgefroren wie der Schnee am Dachfenster. Durch das Fenster sehe ich dich und du erblickst die Sterne.

(Ich wünsche mir deine Hand halten zu können um die Sterne auch aufzunehmen, durch deine Augen hindurch in mein Herz hinein, wenn ich es selbst nicht kann.)

Als Lisa meine Puppenküche sah, erzählte sie mir von all den Plastiktöpfen, die sie zu Weihnachten bekommen hatte. Ich habe ihr Wendy den Hamster präsentiert und sie hat zu weinen begonnen, weil sie kein Haustier haben darf. Heute vermute ich, dass Lisa die Einsamkeit nicht kennt, wie Wendy es tat, und später ich.
Und ich möchte nichts lieber als dir dort unten auf dem Dachboden all das zu erklären, ich nehme es mir vor, für den Morgen. Für die Zeit, die wir auf einer vereisten Holzbank im Park verbringen und trockene Brötchen mit Käse aus dem Supermarkt essen, ich nehme mir vor bei dem Schaukelpferd zu beginnen, über die Treppe hinaus, zum Traume hin, von Wendys Leiden, zum Tod der Einsamen, zu Lisa und gesenkten Köpfen und Scham im Herzen. Ich forme Sätze im Kopf und nehme es mir vor. Ich kneife die Augen zusammen und hoffe das alles so in mir zu verfestigen, dass es am Morgen von selbst geschieht. Ich nehme es mir vor, es muss nur der richtige Moment, es muss -

Morgens im Park sitzt du und betrachtest die Sterne.
Ich füttere Tauben und zwischendurch mich und spüre wie meine Füße am Boden fest frieren.
Gegenüber das Rathaus, ein kleines Mädchen mit braunen Haaren und rotem Schneeanzug, das zum Himmel blickt und lacht, weißer Regen nieselt.

Du fragst mich, was ich geträumt habe.
Ich sage leise, dass ich mich nicht erinnern kann.


Anmerkung von Zeder:

für.

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Kommentare zu diesem Text

Boeni (21)
(27.07.08)
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ungesagt (34)
(27.07.08)
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tausendschön (33)
(28.07.08)
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 Ingmar (02.08.08)
ein wundervoller text, ich meine: ein text voll von wundern.
wundervoll!

ingmar
sillyLilly (45)
(26.08.08)
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 Zeder meinte dazu am 26.08.08:
oha. vielen dank! :)
Melancholic. (31)
(29.08.08)
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Samjessa (28)
(20.09.08)
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 Zeder antwortete darauf am 21.09.08:
ich bedanke mich auch!
scurra (27)
(13.11.08)
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 Zeder schrieb daraufhin am 13.11.08:
ja. das denke ich auch über diesen text. er ist direkter als die anderen, man muss/kann nicht ganz so viel herauslesen, er hat weniger bilder und ist sehr stark "ich", mit meinen blockaden und auch mit meiner art in der welt zu fließen.
"einer deiner besten neuen texte. auch wenn ich sie alle liebe und manche mich mehr ansprechen." so gehts mir auch.
träume. und der wunsch sich vollständig mit zu teilen. der wunsch nach nicht mensch sein, wegen der begrenzung. aber ja: die freiheit ist trotzdem da. man kann ja auch nur was überwinden, wenn da was zum überwinden ist. ha.
es ist schön, dass du ihn gelesen hast.
(Antwort korrigiert am 13.11.2008)
sim (32)
(24.01.09)
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 Zeder äußerte darauf am 24.01.09:
:) vielen dank, sim!
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