Frühwerk: Nachtfahrt

Erzählung zum Thema Abschied

von  Ephemere

Das Display der Digitaluhr zeigte 00:12, als mich das Verlangen überkam, in meinen Wagen zu steigen und loszufahren. Nicht irgendwohin. Es befiel mich vielmehr diese idiotische Highway-Romantik, als ich an einem Sonntag kurz nach Mitternacht auf dem Balkon meines Jenaer Appartements stand und über die Plattenbausiedlungen schaute. Sogar die Werbesprüche hatten eine Schlafpause eingelegt, nur auf der Ausfallstraße rasten noch einige Unermüdliche dahin.
Einen Moment erwog ich, nachzugeben, mich wieder anzuziehen, die Schlüssel zu nehmen und mit meinem kleinen Fiat die Straßen abzufahren. Einfach rauf und runter. Womöglich auch noch in den Wald, auf einer der vielen kleineren Routen zu Dörfern, die Namen wie Grenzjena oder Gernewitz tragen. Auf jeden Fall aber so, dass ich die 80er Zonen mitnehmen würde.

Ich fahre gerne Auto, es war mir schon immer – auch als ich klein war und von einer eigenen Lizenz nur träumen konnte – ein Mittel, mich zu sammeln; ein Ort der Geborgenheit, fast der Intimität. Obwohl der 13 Jahre alte Kleinwagen jeder Innenraumschallbelastungsgrenze trotzte, verband ich mit einsamen Fahrten in der Nacht immer eine Art Jagdhütten-Atmosphäre.
Sobald man mir den ersehnten Schein überreicht hatte, hatte ich jede fadenscheinige Begründung genutzt – wie etwa die, man müsse den Motor wieder einmal richtig hochdrehen – um sinn- und ziellos vor mich hinzufahren. Ich genoss das Gefühl, mich treiben zu lassen, ohne die Strecke zum Weg machen zu müssen.
Oft bemerkte ich erst unterwegs, dass die Fahrt einen Bestimmungsort hatte, der mir nie in die wachen Sinne gekommen wäre. Vorzugsweise 30 Meter vor Autobahnabfahrten steuerten meine Hände den metallicblauen Uno zu den seltsamsten Entscheidungen, wie zum Beispiel die, meine Freundin aufzusuchen, um mit ihr übers Land zu fahren, die Köpfe aus dem Schiebedach zu recken und jedem Passanten "Määääh" zuzublöken.
Inzwischen war das Schiebedach kaputt und abgeklebt und meine Freundin redete nicht mehr mit mir. Seit über einer Woche; aber das ist eine andere Geschichte.

Bereits als Achtjähriger hatte ich mit meinem Rad die Gegend um meinen Geburtsort herum durchstreift, um mich an jeder neu entdeckten Straße, Kirche oder Eisdiele zu erfreuen; doch heute fuhr ich nicht. Ich redete mir ein, ich sei zu klamm mit den 200 Mark, die mir für die restlichen 2 1/2 Wochen des Oktobers verblieben waren, als dass ich das teure Superbenzin für eine solche Kinderei vergeuden könne.
Obwohl das stimmte, sprachen zwei andere Erwägungen eher gegen eine nächtliche Odyssee. Erstens war ich zu träge, nach einem Bad mit Edelbitterschokolade und Champagner noch einmal die Rüstung anzulegen. Zweitens war ich leider etwas erwachsener geworden: Ich fürchtete, ich könnte nach oder schon während der Fahrt bemerken, dass ich vor den Ängsten, die mich verfolgten, nicht davonfahren konnte; dass ich müde war und Zeit totschlug, um nicht Leere finden zu müssen.
In Kuba tanzen sie die ganze Nacht, hatte Birgit erzählt, selbst unter der Woche. Birgit ist eine Freundin der Familie und ihr Mann, Réné, war gerade von einer Tagung in Havanna zurückgekehrt.
Auch wir, einige gute Freunde, meine WG-Genossin und ich, tanzten die letzte Nacht hindurch, fuhren in die Irre und stellten fest, dass auch nachts um vier noch unerwartet viel Verkehr in der ostdeutschen Kreisstadt herrschte. Ich fühlte mich die ganze Zeit schal, war mir bewusst, dass ich mich lieber in sinnlosen Aktionismus stürzte, als mich mit mir selbst konfrontieren zu müssen.
Vielleicht haben die Kubaner besonders viel zu verdrängen.

Mit Wehmut dachte ich zurück an den ersten großen und womöglich auch letzten Urlaub, den ich mit meiner Freundin verbracht hatte. Wir waren in Mimizan-Plage an der südfranzösischen Atlantikküste gewesen und obwohl der Aufenthalt alles andere als ungestört und friedvoll verlaufen war, hatte ich dort zum letzten Mal das Gefühl innerer Balance verspürt. Wir hatten eine günstige Wohnung direkt am Strand angemietet. Stieg man von dort aus ans Meer, bot sich einem ein Erfurcht gebietender Anblick: Das schwarze Meer rauschte unter einer glasklaren Galaxie, während ein Leuchtturm Lichtkegel durch die Finsternis jagte. Ich ging oft in Gedanken dorthin zurück, speziell nach Einbruch der Dunkelheit; doch schmerzte es jedes Mal, an diesem Ort zu verweilen: ein vorher-nachher Bild, das mich daran erinnerte, mit der Unschuld unserer Beziehung auch ein Stück von mir verloren zu haben.

Hier war der Himmel wie in Heidelberg, wo ich aufgewachsen bin: leicht geblässt und milchig von den Lichtern der Stadt, auch wenn es nicht für jene orangefarbene Corona reichte, die Millionenstädte zu überspannen pflegt.
Es schien, als hätte ich mit der Klarheit des Himmels auch die Ungetrübtheit meiner Kindheit hinter mir gelassen. Statt dem Zirpen der Zikaden hörte ich einen Schwertransporter über die Autobahn rumpeln.
Ich atmete tief durch, vertrieb die Schleier der Melancholie und breitete die Flügel aus, stelle mich dem Wind neuer Situationen, die mich zu anderen Ufern führen würden oder vielleicht auch nur zurück zu mir selbst. Mit Vorliebe aber zu jener stillen Mole in Südfrankreich, die für mich untrennbar mit dem Gefühl verbunden war, glücklich zu sein.
Vielleicht wartet sie dort auf mich, einen sinnlos Daherreisenden, der zu spät merkte, dass jeder Aufbruch einen Abschied bedingt.

Sei es auch nur, um den Motor hochzudrehen.


Anmerkung von Ephemere:

Das ist die zweite "ernsthafte" Kurzgeschichte, die ich je (als halbwegs erwachsener Mensch) geschrieben habe - von 2001. Mir gefällt sie immer noch ganz gut, vielleicht auch eher aus Nostalgie.

UPDATE: Jetzt gibt es sie nochmal in der Version 2.0 - gründlich redigiert.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (27.07.08)
Ok, ich kopier mal deinen Text hier rein und schreibe in Klammern unter jeden Abschnitt, was mir dazu einfällt, ja?
Na, dann grüß ich dich mal vorsichtshalber vorher lieb.
Sabine


Das Display der Digitaluhr zeigte 00:12, als mich das unbändige Verlangen überkam, in meinen Wagen zu steigen und loszufahren. Nicht irgendwohin. Es packte mich vielmehr diese idiotische Highway-Romantik, als ich an einem Sonntag kurz nach Mitternacht auf dem Balkon meines Jenaer Appartements stand und über die Plattenbausiedlungen schaute, sah, wie sogar die Werbesprüche eine Schlafpause eingelegt hatten, während auf dem kräftigen Band der Straße noch einige Unermüdliche mit ihren Automobilen dahinrasten. Wie ein ruhiger Fluss kam mir dieser Anblick vor und dennoch voller Kraft. Einen langen unentschiedenen Moment erwog ich, dem Trieb nachzugeben, mich wieder anzuziehen, die Schlüssel zu nehmen und mit meinem kleinen Fiat die Straße abzufahren. Einfach rauf und runter. Womöglich aber auch noch in den Wald, auf einer der vielen kleineren Straßen zu einem jener Dörfer, die Namen wie Grenzjena oder Gernewitz tragen. Auf jeden Fall aber so, dass ich die 80er Zonen mitnehmen würde.
(Zu dick aufgetragen: unbändiges Verlangen/packte mich/Trieb, direkt hintereinander schaute/sah, Unermüdliche/langer, ruhiger Fluss/langer, unentschiedener Moment. Alles sehr ausschweifend, aber es fängt durch die Überbetonung die Stimmung nicht wirklich ein. Der Text ist relativ kurz, daher ist es eher ungünstig, eine lange Einleitung zu schreiben, lieber versuchen, den Leser gleich zu packen, also Spannung aufbauen. Achtung: Du beginnst deine Story in der Vergangenheit, um am Ende, ohne dass dazwischen wirklich etwas geschieht, bzw ein zeitlicher Ablauf sichtbar wird, in der Gegenwart zu landen. )

Ich fahre gerne Auto, es diente mir schon immer (auch als ich klein war und von einer eigenen Lizenz nur träumen konnte) als
(In einer Kurzgeschichte wirken Klammern eher störend, also "Eingeschobenes" lieber durch Kommata absetzen - oder durch Gedankenstriche. Außerdem hast du hier innerhalb weniger Worte 2 x "als" benutzt, da gibt es bestimmt elegantere Lösungen.)

angenehmes Mittel, mich zu sammeln; (ein Semikolon trennt zwei etwa gleich "starke", ganze Sätze voneinander, bedeutet eine eine stärkere Trennung als ein Komma, jedoch nicht die strikte inhaltliche Trennung, die ein Punkt vornehmen würde.)

als Ort der Geborgenheit, fast der Intimität. Obwohl der 13 Jahre alte Kleinwagen jeder Innenraumschallbelastungsgrenze trotzt (Präsens?),
verband ich mit einsamen Fahrten in der Nacht immer eine Art Jagdhütten-Atmosphäre. Sobald ich den ersehnten Schein in den Händen hielt, nutzte ich jede fadenscheinige Begründung – wie etwa die, man müsse den Motor wieder einmal richtig ausdrehen – um sinn- und ziellos vor mich hinzufahren. Manchmal fuhr ich auch ohne Ziel los (Wiederholung des Sinn- und Ziellosen ausbauen),
um zu bemerken, dass die Fahrt einen Bestimmungsort hatte, der mir nie in die wachen Sinne gekommen wäre. Vorzugsweise 30 Meter vor Autobahnabfahrten steuerten meine Hände den metallicblauen Uno zu den seltsamsten Entscheidungen.(hier lieber ein Komma)
Wie zum Beispiel die, meine Freundin aufzusuchen, um mit ihr übers Land zu fahren, die Köpfe aus dem Schiebedach zu recken und jedem Passanten "Määääh" zuzublöken.
Inzwischen ist das Schiebedach kaputt und abgeklebt und meine Freundin redet nicht mehr mit mir. Seit über einer Woche; aber das ist eine andere Geschichte.
Bereits als Achtjähriger habe ich mit meinem Rad die Gegend um meinen Geburtsort herum im 20 Kilometer-Radius durchstreift, um mich an jeder ziellos neu entdeckten Straße, Kirche oder Eisdiele zu erfreuen.

(Du beginnst deinen Text in der Vergangenheitsform. Warum hier Präsens? Wo ist die chronologische Überleitung?)
Doch heute fahre ich nicht. Ich rede mir ein, ich sei zu klamm mit den 200 Mark, die mir für die restlichen 2 1/2 Wochen des Oktobers verblieben sind, als dass ich auch noch das teuere Superbenzin für solch eine Kinderei vergeuden könne.
Das ist zweifelsfrei richtig, doch sprechen zwei andere Erwägungen eher gegen eine nächtliche Odyssee. Erstens bin ich zu träge, nach einem Bad mit Edelbitterschokolade und Champagner noch einmal die Rüstung anzulegen. Zweitens bin ich leider etwas erwachsener geworden: Ich bilde mir ein, (hier eventuell: nein, ich fürchte mich... ansonsten hakelt's inhaltlich ein bisschen)
fürchte mich, ich könnte nach oder gar schon während der Fahrt bemerken, dass ich vor den Sorgen und Ängsten, die mich momentan verfolgen, nicht davonfahren kann; dass ich müde bin und Zeit totschlage, um nicht Leere finden zu müssen.
In Kuba tanzen sie die ganze Nacht durch, sagt Birgit.
Auch unter der Woche.
Birgit ist eine Freundin der Familie und ihr Mann, Réné, hält sich gerade auf einer Tagung in Havanna auf.
Auch wir, einige gute Freunde, meine WG-Genossin und ich, tanzten die letzte Nacht durch, fuhren in die Irre und stellten schließlich fest, dass auch nachts um vier noch unerwartet viel Verkehr in der ostdeutschen Kreisstadt herrscht. Ich fühlte mich die ganze Zeit schal, spürte, dass ich mich lieber in sinnlosen Aktionismus stürzte, als mich mit mir selbst konfrontieren zu müssen.
Mit Wehmut denke ich zurück an den ersten großen und womöglich auch letzten Urlaub, den ich mit meiner Freundin verbrachte. Wir waren in Mimizan-Plage an der südfranzösischen Atlantikküste und obwohl der Aufenthalt alles andere als ungestört und friedvoll verlief, verspürte ich doch dort zum letzten Mal das Gefühl innerer Balance. Wir hatten eine günstige Wohnung direkt am Strand angemietet. Stieg man von dort aus ans Meer, bot sich einem ein Erfurcht gebietender Anblick: Das schwarze Meer rauschte unter einer glasklaren Galaxie, während ein ferner Leuchtturm Lichtkegel durch die anbetungswürdige Finsternis jagte. Ich gehe oft in Gedanken dorthin zurück, speziell nach Einbruch der Dunkelheit; doch schmerzt es im Moment zu sehr, an dem Ort zu verweilen, an dem ich mit der Unschuld unserer Beziehung auch ein Stück von mir verloren habe.

Hier ist der Himmel wie in Heidelberg, wo ich aufgewachsen bin:
Leicht geblässt und milchig von den Lichtern der Stadt, auch wenn es nicht für jene orangefarbene Corona reicht, die Millionenstädte zu überspannen pflegt.(Nach einem Doppelpunkt nur groß weiterschreiben, wenn ein ganzer Satz, also Subjekt, Prädikat, Objekt, folgt.)
Es scheint, als hätte ich mit der Klarheit des Himmels auch die Ungetrübtheit meiner Kindheit hinter mir gelassen.
Statt dem Zirpen der Zikaden höre ich einen Schwertransporter über die Autobahn rumpeln. Ich atme tief durch, vertreibe die Schleier der Melancholie, breite die Flügel aus und stelle mich dem Wind neuer Situationen, die mich zu anderen Ufern führen werden oder vielleicht auch nur zurück zu mir selbst. Mit Vorliebe aber zu jener stillen Mole in Südfrankreich, die für mich untrennbar mit dem Gefühl verbunden ist, glücklich zu sein.
Vielleicht wartet sie dort auf mich, einen sinnlos Daherreisenden, der zu spät merkte, dass jeder Aufbruch einen Abschied bedingt.
Sei es auch nur, um den Motor auszudrehen. (Motor abstellen, nicht ausdrehen. Hier gibt es ein inhaltliches Problem. Der gleiche Ort, der in der Erinnerung untrennbar mit dem Verlust im vorletzten Absatz und dem Glücksgefühl aus dem letzten Absatz verbunden ist? Hier blickt der Leser nicht so schnell durch, ganz besonders, da keine Geschichte dazu erzählt wird, die Begründung nur angedeutet, aber nicht wirklich geliefert wird. Besser: falls Gefühlswallung, dann entweder oder. Glück oder Verlustgefühl. Der Text entspricht übrigens nicht den Vorgaben für eine Kurzgeschichte. Bei einer Kurzgeschichte wird der Leser üblicherweise ohne jede Einleitung mitten ins Geschehen gestellt, das nur einen sehr kurzen, deutlich befristeten Zeitraum umfasst. Der Erzähler sollte wertungsfrei schreiben, Gefühle u.s.w. sollten den geschilderten Umständen, nicht aber der Meinung/Wertung des Erzählers/eines Protagonisten entnommen werden. Zudem ist für dieses Genre ein offenes, für den Leser selber"weiterspinnbares" Ende nach einem "Showdown", also einem bestimmten, explizit geschilderten Geschehen, typisch. Was du hier schilderst könnte man z.B. unter Kurzprosa oder Erzählung einordnen.)

 Ephemere meinte dazu am 28.07.08:
Danke für diese wirklich detaillierte und konstruktive Kritik. Das Genre habe ich sofort geändert, den Text werde ich die Tage auf Deine Anregungen hin überarbeiten. Er war, wie gesagt, damals eine Art erster Versuch und ich freue mich schon darauf, ihn besser zu machen.
Zwei Anmerkungen noch zu Details der Korrektur: die Änderung der Erzählzeit habe ich bewusst eingebaut, aber ich kann nachvollziehen, dass ich das klarer inszenieren oder weglassen muss, damit es Sinn macht. Und den Motor "ausdrehen" heißt in hohe Drehzahlen gehen...auf Grund der Zweideutigkeit werde ich aber "hochdrehen" o.Ä. schreiben.

 Ephemere antwortete darauf am 01.08.08:
So, obenstehend der Text, nachdem ich Deine Anregungen zu Herzen genommen habe.

 Mutter (07.01.09)
Habe ich gerne gelesen, schön geschrieben ...

 Ephemere schrieb daraufhin am 07.01.09:
Danke - das höre/lese ich gerne. Hab ich ihn also nicht umsonst überarbeitet
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