Wasserbau in Suderburg - Fragment

Innerer Monolog zum Thema Aufbruch

von  Mutter

Wenn ich gewusst hätte, was für merkwürdige Geschöpfe und Wesen mir in der Großstadt begegnen würden, dann wäre ich vermutlich dem Rat meiner Mutter gefolgt und hätte Wasserbau in Suderburg studiert. Seit ich klein war, war das ihre Idee von meinem weiteren Werdegang gewesen.

Nicht, weil sie der Meinung wäre, dass das kulturelle Leben in Suderburg einem pulsierenden Herzschlag gleichkäme, und auch nicht, weil sie fest an die Zukunft der Ingenieursberufe glaubte. Es war ganz einfach so, dass ihre Schwester Hille einen Konditor in Suderburg geheiratet hatte, und ich dort umsonst hätte wohnen können. Und Wasserbau hätte ich studiert, weil man sonst nichts anderes in Suderburg studieren konnte.

Tante Hille hatte ich seit Jahren nicht mehr gesehen, und überhaupt fand ich nicht, dass Hille ein richtiger Name war. Ich hatte also nicht vor, tatsächlich nach Suderburg zu gehen, aus der Provinz in die Provinz.
Stattdessen entschied ich mich, in die Großstadt zu gehen, nachdem ich die Schule beendet hatte, um dort etwas zu studieren. Ich bin immer wieder gefragt worden, was genau ich denn studieren wolle, und werde das immer noch gefragt, und die Antwort ist ebenso einleuchtend wie simpel: das Leben. Ich halte nichts von Stundenplänen, Lehrbüchern und akademischen Lebensläufen. Das hat mir schon in der Schule nicht gepasst, aber dort haben mir ein wenig die Alternativen gefehlt, um einen anderen Weg einzuschlagen. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, dann hätte ich meinen Tisch in der Schule genau neben dem Pult des Lehrer gestellt, und hätte die ganze Stunde nur meine Mitschüler beobachtet – aufmerksame Gesichter, gelangweilte Gesichter, und die Hinterköpfe von denen, die auf den Tischen zusammengesackt waren.

Menschen beobachten ist vermutlich, was man als mein Hobby bezeichnen könnte. In der Innenstadt sitze ich oft stundenlang da, und beschaue mir die Vorbeigehenden. Meistens sind ihre Gesichter im landläufigen Sinn noch nicht einmal besonders interessant, aber die Faszination mit ihnen lässt mich einfach nicht los.
In Gesprächen komme ich deshalb oft in Schwierigkeiten. Es ist normalerweise nicht erlaubt, Leute grundlos anzustarren, ohne dass man Reaktionen wie Scham, Wut oder Verunsicherung hervorruft. Wo ein unbestraftes Ansehen allerdings erlaubt ist, ist in Gesprächen. Wenn einem jemand etwas erzählt, ist es sogar erwünscht, dass man den Leuten direkt und offen ins Gesicht sieht. Diese Gelegenheit nutze ich meist, um meinen eigenen Gedanken über diese Leute nachzuhängen. Wenig problematisch bei mehreren anwesenden Personen, im persönlichen Zwiegespräch manchmal etwas komplizierter, da, je nach Gesprächspartner, häufig Antworten erwartet werden. Antworten, die ich in den meisten Fällen nicht geben kann. Trotzdem gelte ich erstaunlicherweise als guter Zuhörer.

Freunde, von denen ich mich hätte verabschieden müssen, hatte ich allerdings kaum. Ich nehme an, es hat damit zu tun, dass ich zuviel beobachte. Ich bin so gefangen in meinen Betrachtungen, dass ich darüber meist vergesse, selber teilzunehmen. Ein Fehler, den Freunde selten verzeihen. Mit den meisten Leuten meines Jahrgangs in der Schule hatte ich eine Art ‚Bekannten‘-Verhältnis. Dass heißt, ich wurde in Gesprächen toleriert, und nicht aktiv gemieden, bis zu dem Punkt, an dem Leute mit mir alleine sind. Dann murmeln sie häufig eine Entschuldigung, und lassen mich zurück.
Es macht mir wenig aus. Ich brauche ihre Zuneigung nicht, aber irgendwann musste ich meine Strategien ändern, weil mir klar wurde, wie viel an Studienobjekten ich verlor. Also begann ich, in Gesprächen zustimmend zu murmeln, zu nicken und ungläubig den Kopf schräg zu legen – je nach Stimmung und Situation. Mein Ruf verbesserte sich, und ich war in der Lage, sogar mit Einzelpersonen wieder Gespräche zu führen. Aber tiefe Freundschaften entstehen aus Murmeln und Nicken nicht.

Meine Eltern verstanden nichts von der Großstadt, und so stellten sie kaum Fragen über meine Pläne dort, und ich blieb merkwürdig unbehelligt, bis zu dem Tag, als ich mein Elternhaus tatsächlich verließ.
‚Wo wirst du wohnen?‘ fragte meine Mutter mit weicher Stimme, und sah mich mit nassen Augen an. Es war ein heißer Augustnachmittag, und wir standen auf dem Dorfplatz, meine beiden Taschen neben mir geduldig wartend.
Ich zuckte mit den Schultern, und umarmte sie ein weiteres Mal. Umarmen hilft meistens.
‚Ich werde im Studentenwohnheim wohnen, da bekommt jeder Studierende ein Zimmer.‘
‚Und von was wirst du leben?‘ fragte mein Vater argwöhnisch. Ich lächelte nur milde. ‚Die versorgen uns da. Wir bekommen Essen, Kleidung und Taschengeld. Man muss die Leute gut behandeln, wenn man will, dass sie sich bilden.‘
Das schien meinen Eltern einzuleuchten, und so ließen sie mich endlich in den Wagen steigen. Ich hatte mir eine Mitfahrgelegenheit mit dem Vater eines Freundes organisiert, der zweimal in der Woche in die Großstadt fuhr, um dort seinen ‚Geschäften‘ nachzugehen. Wir hatten mehr als einmal spekuliert, was diese Geschäfte denn wohl sein mochten, aber mein Freund hatte oder konnte seinen Vater nicht verraten. Wir wussten nur, dass er Arbeit in der örtlichen Stärkefabrik hatte, und uns oft gefragt, welche Position dort wohl regelmäßige Fahrten in die Großstadt nötig machten.

Ich lehnte mich erschöpft in den weichen Kunstledersessel zurück und schloss für einen Moment die Augen. Es hatte mich mehr Kraft gekostet, mich von zuhause los zu machen, als ich erwartet hatte. Es war heiß im Auto, und ich hatte Mühe zu atmen. Der Vater meines Freundes trug nur ein dünnes Netzhemd und kurze Shorts.
‚Du hast doch nichts dagegen, wenn es ein bisschen wärmer ist?‘ fragte er mit einem kurzen Seitenblick auf mich und begann, die Knöpfe an der Armatur zu verstellen. ‚Ich schwitze gerne im Auto‘, fügte er wie zur Erklärung hinzu, und Sekunden später traf mich ein Schwall heißer Luft. Der Vater meines Freundes hatte die Heizung im Auto angestellt, und während es draußen locker 35 Grad im Schatten waren, erreichten wir im Auto innerhalb kürzester Zeit sicher fünfzig, sechzig Grad.
Mein Schweiß sammelte sich in dem warmen Sitz, und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, in einer kleinen Wanne mit warmem Wasser zu sitzen.
Dem Vater meines Freundes liefen dicke Schweißperlen über die rote Stirn, aber er schien glücklich zu sein. Ich begann mich zu fragen, ob diese Saunagänge vielleicht der einzige Grund für die ausgedehnten Fahrten in die Großstadt sein könnten.
Es gab natürlich keine Chance, ein Fenster zu öffnen – zu viel der wertvollen Wärme hätte entweichen können. Nach etwas über einer Stunde nahmen wir einen Tramper mit, jemanden, der mein Schicksal teilen musste. Aber schon nach etwa zehn Minuten war ihm eingefallen, dass er noch einen Abstecher woanders hin machen wollte, und ich ließ ihn wehmütig im Seitenspiegel auf dem Pannenstreifen der Autobahn zurück.
Für einen erschöpften Moment fragte ich mich, ob ich vielleicht auch dort im Seitenspiegel stehen sollte – an der kühlen Luft, aber dann war ich zu müde, um weiter darüber nachzudenken.
Den Rest der Fahrt verbrachte ich in einer Art Wahnzustand, mit milden Halluzinationen, nur kurz unterbrochen durch kleine Halts an zahllosen Tankstellen. Kühles Wasser belebte meine ausgetrocknete und aufgequollene Zunge nur kurzzeitig, und wenig später verfiel ich wieder in mein Wachkoma.


Anmerkung von Mutter:

Das hier ist der Anfang eines alten Romanes, den ich nie geschrieben habe - den ich aber furchtbar gerne irgendwann lesen würde. Nur weiß ich nicht, ob ich der Richtige bin, ihn zu schreiben ... :)

Ich habe den mal unter 'Innerer Monolog' eingeordnet, weil ihn unter Langtexte - Roman einzuordnen, schien mir etwas vermessen - bei einem unfertigen Anfang, einem Fragment ...

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Kommentare zu diesem Text

conejo (31)
(19.11.08)
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 Mutter meinte dazu am 19.11.08:
Einbilden? Darauf? Auf jeden Fall - bin stolz wie Oskar ... :)
Ganz ehrlich - bin gerade auf 'nem totalen High, weil ich überhaupt, und dann noch so cooles Feedback hier bekomme. Hier bleibe ich! :D

Zum Text: Ich muss gestehen, bevor ich den 'Abschicken'-Button gedrückt habe, habe ich kurz gezögert. Der Text ist urst alt, und natürlich sieht man sofort, zwei, drei oder eine Mijon Sachen, die man ändern sollte. Habe ich dann aber nicht - ist halt ein frühes Werk. Gehe ich später sicher noch mal ran. Insofern nehme ich die Kritik an, speichere sie ab und nehme sie zum Anlass, mich diesem so lange vergessenen Text noch mal zu widmen - danke schön also.

Ach ja - Dein Avatar-Bild habe ich in meinem Leben wohl über zehntausen Mal bereits in der Hand gehalten - musste sehr lachen, das Bild wieder zu sehen. ;)
orsoy (56)
(19.11.08)
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shadowhunter (28) antwortete darauf am 20.11.08:
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 Mutter schrieb daraufhin am 20.11.08:
Vielen Dank für's Lob - ich sag dann mal Bescheid, wenn ich jemanden fürs Schreiben gefunden habe - oder aber ich vielleicht doch der Richtige bin ... ;)

Kenne übrigens sogar jemanden, der mal ernsthaft in Erwägung gezogen hat, Wasserbau in Suderburg zu studieren ... O.o

:D
(Antwort korrigiert am 20.11.2008)

 Emotionalis äußerte darauf am 23.11.08:
Kann mich da nur anschließen.. habe angefangen zu lesen und mußte dran bleiben!
LG Emo

 Mutter ergänzte dazu am 23.11.08:
Das ist eines der größten Lobe (Lobs? Lobae? Lobi? =_=), die man (besonders im Netz) bekommen kann - vielen, vielen Dank ...
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