Gelb - Der Zenit

Roman zum Thema Aufbruch

von  Mutter

Mit einer geschickten Bewegung schnellte Anosh aus dem Wasser und zog sich ans Seeufer. Er nahm seine Waffen auf, die er am Ufer im Schilf versteckt hatte, und ging zurück zum Lager. Die Sonne war vor kurzem untergegangen und die laue Luft trug den Geruch von scharf angebratenem Fleisch an ihn heran.
Er trat vorsichtig auf die kleine Lichtung, aber Barde begrüßte ihn, ohne sich umzudrehen.
‚Werd‘ nicht übermütig. Bis du dich lautlos an einen Kung’Sah heranschleichen kannst, musst du noch ein paar Menschenleben trainieren.‘
Mit einem Lachen zog Anosh seine Hose an und nahm sich einen Becher mit Kräutertee.
Als er aufblickte, sah er Bardes Blick auf sich gerichtet. Für einen Moment versuchte er sich selbst so zu sehen, wie ihn der Kung’Sah sehen musste. In den letzten drei Jahren war er weiter gewachsen, hatte durch das Training Muskeln aufgebaut und bewegte sich inzwischen fast so lautlos und geschickt wie sein Ausbilder.
Das dichte, blonde Haar war kurz geschoren und von der Sonne ausgebleicht, und auf seinem braun gebrannten Körper war an mehr als einer Stelle die dünnen, weißen Striche von gut verheilten Narben zu sehen.
Barde hatte ihn hart ran genommen, in den vergangenen Jahren, aber wie weit er Anosh auch getrieben hatte: Niemals hatte der Junge sich beschwert. Mit einem Lächeln musste Anosh an all das denken, das er hatte durchmachen müssen. Nichts davon war einfach oder leicht gewesen, aber der Gedanke, warum er sich all dem ausgesetzt hatte, sorgte dafür, dass er nicht nachließ.
Er fragte sich, was sein Vater wohl dazu gesagt hätte. Für seinen Vater war immer klar gewesen, dass Anosh einmal den Gasthof übernehmen würde. Der Junge hatte das nie in Frage gestellt. Bis es keinen Gasthof mehr gab. Er musste lächeln - sein Vater hätte sich vermutlich über die Sinnlosigkeit seiner Ausbildung mit Barde beschwert.
Anders als Anosh hatte sein Vater sich auch mit dem Tod der Mutter abgefunden. Er hatte immer gesagt, sie sei jetzt an einem besseren Platz, und er würde sie nicht durch sein Leiden über ihren Tod unglücklich machen.
‚Gib mir was zu essen. Ich habe Hunger‘, sagte Anosh unvermittelt zu dem Bergbewohner.
Anosh hatte Bardes Autorität kein einziges Mal angezweifelt – wenn es sein Training betraf. Ansonsten hatte Barde nie zugelassen, dass Anosh etwas anderes war als sein Herr.
In der Vergangenheit hatte der junge Mann mehrmals versucht, herauszubekommen, welche Schuld Barde auf sich spürte, die ihn dazu bewogen hatte, sich lebenslang in den Dienst eines Mannes und seiner Erben zu stellen, aber er hatte dazu nie mehr als Brocken und Ausflüchte bekommen.

Anosh nahm den gefüllten Holzteller von seinem Gegenüber an und begann zu essen.
Als er mit dem weichen Brot den letzten Rest der Bratensauce aufgewischt hatte, lehnte er sich zufrieden zurück.
‚Heute ist ein besonderer Tag, Barde.‘
Der Kung’Sah blickte auf und betrachtete den jungen Mann. Nach einer Weile des Schweigens fragte er gedehnt: ‚Was für ein Tag ist heute?‘
‚Heute trete ich mein Erbe an. Du hast mir genug beigebracht.‘
Barde schnaubte. ‚Es gibt noch viel, was du zu lernen hast‘, entgegnete er mit Missfallen.
Anosh musste lachen. ‚Wenn ich darauf warten wollte, bis ich all das gelernt habe, was du mir beibringen kannst, dann bin ich alt und grau. Manchmal glaube ich, du lernst ebenso viel und schnell wie ich.‘
Barde schüttelte den Kopf und sammelte das Geschirr ein. Er war schon auf dem Weg zum Fluss, als ihn Anoshs Frage innehalten ließ.
‚Barde, warum hast du meinem Vater gedient. Warum dienst du jetzt mir?‘
Ohne sich zu ihm umzudrehen, setzte Barde das Geschirr auf den Boden und schob sich die allgegenwärtige Ledermaske zurecht. Endlich antwortete er mit gedämpfter Stimme: ‚Das ist eine Sache zwischen mir und deinem Vater. Ich habe ihm gedient, und jetzt diene ich dir.‘
Mehr als einmal hatte Anosh mit dem Gedanken gespielt, dem Kung’Sah im Schlaf die Maske vom Gesicht zu nehmen. Aber er hatte es nie gewagt.
Als er von Anosh keine Entgegnung bekam, setzte Barde seinen Weg zur Uferböschung fort.
Mit einem Kopfschütteln sah ihm Anosh nach und begann, seine Sachen zu packen. Leise sagte er: ‘Kein Wunder, dass sie dir den Namen Barde gegeben haben. Geschwätziges Luder.‘

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (02.06.10)
Jepp, du hast es geschafft. Ich will auch wissen, was unter der Maske ist.

LG, Sabine

 Mutter meinte dazu am 02.06.10:
Hmmm, ich fürchte, dann enttäusche ich Dich. :-/
Die Kung'Sah spielen später noch eine Rolle - wir erfahren also (noch) nicht, was es mit der Maske auf sich hat.

 Isaban antwortete darauf am 02.06.10:
Dann bin ich wohl gezwungen, weiter mitzulesen. ;)
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