Clementine schlurfte mit hängenden Schultern aus der Küche und stellte die Teetasse ihres Mannes Karl-Heinz in die blankpolierte Edelstahlspüle. Mit ihren 85 Jahren waren ihre Augen nicht mehr die besten. Die Sehkraft ließ allmählich nach. Meist putzte sie nur noch nach Gefühl, putzte und putzte, bis sie sicher sein konnte, dass ihr Schwamm jeden Winkel erreicht hatte. Karl-Heinz war ein Sauberkeitsfanatiker. Schon damals, als sie sich kennen lernten, fiel ihm ein leichter Schatten auf ihrer geliehenen Bluse auf. Sie hatte sich dieses Kleidungsstück extra zu diesem Anlass von ihrer Schwester geliehen. Der Fleck war ihr gar nicht aufgefallen, so unscheinbar war er. Sie weiß noch genau wie heute, wie peinlich ihr dieser Vorfall damals war.
"Clementine", rief Karl-Heinz aus dem Wohnzimmer, "komm doch bitte mal sofort her!" Unheil ahnend begab sich die alte Frau ins Zimmer zu ihrem Mann. "Was ist denn, Karl-Heinz? Hab ich irgendetwas in meiner schusseligen Vergesslichkeit liegen lassen?" Clementine konnte den Gesichtsausdruck ihres Mannes nicht deutlich erkennen, aber sie hörte an seinem lauten Räuspern, dass ihn etwas arg ärgerte.
Sie sah sich suchend um, konnte aber beim besten Willen nicht erraten, was es war. Karl-Heinz klopfte rhythmisch mit den Fingern auf den Tisch. Er saß kerzengerade in seinem Sessel und gab seiner Frau großzügig Gelegenheit, von selber darauf zu kommen, womit sie seinen Zorn auf sich gezogen hatte.
Er genoss es, wenn er eine Spur von Angst und Panik auf ihrem Gesicht erkennen konnte. Schon damals wußte er, dass sie die richtige Frau war. Sie, ein scheues Reh, das sich nie ihrer Schönheit und Stärken bewusst war. Und sie war demütig. Nie verlangte sie etwas, alles was er für sie tat, empfand sie als Ehre und sie dankte es ihm mit ihrer völligen Ergebenheit und Treue.
"Nun Clementine? Soll ich noch lange warten? Fällt es dir wirklich nicht von selber auf?" Sichtlich genervt klopften seine Finger einen schnelleren Takt. Fast so, als wollten sie auch ihr Denken beschleunigen.
"Tut mir leid, Karl-Heinz, ich kann nichts entdecken. Was hab ich falsch gemacht?" Auf Clementines faltigem Hals zeichneten sich hektische rote Flecken ab und ihre Stimme bekam einen fast weinerlichen Ton. "Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass ich eine neue Brille bekomme. Das alte Modell ist schon 25 Jahre alt und meine Sehkraft hat seit damals sehr nachgelassen. Aber nur, wenn du nichts dagegen hast. Ich möchte nicht, dass du Ausgaben für mich hast, die unnötig sind. Dass der rechte Bügel immer abfällt ist nicht so schlimm. Da behelfe ich mich schon seit längerer Zeit mit Klebeband." "Ich kann dein Betteln nicht ertragen...." murrte Karl-Heinz und zog scharf die Luft durch den Mund. Clementine schien um 5 cm zu schrumpfen. Nervös biss sie sich auf die Lippen und ihr Blick senkte sich verschämt zu Boden. "Sind es vielleicht die Gardinen, die wieder eine Wäsche vertragen würden?", fragte sie um von dem Thema Brille abzulenken. "Oder liegt die Tischdecke nicht gerade? Nun sag doch bitte, was dich stört!" "Meine Güte", schrie Karl-Heinz. "Ich kann dein Gejammer nicht länger ertragen. Und noch weniger kann ich es mit ansehen, wie du Tag für Tag mehr zerfällst! Schau dich doch nur an, was aus dir geworden ist? Aber selbst das kannst du ja nicht sehen, weil du blind wie ein Maulwurf bist! Es ekelt mich an, im selben Schlafzimmer mit dir zu liegen, dieselbe Luft zu atmen! Dein Gebiss im Wasserglas, dein eingefallener Mund, im Schlaf geöffnet, deine knochige Schulter, die sich unter dem Betttuch abzeichnet, das alles widert mich an!"
Clementine schossen die Tränen in die Augen. So hatte er noch nie mit ihr geredet. Er traktierte sie zwar, aber er bewahrte doch immer eine gewisse Contenance. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und ihr der Schweiß den Rücken herunter rann.
"Aber Karli...", versuchte sie ihn zu beruhigen. So liebevoll nannte sie ihn früher immer, wenn sie eine zärtliche Nacht verbracht hatten und sich ermattet in den Armen lagen. "Die Zeit hat eben ihre Spuren hinterlassen. Ich bin alt, das lässt sich nicht leugnen, aber ich dachte, die Zeit könnte unserer Liebe nichts anhaben. Schönheit ist vergänglich, das Innere ist es doch, was zählt. Ich habe dir jede Minute meines Lebens geopfert, jeden Gedanken an dich verschenkt. Ich habe auf Kinder verzichtet, weil du sie als störend empfunden hättest. Wieso sagst du jetzt so etwas schreckliches?" Ihre Hand strich eine imaginäre Falte an ihrem Rock glatt und ihr Blick starrte verzerrt ins Leere, als rede sie mit einem Unsichtbaren.
Konnte es ein, dass die alte Schachtel ihn gar nicht mehr richtig sah? Karl-Heinz dachte an früher, griff zu seinem Ehering und streifte ihn ab. Ein halbes Jahrhundert trug er ihn. Er war es so leid, immer daran zu denken, ihn wieder aufzusetzen, bevor er von der Arbeit nach Hause kam. Und nur, weil er so ein rücksichtsvoller Ehemann war. Damit war jetzt Schluss, er hatte die Schauspielerei so satt. Am Anfang ihrer Ehe war alles schön und gut. Aber es dauerte nicht lange, eins, zwei Jahre vielleicht, da langweilte ihn alles an ihr. Sie hatte sich gern für ihn zurecht gemacht, aber nach der Hochzeit verbot er ihr, sich das Gesicht zu schminken und Lippenstift aufzulegen. Er hasste es, wenn andere Männer sich nach ihr umdrehten. Auch durfte sie keine Röcke mehr tragen. Er selbst suchte ihre Kleidung aus. Jedes bisschen Haut, was durchschimmern konnte, musste verdeckt werden, bis oben unters Kinn. Dabei hatte er ihren schlanken, langen Hals immer geliebt. So vergingen die Tage, die Jahre. Aus bunt wurde grau - in jeder Beziehung und aus Begehren wuchs Abscheu. Es schien, als hätte sich alles ins Gegenteil gekehrt. Wenn er ehrlich war, war er daran nicht ganz unschuldig, denn alles was sie ausmachte, was er liebte und anbetete, hatte er ausgelöscht, aus Angst, andere könnten ebenfalls Gefallen daran finden.
Und Clementine hatte sich nie gewehrt. Sie ließ zu, dass er ihr alles nahm, wo sie Freude dran hatte.
Und je schwächer sie wurde, je nachgiebiger aus Liebe um so stärker wurde sein Wunsch, nichts mehr von dem übrig zu lassen, was sie ausmachte... bis auf ihre Demut.
"Clementine", sagte Karl-Heinz, "ich möchte getrennte Schlafzimmer! Ab heute, am besten sofort. Du wirst das kleine Gästezimmer beziehen. Da findest du alles, was du brauchst. Bring deine Sachen dahin, damit mich nichts mehr an dich in meinem Schlafgemach erinnert und vergiss deine ekeligen Windeln nicht!"
Karl-Heinz erhob sich fast schon euphorisch aus dem Sessel und machte sich auf den Weg, um seine Idee eigenhändig in die Tat umzusetzen. Es ging schneller, wenn er ihren Kram auf den Flur packte. Von da aus konnte sie alles alleine erledigen, während er seinen Mittagsschlaf im Bett halten konnte. Vertieft in seine eigene Zufriedenheit, seine Frau auf diese einfache Art loszuwerden, zumindest schon mal aus dem Schlafzimmer, stieg er die Stufen zum Obergeschoß hoch. Auf der Mitte angekommen, passierte es dann:
Als er sich fluchend bückte, um Clementines Brillenbügel aufzuheben, durchfuhr ihn ein höllischer Schmerz.
Sein Bandscheibenvorfall! Beim Versuch sich aufzurichten, verfehlte er die Stufe und stürzte unglücklich
die Treppe herunter. Leblos lag er da. Als Clementine vom Lärm angelockt auf ihn nieder sah waren seine Augen weit aufgerissen. Blut floss in einem dünnen Rinnsal aus seinem feingeschwungenen Mund, den sie so geliebt hatte. Er war ohne Zweifel tot.
"Oh, Karli", sagte Clementine, und ihre Stimme nahm einen ganz eigenartigen Ton an, als spräche eine andere Person aus ihr. "Du solltest dich woanders zur ewigen Ruhe betten, du zerstörst das einheitliche Muster des Teppichs. Dein Ordnungswahn, wird dir nochmal das Genick brechen". Ein irres Kichern entsprang ihrer Kehle. "Wie gut, dass du mir nie eine neue Brille gekauft hast, manchmal zahlt sich selbst Geiz aus". Sie bückte sich und nahm aus seinen Händen ihren Brillenbügel und ging nach oben.
Sie setzte sich vor ihren Spiegel und kämmte versonnen ihr langes graues Haar. Dann griff sie in die hinterste Ecke der Schublade und brachte einen Lippenstift zum Vorschein, als habe sie ihn nur für heute dort verwahrt. Vorsichtig zog sie sich die Kontouren ihres Mundes nach. Die rote Konsistenz war schon bröckelig, lag der Stift doch schon mehr als ein halbes Jahrhundert im Dunkeln, genau wie die Gefühle ihres Mannes für sie... Dinge und Menschen unterlagen eben dem Fraß der Zeit. Warum hatte Karl-Heinz das nicht akzeptieren können?
"Ach, Karli....wenn du mich jetzt sehen könntest...". Ein befreites Lächeln huschte über ihr Gesicht, welches sie um Jahre zu verjüngen schien.