Zugausweichen

Erzählung zum Thema Erinnerung

von  Mutter

‘Ich will, dass du mit Dave für mich sprichst. Mit mir will er nicht reden – ich habe bereits mehrfach versucht, ihn zu kontaktieren. Im Austausch gebe ich dir ein paar Namen, sage dir, mit wem du auf der Insel sprechen musst, um weiter zu kommen. Wie klingt das?’
Während ich mir mit der Zunge über die Zähne fahre, denke ich nach. Kostet mich nichts – und die kleine Transe zu erwähnen sollte kein Problem sein. In meinem Kopf gehen ganz andere Gedanken um. Erinnerungen, Mutmaßungen – das alles ist lange her. Eine Menge passiert seit damals. Versuche weiter, das Gewirr der Schnüre an meinen Händen und Füßen zu entwirren.
‚In Ordnung‘, entgegne ich.
Sie lächelt. ‚Danke.‘
Ich nicke noch mal. ‚Wer hört euch ab?‘ Zeige mit dem Zeigefinger nach oben und um uns herum.
Jill grinst, zeigt mir ebenmäßige Zähne. ‚Alle!‘, haucht sie kokett.
‚Ihr spinnt. Komplett!‘ Schüttele mit einem Lächeln den Kopf. ‚Erzähl mir, was du weißt.‘
Kurz schiebt sie mir alles rüber, was sie hat: Wen sie aus der Gruppe noch kennt, was für Deals laufen, Treffpunkte, Hideouts.
Sie hält inne. ‚Was ist?‘
‚Nichts. Ich bin erstaunt, wie wenig sich verändert hat.‘ Das Meiste, was sie mir erzählt, klingt bekannt.
Jill erwidert: ‚Versteh mich nicht falsch – das ist erst seit Kurzem wieder so. Auf der Insel ist ein paar Jahre lang überhaupt kein Traffic gewesen, jedwede Transporte aus oder nach Schottland sind komplett eingeschlafen. Nach dem Ende der Troubles sind die Kunden weggebrochen.‘
‚Was hat sich geändert?‘
Sie wiegt den Kopf hin und her. ‚Vor ein paar Monaten ging es los – erste kleine Runs, danach größere Aktionen.‘
‚Und du denkst, dass das alles mit der Rückkehr von Money zu tun hat.‘
‚Hältst du das für abwegig? Ich meine, das wäre schon ein verdammter Zufall, wenn die beiden Sachen nichts miteinander zu tun haben.‘
Dem stimme ich nachdenklich zu. ‚Glaubst du, Money hält sich auf der Insel auf?‘
‚In Belfast ist er jedenfalls nicht – den Heuhaufen habe ich durchkämmt‘, sagt sie und lächelt verlegen.
‚In Ordnung. Gib mir eine Nummer, unter der ich dich erreichen kann, falls ich was rausfinde.‘
Will mich zum Gehen wenden, als mich ihr lautes ‚Corker!‘ aufhält.
‚Was ist?‘, will ich wissen und drehe den Kopf zurück.
Zögernd macht sie einen Schritt auf mich zu, sieht kurz zu Boden und dann mich an. ‚Dave ist nicht alleine. Er hat sich Hilfe geholt.‘
Bevor sie weiterspricht, fühle ich den kalten Schauer auf dem Rücken, die Nackenhaare, die sich melden. Als wüsste ich, was kommt.
‚Ich bin nicht sicher, wer der Kerl ist – Lewey und Carl konnten nichts über ihn rausfinden.‘
‚Jemand, der für Dave arbeitet?‘
Jill nickt, knetet ihre Finger. ‚Alles, was ich über ihn gehört habe, macht mir Angst‘, flüstert sie, fügt hinzu: ‚Ich habe Angst um Dave.‘
‚Gut‘, antworte ich. Wäre auch noch schöner gewesen, wenn die Transe Angst um meinen Arsch gehabt hätte – eine noch kompliziertere Frauengeschichte könnte ich mir kaum vorstellen. ‚Ich halte die Augen auf. Weißt du noch irgendwas?‘
Unglücklich schüttelt sie den Kopf. ‚Lewey hat von einem Kumpel gehört, dass der Kerl riesengroß sein soll, sechs Fuß acht, sechs Fuß neun.‘
‚Big fucker, eh?‘, sage ich gespielt nonchalant. Passt zu der tiefen Stimme am Telefon. ‚Ich mach mich klein, versteck mich‘, füge ich mit einem Augenzwinkern hinzu.
Sie will noch was sagen, hält inne. Sieht mir nach, als ich mich durch den Spalt nach draußen schiebe.
Ohne auf sie zu warten, gehe ich den Weg zurück durch das Altmetall-Labyrinth. Komme auf der Lichtung raus – Molly steht bei dem älteren Bushwhacker am Container und sieht tatsächlich erleichtert aus, als ich auftauche. Von dem Jüngeren ist nichts zu sehen.
Fragend sieht sie mich an, während ich zügig auf das Auto zugehe. Dort ankommend, klopfe ich auf das Dach und rufe: ‚Auf geht’s, aufsitzen!‘
Molly reagiert nicht sofort.
‚Was ist los?‘, ruft Hillbilly Senior. Er sieht verärgert aus, fragt sich, wo seine Schnecke steckt.
Ich hämmere die flache Hand auf das Dach, brülle: ‚Verdammt, Molly, setz deinen Arsch in Bewegung!‘, lasse mich entnervt ins Auto fallen. Die ganze Scheiße hier dauert mir bereits viel zu lange. Zeit, vom Hof zu reiten.
Molly ist auf dem Weg zum Wagen. Der Hillbilly zögert, sieht abwechselnd zwischen uns und Jill hin und her. Die Transe winkt ab, beschwichtigt ihn – ruhig, Brauner.

Kurz darauf sitzt Molly neben mir im Wagen, sieht mich kurz an, als wolle sie das ausdiskutieren, bevor sie den Anlasser zündet, überlegt es sich anders. Startet den Motor, dreht den Wagen in einer geschmeidigen Kurve und steuert ihn von der Lichtung. Ich nehme an, im Rückspiegel verschwindet die Redneck-Familie.
‚Ist irgendwas  passiert, oder musst du dich ohne Grund zwischendurch wie ein dummer Wichser benehmen?‘
Ich lächle versteckt in meine Hand und sehe weiter aus dem Fenster. Sage endlich: ‚Alles in Ordnung.‘
Molly schnaubt. ‚Gut.‘
Meine gute Laune hält nicht lange an, brüte weiter vor mich hin. Sie bohrt nicht nach, steuert den Wagen stur zurück Richtung Stadtmitte. Ich habe nicht gechecked, ob Anne uns folgt. Nehme es an.
‚Rede mit mir, Corker - ich hänge mit drin. Was hat sie gesagt?‘
Ich nehme wahr, wie sie sich mir zuwendet. Nicht mehr nach vorne sieht. Der Wagen fährt locker vierzig, vielleicht sogar fünfzig Meilen, und sie guckt nicht auf die verschissene Straße. Will mich zwingen, das Maul aufzumachen. Es ist wie Zugausweichen spielen. Sie gewinnnt.
Gedehnt sage ich: ‚Ich weiß, wer hinter allem steckt. Wer der Puppenspieler ist.‘
‚Fuck! Erzähl …‘, entfährt es ihr. Sie wendet sich kurz der Straße zu, sieht sofort wieder rüber. Das Machtspiel ist beendet, jetzt ist sie wirklich interessiert.
‚Ein alter Kumpel von mir, vor Jahren verschollen, ist seit ein paar Monaten zurück. Hat die alten Seilschaften aktiviert, die Runner zurück aufs Gleis gesetzt.‘
‚Was hat das mit deinem Problem zu tun?‘
‚Glaube kaum, dass es Zufall ist, dass der Ursprung meiner ganzen Schwierigkeiten mit Rathlin Island zu tun hat – und just dort taucht ein Kollege von früher auf.‘
‚Warum sollte ein alter Freund dir derart an den Kragen wollen?‘
Statt zu antworten, sehe ich erneut aus dem Fenster. Atme zu laut, zu schwer – zu dicht an einem Seufzer.
Sie spekuliert: ‚Der Kumpel ist überhaupt kein Kumpel mehr, oder?‘
Stumm schüttele ich den Kopf, sehe kurz zu ihr rüber.
Molly lacht. ‚Was hast du mit ihm gemacht? Ihm Geld gestohlen? Die Frau ausgespannt?‘
Kein Kommentar.
‚Shit, das ist es, oder? Es geht um eine Frau, hab ich Recht?‘
Ich sage nichts. Nicht ohne meinen Anwalt.
Molly ist außer sich, lacht sich krank am Steuer. ‚Du bist Gold, Corker. Absolut. Irgendwie geht es bei dir immer um Schwänze – entweder um deinen eigenen oder den von jemand anderem.‘
Nach einem Moment fügt sie hinzu: ‚Oder es geht um Pussy. Wer war die Kleine?‘
Ich will nicht antworten, gönne ihr die Genugtuung nicht. Nichts zu sagen macht es leider nicht mehr besser. ‚Jesse - Daves Kleine.‘ Wiegele ab: ‚Die beiden hatten kaum noch miteinander zu tun. Sie ging davon aus, die Sache sei beendet.‘
Molly schnaubt vernehmlich. ‚Und statt darüber mit deinem Kumpel zu reden, hast du gedacht, pimperst du sie erst mal, bevor die Gelegenheit verstreicht.‘
Mit einem schiefen Lächeln antworte ich: ‚So ungefähr, ja.‘
‚Und dieser Dave, Money, will dich deswegen jetzt umbringen? Nach all den Jahren? Der Mann muss ein Gedächtnis wie ein Elefant haben.‘
Von mir kommt kein Widerspruch. ‚Sieht so aus, ja.‘
Draußen zieht Belfast an uns vorbei.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(20.10.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 20.10.09:
Findet er bestimmt auch. Nur weiß ich nicht, ob er dasselbe meint wie Molly.

Oder Du.
:D
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram