Die Tage vergehen und Emily wird dünn und blass. Ihre Wangen fallen ein, die Knochen stehen ungesund hervor und ihre blaubeerfarbenen Ringe unter den Augen trägt sie schon seit der ersten Nacht mit sich herum.
Heute ist schon der vierte Tag ohne Gerard und sie hat es endlich geschafft, sich aufzuraffen. Unglaublich schwer war es zwar, aus ihrem Bett aufzustehen, das sie schon seit einer Weile besetzt und als sie endlich stand, hat der Boden angefangen, sich zu drehen, aber nun hält sie das Telefon in zittrigen Händen. Langsam wählt sie die Nummer, lässt es ungeschickt fallen, nur um es unter apathischem Murmeln wieder aufzuheben.
Was für ein Häufchen Elend.
„Hallo?“, meldet sich Gerards Mutter am Telefon. Ihre Stimme klingt mindestens genauso zugeschwollen wie Emilys eigene. Das macht sie weniger beängstigend.
„Hallo, hier ist Emily.“ Sie hört sich an, als habe sie Schnupfen.
Ein Schniefen am anderen Ende der Leitung, ein schwaches Räuspern.
„Hallo Emily…“
Emily wartet darauf, dass die Mutter noch etwas sagt. Sie will ihr nicht in ihre Traurigkeit hineinreden, wenn Gerards Mutter so weint, eine sonst so charakter- und willensstarke Frau am Boden ist, dann kann es nur wegen ihres Sohnes sein, glaubt Emily.
Sie sitzen wohl im selben Boot. Seine Mutter vermisst ihn bestimmt auch.
„Ich glaube, wir machen uns gegenseitig unsere Hoffnungen kaputt. Du hast angerufen, um mit ihm zu reden und ich hatte gewollt, er wäre bei dir.“
Emilys Augen füllen sich mit Tränen, denn genau das will sie doch auch.
„Wir müssen ihn suchen.“, schluchzt Emily.
„Die Polizei sucht schon nach ihm.“
„Aber sie finden ihn nicht! Er muss wieder auftauchen...“, weint sie und legt auf.
Ausgelaugt lässt sie sich gegen die Wand sinken, die Füße herangezogen und das Telefon danach rufend, zertrümmert zu werden.
Es kann nicht sein.
Er hat gesagt, er würde sie nicht allein lassen.
Er wird zurückkommen…
Der Wind ist kalt und der Regen hat schon vor einer ganzen Weile eingesetzt. Sie ist nass bis auf die Haut und ihre dünne Jacke klebt an ihr, weil sie ihren Regenschirm vergessen hat, aber es gibt wichtigeres, als das.
Sie ist schon überall gewesen, bei seinem Haus, am See, im Wald, ist umhergelaufen und hat gerufen, doch ihre einzige Antwort ist das Echo gewesen, das in ihr widerhallte. Doch Gerard bleibt unentdeckt. Außer schmerzlichen Erinnerungen und dem Widerruf nach alten Zeiten hat sie nichts gefunden.
Mit rasendem Atem und zerzausten Haaren hält sie an, keucht.
Nur noch eine Chance, eine letzte Möglichkeit. Und wenn das nicht funktioniert...
Erschöpft will sie sich auf den Weg zu dem Ort machen, von dem alles abhängt. Sie macht einen kraftlosen Schritt vorwärts, denn aufgeben ist nicht ihre Art. Sie wird nicht aufhören, nicht bevor sie ihn nicht gefunden hat.
Doch plötzlich wird alles schwarz.
Piep… Piep... Piep... Piep… Piep… Piep.
Durch den Schwamm ihrer Benommenheit dringt fern dieses penetrante Geräusch. Sie will die Augen öffnen, aber es funktioniert nicht. Sie sind wie zugeklebt.
Es dauert lange, sehr lange, bis sie eine besorgt aussehende Schwester am anderen Ende des Raumes ausmachen kann, die ihr Klemmbrett sehr sorgfältig studiert und sich, als sie merkt, dass Emily aufgewacht ist, sofort an ihr Bett setzt.
„Emily… hörst du mich?“
Emily nickt, will „Ja“ sagen, doch sie krächzt nur. Ihre Kehle ist staubtrocken und sie greift nach dem Wasserglas neben ihrem Bett. Ihr Kopf dröhnt.
„Hör mal… Du bist stark unterernährt. Hast du nicht viel gegessen in letzter Zeit?“
Emily schüttelt den Kopf und das ist nicht mal gelogen. Sie hat Garnichts gegessen.
Die Krankenschwester stutzt einen Moment.
„Aber trotzdem musst du eine Weile hier bleiben, weißt du? Du musst wieder zu Kräften kommen, sonst wird die ganze Sache wirklich gefährlich für dich. Ich werde dich in der Zeit betreuen und mich um dich kümmern und wenn es dir schlecht geht, dann kannst du einfach –“
„Nein!“, wimmert Emily. Die Krankenschwester sieht noch verwunderter aus.
„Nein! Nein, nein, NEIN! Ich muss ihn finden, ich muss ihn suchen! Unser Baum… Gerard wartet auf mich! Er wartet! Er…“ Letztendlich entfliehen nur noch zusammenhangslose Worte ihren Lippen. Hilflos hetzen ihre murmelrunden Augen zum Gesicht der Krankenschwester, hoffen auf Unterstützung, doch vergebens.
„Beruhige dich doch, Mädchen.“ Die Schwester tätschelt beschwichtigend Emilys Arm und genau das ist der Moment, in dem ihr bewusst wird, dass sie hier von niemandem Hilfe erwarten kann. Sie senkt den Blick, lächelt dann brav und sagt:
„Entschuldigung. Ich bin wohl noch etwas verwirrt.“, lügt sie, aber sie hat einen guten Grund, sich selbst zu verleugnen. Sie wartet.
Bis es endlich dunkel ist.