die Schatten wandern alle gleich

Text

von  Zeder

Heute ziehen die Wolken nicht weiter. Sie stehen am Himmel wie Mauern auf Luft. Der Sonne dahinter ist egal, wohin sie scheint und was sie wärmt. Es ist ihr egal, ob sie wärmt, aber vielleicht ist das auch eine Unterstellung. Vielleicht noch einen Schluck trinken, wenn man morgens schon Kopfschmerzen hat. Aber wie sollte man keine Schmerzen haben, wenn man nachts von Wölfen und Staubbergen träumt, von Höhlen und Wind und morgens unter Decken aufwacht, die den Himmel begrenzen.

Gegen Mittag kommt Jean. Wir verfolgen ein übergeordnetes Ziel. Wir reden nicht über Familie oder Einsamkeit, wir reden über Ideale, bei denen es nicht mehr um Menschen geht. Und ich denke im Stillen, dass der Wolf und der Staubberg viel mehr Kraft für Gerechtigkeit haben, weil in der Willkür und dem Chaos die Ordnung der Welt und der Ausgleich liegt. Und wie kann man, wenn man über etwas spricht, das übergeordnet ist, dem Schicksal einzelner Menschen beistehen wollen. Und ich zweifle manchmal ob der Mensch dafür geschaffen ist das Mitgefühl zu unterwerfen. Und dann wieder denke ich, dass wir genau dafür bewusst sind und dass alles, was wir tun, den Ausgleich finden wird, weil es nicht anders geht, weil es nicht anders sein kann, weil sonst die Welt fallen würde oder zerbrechen.
Jean ist schon vor langer Zeit ausgebrochen. Hat zurückgelassen, was er war um zu werden, wie er sein wollte und doch trägt er das Gesicht seines Vaters über dem seinen, ihm wachsen die Haare seiner Mutter aus der hellen Haut, ihm leuchtet die Quintessenz vieler Generationen aus den Augen.
Mein Zimmer liegt noch immer in der Heimatstadt. Ich weiß nicht wo Jean herkommt, weil er es selbst vergessen will. Manchmal  sehe ich einen Affen mit blonden Haaren und roten Lippen, wenn ich in den Spiegel schaue. Der Affe zündet sich eine Zigarette an und streift sich eine Jacke über, er verlässt das Haus um Nahrung zu suchen, er kommt Heim und ist einsam, weil niemand da ist, mit dem er das Essen teilen kann. Es kocht eine Kanne Tee auf dem Herd, die für drei Becher reicht. Jean hält einen Becher Kaffee in der Hand, er trinkt den letzten Schluck und küsst mich flüchtig auf die Wange. Wir sprechen nicht darüber, wann wir uns wieder sehen.

Der Affe hat ein Buch gelesen. Simone de Beauvoir. Ist dann spazieren gegangen. Auf einem Platz im nächsten Häuserblock baut ein Zirkus sein Zelt auf. Es wird Spätfrühling, Frühsommer. Jede Blüte wirft einen Schatten auf die Erde, der sich den Tag über dreht und dann schläft. Die untersten Blätter der Bäume bekommen kaum Sonne ab, deswegen wachsen Bäume breit. Hier sind die Bäume eingefasst in Beton, aber darunter, da breiten sich die Wurzeln aus. Ich stelle mir vor, wie die Wurzeln sich durch das Labyrinth von Rohren drängen. Da strömt Wasser durch ein Rohr und der Baum sucht danach, spürt es vielleicht, aber ist zu schwach und gräbt tiefer.
Ob es nun lohnt, nach Hause zu gehen. Ich habe die Bilder gern, die auf meinem Tisch stehen. Ich mag auch die Zeichnungen Etiennes, die neben dem Fenster hängen. Er malte mir damals immer Vögel, stille Vögel in schwarzweiß, Kohlenvögel, die den Winter über bleiben, die ewig leben, länger als er, als ich. Und Jean hat nie danach gefragt, hat einmal ein paar Sekunden seinen Blick auf die Zeichnungen gerichtet, hat sich dann abgewandt. Ob es sich lohnt nach Hause zu gehen, für ein paar Bilder aus Vergangenem. Ob es sich lohnt zu gehen.

Heute sah ich mir die Zirkusvorstellung an. Es schwebten ein Mann und eine Frau durch die Luft und sie ließen sich gegenseitig in ihre Arme fallen und glitten dahin wie Vögel. Ich sah plötzlich Flügel aus ihren Schultern dringen, auf der Bank sitzend ließ ich alles verschwinden, mit einem Male waren meine Gedanken langsam und frei. Ich saß noch lange dort, bevor ich ging.
Mittags kam Jean vorbei. Ich glaube, er sah etwas in meinem Blick, denn er zitterte kurz. Ob etwas wäre – ja es ist viel! Es ist alles größer als ich, schöner als ich, freier als ich. Die Welt ist ein riesiger Vogel, der durch das All schwebt. Ob das auf Flugblätter passt. Jean war verständnislos. Ich erzählte von Etienne. Etienne und ich hatten ein Kind. Édith starb früh, es ist nicht wichtig wie, aber sie starb. Ach, hätte sie Flügel besessen, sie hätte überlebt. Ich war eine gute Mutter. Als Jean ging, hatten wir beide geweint. Er ist allein, hatte er gesagt - ich bin allein, sagte ich. Wir sind allein, fügte er hinzu und ich sagte Nein. Wer allein ist hat kein wir. Ich erzählte von den Artisten, ich erzählte, wie ihnen Flügel wuchsen, als sie es wagten zu fließen. Jean knallte die Tür ein wenig zu, als er ging. Laut genug, dass Wut deutlich wurde, leise genug, dass ich ihn seufzen hörte. Er rief später an und sagte er liebte mich. Ich lächelte.

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Kommentare zu diesem Text


 poena (05.03.10)
und wieder einer... einer deiner hammertexte, in dessen hintergrund so viele geschichten wohnen, geschichten von menschen und gefühlen von gleichgültigkeit und intensität, von verzweiflung am leben und am werden eines neuen.
immer wieder erkenne ich beim lesen mich und, dass es im leben so ist. in allen facetten. und auch so anders. auch in allen facetten. ich frage mich, woher das alles kommt. und ich empfinde es schlicht als groß, soviel in so scheinbar fließendes kleines zu fassen.

:0) lg s
(Kommentar korrigiert am 05.03.2010)
yleae (26)
(12.03.10)
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spanishboots (19) meinte dazu am 22.03.10:
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 Unbegabt (29.04.10)
einfach unglaublich

 Zeder antwortete darauf am 29.04.10:
hey - vielen dank!

 Unbegabt schrieb daraufhin am 30.04.10:
hey - mehr als gern geschehen!
thammü (22)
(11.05.10)
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 Zeder äußerte darauf am 11.05.10:
danke für deinen kommentar!
ich habe den text vor zwei tagen wieder gelesen und hatte irgendwie einen ähnlichen eindruck. die eigentliche information zum schluss sehe ich als entschlüsselung, als entwirrung der geschehnisse an, das finde ich gut so, aber zu kurz ist sie! da kann ich noch mehr draus machen. also werde ich deine worte als anstoß nehmen noch mal in den text einzusteigen, wenn ich zeit finde.
liebe grüße
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