Flammen
Roman zum Thema Enttäuschung
von Mutter
Exakt zwei Stunden später hocken wir wieder auf der Mauer. In unseren Bäuchen eine Mischung aus Milch, französischen Schokoriegeln und jeder Menge Madeleines. Aber Alain kommt nicht.
Nach einer weiteren halben Stunde steckt er kurz den Kopf aus der Werkstatt, brüllt uns etwas rüber und verschwindet mit einem Achselzucken wieder.
„Der Motor“, brummt Dirty und schiebt seinen Hintern auf dem porösen Stein zurecht. Ich stehe auf, vertrete mir die Beine.
Zwischendrin kommen zwei junge Männer an uns vorbei geschlendert. Tief sitzende Hosen, weite Shirts. Einer ist Weißer, der andere Araber. Sie mustern uns eingehend, während sie langsam an uns vorbeigehen. Kurz darauf kommen sie zurück – lassen uns erneut nicht aus den Augen. Dirty hält den Kopf gebeugt, spuckt auf den staubigen Beton. „Lass die Penner“, murmelt er leise, als er meine Unruhe spürt.
Beim dritten Mal bleibt einer von ihnen kurz stehen, sagt was. Dirty schüttelt den Kopf, ohne aufzusehen. Der Typ zögert, Dirty sagt noch ein, zwei Worte. Dann verziehen sich die beiden langsam. „Was war das?“, will ich wissen.
„Dealer“, antwortet er. Dann fragt er mit einem Seitenblick und einem fetten Grinsen: „Brauchst du was? Direkt aus Algerien.“
Noch einmal fast eine Stunde später ist es endlich soweit: Alain schreckt uns auf, als er unvermittelt vor uns tritt. Er trägt eine helle Trainingshose, neue Sneaker und ein Kapuzenshirt. Als er sich an der Brust kratzt, sehe ich, dass seine Finger immer noch fast schwarz sind. Die werden in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr sauber, denke ich. Kann mich noch erinnern, wie lange Luisa mir immer Vorhaltungen gemacht hat, wenn ich meinen Bock reparieren musste. Aus den feinen Rissen in der Haut war die Motorschwärze tagelang nicht weggegangen.
Alain entschuldigt sich, erzählt wieder etwas von dem V8. Ich nicke ungeduldig. „Was ist das für ein Bild?“, will ich wissen.
Er setzt kurz an, um es zu erklären, macht dann eine einladende Handbewegung. „Allez!“
Schweigend laufen wir eine Weile hintereinander her, und immer, wenn ich ansetze, um erneut zu fragen, hebt er nur die Hand. „Patience.“ Dirty macht sich nicht die Mühe, zu übersetzen.
Nach einer Weile biegt Alain auf eine Brachfläche ein. Wir verlassen den Gehweg aus gebrochenen und schadhaften Betonplatten und laufen durch wildes Gras, Löwenzahn und jede Menge Brennnesseln. Links und rechts wird die freie Fläche wie immer von den massiven Türmen eingerahmt, und für einen kurzen Augenblick kommt es mir so vor, als würden wir in eine Wildnis eindringen. Dschungel. Ich muss an Brunos Widmung in dem Schachbuch denken.
Der Boden wird uneben und immer wieder von Senken und kleinen Hügeln durchbrochen. Manche umgehen wir, andere wiederrum durch- und überquert Alain ohne zu Zögern. Ich kann keine Regel erkennen, nach der er diese Entscheidungen trifft.
Überall liegt Müll – blitzt zwischen dem staubbedeckten Grün auf. Als wäre die Natur hier nur eine dünne Schicht, die jemand über die Zivilisation und ihrem Dreck ausgebreitet hat. Als würde sie schamhaft versuchen, sich zu bedecken wie ein junges Mädchen mit einem zu kleinen Handtuch.
Dirty tritt eine alte PET-Flasche zur Seite und flucht. Er hat längst keinen Bock mehr. Ich fürchte, lange kann Alain uns nicht mehr hinhalten.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, deutet er mit dem Arm nach vorne. Lächelt. Ich sehe nichts. Aber ein paar Meter weiter stoßen wir auf die ersten Schienen. Zugewuchert, wie alles andere auch. Trotzdem habe ich das Gefühl wie ein Verirrter, der plötzlich auf einen Weg stößt. Völlig egal, wohin der führt – Hauptsache, es gibt eine klare Richtung.
Wir folgen den Schienen und kurz darauf taucht eine Gruppe von geduckten Schuppen vor uns auf. Vor ihnen stehen Güterwaggons, sicher ein Dutzend oder mehr. Wie alt die Wagen sind, ist nicht zu erkennen – jede verfügbare freie Fläche von ihnen ist mit buntem Lack eingesprüht.
Wahrscheinlich wurden die Wagen hier seit Jahren nicht wegbewegt – vergessen, als bessere Zeiten fluchtartig das Viertel verlassen haben. Seitdem toben sich die Kids hier aus.
„Sein Bild ist – gesprüht?“, frage ich, während ich auf die Wagen starre. Dirty übersetzt, Alain nickt. Wir laufen weiter auf die Wagen zu.
Der junge Franzose führt uns an einer ganzen Reihe von ihnen vorbei, und ich habe Mühe, auf meine Füße zu achten. Nicht zu stolpern. Viele der gesprühten Bilder sind unglaublich komplex und beeindruckend, nehmen die gesamten Seitenwände der endlos langen Waggons ein.
„Voilà“, sagt Alain und deutet mit dem Arm. Meinen Blick von den anderen Graffitis lösend, schaue ich nach vorne.
Das riesige Bild, vor dem wir stehen, besteht aus verschiedenen Einzelteilen. Zentrales Motiv ist ein Junge, der eine umgedrehte Basecap trägt. Ich überlege, ob Tiger sich wohl selbst gesprüht hat. Das Gesicht des Jungen ist verzerrt, auf den zweiten Blick erkennt man auch, warum. Eine Klaue dringt ihm von hinten durch die Brust, zerreißt ihn, als wäre er zweidimensional und aus Papier.
Für einen Augenblick starren wir beide nur auf das Bilder, keiner von uns sagt etwas. Dann fragt Dirty: „Was hält er dort in seiner Hand?“ Der Junge hält etwas in der ausgetreckten Hand, als wolle er es gerade schmeißen – wie eine Granate oder einen Molotov-Cocktail.
„Sieht aus wie eine Fleur de Lys“, antworte ich. Er schüttelt den Kopf, macht einen Schritt nach vorne. Stellt fest:„Das ist das Zeichen der Fremdenlegion.“ An Alain gewandt, fragt er: „Legion Étrangère?“ Der Mechaniker nickt. Dirty zeigt nach vorne: „Das ist wie die Lilie, aber mit sieben Strahlen. Und stellt eine Handgranate dar.“
Ich kann erkennen, was er meint. Denke darüber nach, was es bedeutet, dass Tiger sich damit dargestellt hat. Falls er wirklich der Junge auf dem Bild ist.
Aber da ist noch mehr. Der Boden ist eine angedeutete Szene aus der Hölle – Kohlen, Glut, ich sehe einen Dreizack. Eingerahmt wird das Bild von etwas, das ich zuerst für Ranken halte. Es sind Tentakel – in jeder Größe, alle mit kleinen Saugnäpfen.
Im Hintergrund kann man riesige Kreuze auf Hügeln sehen – wie das in Brasilien, oben auf dem Berg. Die Hälfte von ihnen brennt. Was auf den ersten Blick durch die bunten Farben und die weichen Formen wie ein fröhliches Bild aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als illustrierter Alptraum. Mir schnürt sich der Hals zu. „Wie alt ist das Bild? Wann hat Tiger das gesprüht?“
Dirty gibt die Frage an Alain weiter. „Das hat er vor etwa vier Jahren gemacht. Kurz bevor er weg ist, sagt er.“
„Warum gibt es das Bild noch? Sprühen die Jungs hier nicht andauernd gegenseitig über ihr Zeug?“ Es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass in so langer Zeit niemand Tigers Bild angerührt hat.
Alain antwortet, erklärt. Es dauert länger. Geduldig warte ich, bis Dirty anfängt zu übersetzen. Betrachte inzwischen intensiv das Bild – das nächste Puzzlestück. Sind wir noch bei den Ecken? Oder versuche ich längst, die Mitte zusammenzusetzen?
„Tiger war ein guter Freund von einem der Gangleader hier. Ein Kerl namens Mercure. Der hat dafür gesorgt, dass niemand das Bild anrührt, als Tiger verschwunden ist. Der Knabe ist offenbar relativ häufig hergekommen und hat es sich angesehen.“
Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Dirty hatte Recht: Jede Spur führt immer nur zum nächsten Hinweis. Es gibt kein totes Ende.
„Wo können wir diesen Mercure finden?“
Alain antwortet. Mein Kopf zuckt herum, als ich seinen Tonfall höre. Dirtys Erklärung ist fast überflüssig. „Der Kerl ist tot. Wurde vor zwei Wochen bei einer Messerstecherei umgebracht. Ist eine Gang-Geschichte gewesen.“
Ich fühle mich, als hätte jemand gleichzeitig Ton und Farbe weggedimmt. Plötzlich habe ich nichts mehr - keine Spur, keinen Hinweis. Nur noch Asche. Ich starre erneut auf Tigers Bild und verspüre ein Ziehen im Magen, als ob mir gleich schlecht wird.
Nach einer weiteren halben Stunde steckt er kurz den Kopf aus der Werkstatt, brüllt uns etwas rüber und verschwindet mit einem Achselzucken wieder.
„Der Motor“, brummt Dirty und schiebt seinen Hintern auf dem porösen Stein zurecht. Ich stehe auf, vertrete mir die Beine.
Zwischendrin kommen zwei junge Männer an uns vorbei geschlendert. Tief sitzende Hosen, weite Shirts. Einer ist Weißer, der andere Araber. Sie mustern uns eingehend, während sie langsam an uns vorbeigehen. Kurz darauf kommen sie zurück – lassen uns erneut nicht aus den Augen. Dirty hält den Kopf gebeugt, spuckt auf den staubigen Beton. „Lass die Penner“, murmelt er leise, als er meine Unruhe spürt.
Beim dritten Mal bleibt einer von ihnen kurz stehen, sagt was. Dirty schüttelt den Kopf, ohne aufzusehen. Der Typ zögert, Dirty sagt noch ein, zwei Worte. Dann verziehen sich die beiden langsam. „Was war das?“, will ich wissen.
„Dealer“, antwortet er. Dann fragt er mit einem Seitenblick und einem fetten Grinsen: „Brauchst du was? Direkt aus Algerien.“
Noch einmal fast eine Stunde später ist es endlich soweit: Alain schreckt uns auf, als er unvermittelt vor uns tritt. Er trägt eine helle Trainingshose, neue Sneaker und ein Kapuzenshirt. Als er sich an der Brust kratzt, sehe ich, dass seine Finger immer noch fast schwarz sind. Die werden in diesem Leben vermutlich auch nicht mehr sauber, denke ich. Kann mich noch erinnern, wie lange Luisa mir immer Vorhaltungen gemacht hat, wenn ich meinen Bock reparieren musste. Aus den feinen Rissen in der Haut war die Motorschwärze tagelang nicht weggegangen.
Alain entschuldigt sich, erzählt wieder etwas von dem V8. Ich nicke ungeduldig. „Was ist das für ein Bild?“, will ich wissen.
Er setzt kurz an, um es zu erklären, macht dann eine einladende Handbewegung. „Allez!“
Schweigend laufen wir eine Weile hintereinander her, und immer, wenn ich ansetze, um erneut zu fragen, hebt er nur die Hand. „Patience.“ Dirty macht sich nicht die Mühe, zu übersetzen.
Nach einer Weile biegt Alain auf eine Brachfläche ein. Wir verlassen den Gehweg aus gebrochenen und schadhaften Betonplatten und laufen durch wildes Gras, Löwenzahn und jede Menge Brennnesseln. Links und rechts wird die freie Fläche wie immer von den massiven Türmen eingerahmt, und für einen kurzen Augenblick kommt es mir so vor, als würden wir in eine Wildnis eindringen. Dschungel. Ich muss an Brunos Widmung in dem Schachbuch denken.
Der Boden wird uneben und immer wieder von Senken und kleinen Hügeln durchbrochen. Manche umgehen wir, andere wiederrum durch- und überquert Alain ohne zu Zögern. Ich kann keine Regel erkennen, nach der er diese Entscheidungen trifft.
Überall liegt Müll – blitzt zwischen dem staubbedeckten Grün auf. Als wäre die Natur hier nur eine dünne Schicht, die jemand über die Zivilisation und ihrem Dreck ausgebreitet hat. Als würde sie schamhaft versuchen, sich zu bedecken wie ein junges Mädchen mit einem zu kleinen Handtuch.
Dirty tritt eine alte PET-Flasche zur Seite und flucht. Er hat längst keinen Bock mehr. Ich fürchte, lange kann Alain uns nicht mehr hinhalten.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, deutet er mit dem Arm nach vorne. Lächelt. Ich sehe nichts. Aber ein paar Meter weiter stoßen wir auf die ersten Schienen. Zugewuchert, wie alles andere auch. Trotzdem habe ich das Gefühl wie ein Verirrter, der plötzlich auf einen Weg stößt. Völlig egal, wohin der führt – Hauptsache, es gibt eine klare Richtung.
Wir folgen den Schienen und kurz darauf taucht eine Gruppe von geduckten Schuppen vor uns auf. Vor ihnen stehen Güterwaggons, sicher ein Dutzend oder mehr. Wie alt die Wagen sind, ist nicht zu erkennen – jede verfügbare freie Fläche von ihnen ist mit buntem Lack eingesprüht.
Wahrscheinlich wurden die Wagen hier seit Jahren nicht wegbewegt – vergessen, als bessere Zeiten fluchtartig das Viertel verlassen haben. Seitdem toben sich die Kids hier aus.
„Sein Bild ist – gesprüht?“, frage ich, während ich auf die Wagen starre. Dirty übersetzt, Alain nickt. Wir laufen weiter auf die Wagen zu.
Der junge Franzose führt uns an einer ganzen Reihe von ihnen vorbei, und ich habe Mühe, auf meine Füße zu achten. Nicht zu stolpern. Viele der gesprühten Bilder sind unglaublich komplex und beeindruckend, nehmen die gesamten Seitenwände der endlos langen Waggons ein.
„Voilà“, sagt Alain und deutet mit dem Arm. Meinen Blick von den anderen Graffitis lösend, schaue ich nach vorne.
Das riesige Bild, vor dem wir stehen, besteht aus verschiedenen Einzelteilen. Zentrales Motiv ist ein Junge, der eine umgedrehte Basecap trägt. Ich überlege, ob Tiger sich wohl selbst gesprüht hat. Das Gesicht des Jungen ist verzerrt, auf den zweiten Blick erkennt man auch, warum. Eine Klaue dringt ihm von hinten durch die Brust, zerreißt ihn, als wäre er zweidimensional und aus Papier.
Für einen Augenblick starren wir beide nur auf das Bilder, keiner von uns sagt etwas. Dann fragt Dirty: „Was hält er dort in seiner Hand?“ Der Junge hält etwas in der ausgetreckten Hand, als wolle er es gerade schmeißen – wie eine Granate oder einen Molotov-Cocktail.
„Sieht aus wie eine Fleur de Lys“, antworte ich. Er schüttelt den Kopf, macht einen Schritt nach vorne. Stellt fest:„Das ist das Zeichen der Fremdenlegion.“ An Alain gewandt, fragt er: „Legion Étrangère?“ Der Mechaniker nickt. Dirty zeigt nach vorne: „Das ist wie die Lilie, aber mit sieben Strahlen. Und stellt eine Handgranate dar.“
Ich kann erkennen, was er meint. Denke darüber nach, was es bedeutet, dass Tiger sich damit dargestellt hat. Falls er wirklich der Junge auf dem Bild ist.
Aber da ist noch mehr. Der Boden ist eine angedeutete Szene aus der Hölle – Kohlen, Glut, ich sehe einen Dreizack. Eingerahmt wird das Bild von etwas, das ich zuerst für Ranken halte. Es sind Tentakel – in jeder Größe, alle mit kleinen Saugnäpfen.
Im Hintergrund kann man riesige Kreuze auf Hügeln sehen – wie das in Brasilien, oben auf dem Berg. Die Hälfte von ihnen brennt. Was auf den ersten Blick durch die bunten Farben und die weichen Formen wie ein fröhliches Bild aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als illustrierter Alptraum. Mir schnürt sich der Hals zu. „Wie alt ist das Bild? Wann hat Tiger das gesprüht?“
Dirty gibt die Frage an Alain weiter. „Das hat er vor etwa vier Jahren gemacht. Kurz bevor er weg ist, sagt er.“
„Warum gibt es das Bild noch? Sprühen die Jungs hier nicht andauernd gegenseitig über ihr Zeug?“ Es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass in so langer Zeit niemand Tigers Bild angerührt hat.
Alain antwortet, erklärt. Es dauert länger. Geduldig warte ich, bis Dirty anfängt zu übersetzen. Betrachte inzwischen intensiv das Bild – das nächste Puzzlestück. Sind wir noch bei den Ecken? Oder versuche ich längst, die Mitte zusammenzusetzen?
„Tiger war ein guter Freund von einem der Gangleader hier. Ein Kerl namens Mercure. Der hat dafür gesorgt, dass niemand das Bild anrührt, als Tiger verschwunden ist. Der Knabe ist offenbar relativ häufig hergekommen und hat es sich angesehen.“
Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Dirty hatte Recht: Jede Spur führt immer nur zum nächsten Hinweis. Es gibt kein totes Ende.
„Wo können wir diesen Mercure finden?“
Alain antwortet. Mein Kopf zuckt herum, als ich seinen Tonfall höre. Dirtys Erklärung ist fast überflüssig. „Der Kerl ist tot. Wurde vor zwei Wochen bei einer Messerstecherei umgebracht. Ist eine Gang-Geschichte gewesen.“
Ich fühle mich, als hätte jemand gleichzeitig Ton und Farbe weggedimmt. Plötzlich habe ich nichts mehr - keine Spur, keinen Hinweis. Nur noch Asche. Ich starre erneut auf Tigers Bild und verspüre ein Ziehen im Magen, als ob mir gleich schlecht wird.