Vor vielen Jahren, als es mich in diese Gegend verschlug, las ich in einem Reisebericht, dass ich gleich neben der schönsten Schlucht Europas wohne. Nun, wenn die Ansichten darüber auch verschiedener Art sein werden, so ist diese Schlucht tatsächlich bemerkenswert, auch dann noch, wenn sich das Erstaunen in Gewohnheit wandelt, weil man sie täglich durchquert und das nicht immer in ein Vergnügen ausartet.
Durch diese Schlucht führt eine normale Landstrasse, wenn sie auch über längere Strecken infolge der besonderen Umstände einspurig verläuft, die kleine aber wichtige Ortschaften miteinander verbindet. In den Dörfern auf der einen Seite gibt es weder Schulen, noch Einkaufsmöglichkeiten, keinen Arzt und keinen Friseur. Auf der anderen Seite der Schlucht hingegen finden wir all diese lebensnotwendigen Einrichtungen, so dass es einen munteren Autoverkehr gibt.
Da Touristen gerne Sehenswürdigkeiten besichtigen und überall und ständig auf der Suche nach solchen sind, kommen sie auch scharenweise in unsere Schlucht. Die einspurige Strasse ist mit kleinen Ausweichmöglichkeiten versehen, doch der Tourist glaubt weder richtig an die Einspurigkeit, noch, dass dies eine normale Landstrasse ist. Er lebt ganz in der Vorstellung, es handele sich um eine außerordentliche Natursehenswürdigkeit, gratis noch dazu.
Er fährt also hinein und ob der großen Schönheit erstaunt, parkt er sein Auto in einer Ausweichmöglichkeit, steigt mit Fotoutensilien bewaffnet aus, Kind und Hund hinterher, um staunend jeden Felsezacken aufs Bild zu bannen, mit der Gattin davor oder lieber dahinter. Indessen folgen andere Touristen von der einen oder anderen Seite, nicht minder erstaunt über die Höhe der Schlucht, die Enge der Kurven und das tosende Wasser am Grunde. Die Begeisterung ist allgemein, doch nicht unbedingt auf Seiten der einheimischen Mutter, die gerade ihr Kind von der Schule abholen will oder des Großvaters, der einen Arzt aufsuchen muss. Es bildet sich folgerichtig ein Stau, der nur noch schwer aufzulösen ist, so dass Leute schon Stunden an diesem schönen Ort unfreiwillig zubrachten.
Da gibt es also einen Interessenkonflikt und obwohl hier sehr viele Leute vom Tourismus leben, werden Begebenheiten, wie die folgende von den Einheimischen mit einem gewissen Vergnügen erzählt. Jedes Jahr verunglücken wenigstens ein Tourist auf die eine oder andere Weise, aber immer infolge seiner Unkenntnis der Verhältnisse in diesem Landstrich.
Letzten Sommer hielt einer in völliger Dunkelheit sein Auto an, weil ein dringendes Bedürfnis nach Befriedigung drängte und ließ ihn ins Dunkle treten. Seine Frau im Auto wartete vergeblich, denn er war einen Schritt zu weit gegangen.
Er konnte nur noch tot vom Grunde der Schlucht geborgen werden.
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