Als ich sie das nächste Mal sehe, kommt es mir vor, als sei sie gealtert. Um mindestens 10 Jahre.
Es war nicht einmal eine Woche her, seit wir zusammen Wassereis essend auf der Brücke im Wald gesessen und wir einfach nur geredet haben. Sie hatte das rote und ich das grüne. Es hat chemisch und künstlich geschmeckt, aber einfach gut, so gut und so nach uns. Unsere Beine baumelten über dem Wasser und meine Stirn lehnte an dem trockenen Holz der Brückenpfahle, von dem die dunkelgrüne Farbe blätterte.
Dieser Ort hätte früher nicht zu ihr gepasst. An der Wand hängt ein Kreuz und ich überlege es abzunehmen, entscheide mich dann aber doch dagegen. Das Zimmer ist ohnehin leer genug, weiß und irgendwie sticht es in den Augen… nicht, dass es sie gestört hätte.
Ihre trüben matschigen Augen ziert eine aggressive Röte, wie Risse, die sich von ihren feuchten Augenwinkeln bis hin zu der Schlammpfütze um ihre Pupille herumziehen. Die brombeerblaue Flecken unter ihnen, die ihre Papierhaut durchweichen und sie aufzulösen scheinen sind nicht zu übersehen, währen ihre purpurroten zerbissenen Lippen das Gesamtbild nur noch komplettieren.
Ich flüstere leise ihren Namen, als ich die Tür schließe.
„Em.“, wispere ich und mache leise Schritte auf ihr Bett zu. Es hallt schrecklich. Ich setze mich auf den Stuhl vor sie, überlege, wieviele Menschen sich wohl ähnlich gefühlt haben mussten, als sie hier saßen. Ich habe Mitleid mit ihnen und fürchte mich vor mir selbst.
Minuten vergehen, bis sie mich ansieht. Diese Schlammpfützen mich anstarren, als ob sie mich verschlingen wollten und ich mich nervös in meine teure Bluse kralle, die sie mir letzten Sommer geschenkt hat. Es schnürt mir nicht nur die Kehle, sondern auch mein Herz ab.
„Em, was ist passiert?“, sage ich und mein dürres Stimmchen bricht angesichts des starren Ausdrucks, der ihr Gesicht zu einer starren Maske formt.
Emily lacht dann leise und mir so fremd.
Einen Moment lang kommt es mir noch belustigt vor, dann einfach nur zerstört und zerpflückt. Nichtmehr goldglänzend, nicht einmal mehr matt schimmernd. Es scheint mir, als habe sie sich der Tristheit des Zimmers angepasst.
Meine Tasche fällt mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden und fahrig hebe ich sie auf, wie um meine eigene Unsicherheit zu überspielen, öffne mit zitternden Händen den Reißverschluss und wühle darin.
„I – Ich hab dir was mitgebracht.“, stammele ich leise, suche noch konzentrierter. Halte inne, krame. Halte inne.
Weine.
Meine Tränen tropfen auf den hellblauen Stoff meiner Tasche und sprenkeln ihn dunkelblau.
Das ist doch absurd, denke ich. Niemals hätte es soweit kommen sollen, niemals, Emily. Niemals.
Ich hole das kleine Päckchen hervor. Das Geschenkpapier wellt sich schon an einigen Stellen. Bevor es noch schlimmer wird lege ich es ihr in den Schoß und sie mustert es mit einer eigenartigen Art von Gleichgültigkeit und Leere.
Sie zupft an dem Papier, wickelt ganz vorsichtig das Geschenkband ab und öffnet dann die dunkelgraue Schachtel. Meine Hände verkrampfen sich, die Hoffnung glüht fast unerträglich heiß. Ich starre sie an, warte auf etwas, das mir bekannt vorkommt. Etwas, das sie erinnert, den Glanz in ihren Augen zurückbringt, das Lächeln zurückzaubert und ihr hektisch pochendes Herz beruhigt.
Doch sie klappt das Kästchen langsam wieder zu, stellt es neben sich und sagt höflich und wie auswendiggelernt „Danke“.
Nein, NEIN.
Ich schlinge meine Arme um ihren ausgezehrten Körper, weine um sie und um uns. Jeder einzelne Knochen, jeder gespannte Muskel bricht mir mehr und mehr das Herz.
„Emily“, schreie ich. „Emily, was haben sie mit dir gemacht?“
Ich klammere mich schluchzend an ihr fest und ich suche. Suche den Halt, den ich ihr gegeben habe und alles was mal war. Kralle mich zitternd und vom Nachruf alter Zeiten zerschmettert an sie.
Was ist mit dir passiert, Emily.
Sag mir, was hat dich gebrochen.