Freehand

Roman zum Thema Frust

von  Mutter

Wir fahren Richtung Osten, auf den Wrangelkiez zu. Manu sitzt hinter mir, klammert sich wie beim letzten Mal an mir fest.
Broussard hatte mir die Adresse von seinem Kumpel genannt und ich hatte Manu davon berichtet, als sie ins Wohnzimmer kam. „Fein, lass uns was frühstücken und dann los – oder?“, hatte sie vorgeschlagen.
Aber das Essen hatte sich als wenig lustvoll herausgestellt – zu groß war meine Anspannung, zu stark das Bedürfnis, sich sofort auf den Weg zu machen. Also hatte Manu ihre halbe Schale Kaffee in einem Satz geleert sich kurz einen Klecks Butter und zwei Scheiben Käse auf ein Brötchen geknallt. „Fertig!“, hatte sie verkündet und war aufgestanden. „Komm, lass uns los – so bist du ohnehin völlig ungenießbar.“
Ich gebe Gas, um am Schlesischen Tor noch bei dunkel-orange rechts abzubiegen und Kurs auf die Brücke rüber nach Treptow zu nehmen.
„Hier muss es irgendwo sein“, brülle ich durch den Helm nach hinten und spüre ihr Nicken zwischen den Schulterblättern. Wir suchen beide in den ungeordneten Kreuzberger Hauseingängen nach der richtigen Nummer, aber es ist Manu, die mir plötzlich auf die Schulter haut und nach schräg vorne zeigt. Ich nicke und passe eine Lücke im Gegenverkehr ab, um auf den gegenüberliegenden Gehsteig zu rollen.
Es ist ein schöner Morgen, mit angenehmen Temperaturen. Ein hauchdünner weißer Schleier liegt über dem Himmel, verspricht aber, später der Sonne zu weichen.
Die mit Tags und Graffiti völlig zugeschmierte Haustür ist unverschlossen – was auch gut ist, da man auf den Klingelschildern fast nichts lesen kann.
„Zweiter Stock, hat Broussard gesagt.“
Manu nickt und steigt hinter mir die Treppe hoch. Oben klopfe ich laut an die Tür. Es gibt zwar auch eine Klingel, aber ich glaube nicht daran, dass sie funktioniert. 
Ich kann Geräusche auf der anderen Seite hören, und kurz darauf macht uns ein junger Mann mit nacktem Oberkörper die Tür auf. Sein einziges Kleidungsstück besteht aus einer ausgebeulten Trainingshose.
„Sodom?“
Er nickt, kratzt sich durch die verwuschelten Haare. „Broussard hat euch schon angekündigt. Kommt rein, ich muss mir nur kurz was anziehen.“ Er geht und lässt die Tür offen stehen.
Zögernd betreten wir den Flur. Hätte uns Broussard nicht gesagt, dass er ein Sprayer ist – spätestens jetzt hätten wir es gewusst. Jeder freie Fleck Tapete ist mit Bildern besprüht, überall stehen und liegen Lackdosen herum und auf einer niedrigen Kommode sind jede Menge Schablonen aus Pappe gestapelt.
Sodom kommt wieder in den Flur und zieht sich einen Pullover direkt über den sehnigen Körper. Sein Sixpack verschwindet und ich bemerke Manus Blick, muss lächeln. Es scheint ihr nicht peinlich zu sein – sie lächelt ebenfalls und zuckt mit den Achseln. Macht man halt, will sie scheinbar sagen. Ich nicke.
„Wollen wir runter gehen? Ich müsste mir mal Frühstück besorgen.“
Im Rausgehen zeige ich auf die Schablonen und frage: „Machst du auch Streetart?“
Er lacht und schüttelt den Kopf. „Die sind von meinem Mitbewohner. Der hält sich für den Banksy von Berlin. Für mich gibt’s nur Freehand“, erklärt er stolz. Ich muss lächeln – nachdem, was ich von Tiger gesehen habe, hätte er das Gleiche sagen können.
Unten auf der Straße geht er zielstrebig zu einem kleinen Kiosk und wir finden heraus, dass sein Frühstück aus vier Flaschen Sternburg Pils in einer dünnen Plastiktüte besteht.
„Wollen wir runter zum Ufer? Da kann man gut sitzen.“ Als wir nicht sofort reagieren, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu: „Und Kronenkorken schwimmen lassen.“
Kurz darauf hocken wir auf einem schmalen, steilen Hang am Landwehrkanal. Um uns herum liegt jede Menge Müll, und die spärlichen Büsche kränkeln vor sich hin. Immerhin ist der Ausblick auf den grünen Uferstreifen auf der anderen Seite nicht schlecht.
Sodom lässt das erste Bier ploppen und bietet uns ebenfalls eins an. Wir lehnen dankend an.
„Mehr für mich“, stellt er gleichmütig fest und setzt zu einem langen Schluck an.
Langsam werde ich ungeduldig. „Was ist mit Tiger? Broussarrd sagt, du hast ihn gesehen?“
„Korrekt. Ist aber schon eine Weile her. Seitdem ist er nicht mehr aufgetaucht.“
„Wie lange genau ist das her?“
„Warum ist das so wichtig?“ Er nimmt einen weiteren langen Zug aus der Flasche. Ich gebe ihm die Zeit. Nach einem Rülpser fährt er fort: „Etwas über zwei Wochen – ein, zwei Tage drüber.“
„Broussard meinte. Er sei ziemlich hektisch abgehauen.“
Sodom nickt eindringlich. „Auf jeden. Das war der Telefonanruf, der hat ihn komplett geschmissen. Danach war er so schräg drauf.“
„Was für ein Anruf?“ Ich merke, wie sich mein Puls beschleunigt.
Sodom zuckt mit den Schultern, leert den Rest vom Pils in einem Satz. Schmeißt die Flasche ins Gras und sagt: „Schenk ich den Sammlern.“ Er zuckt mit den Schultern und macht sich das nächste Bier mit seinem Feuerzeug auf. „Er war im Bad, unter der Dusche. Sein Handy hat geklingelt, und ich bin ran. Wir haben einen Anruf von der Posse erwartet“, fügt er hinzu, als müsse er sich dafür rechtfertigen. Ich winke ungeduldig ab. Mir wäre auch egal, wenn er heimlich Tigers Liebesbriefe lesen würde – solange er uns nur davon erzählt. „Wer war das? Wer hat ihn angerufen?“
„Keine Ahnung. Aber es war jemand mit französischem Akzent. Erst dachte ich, Broussard will uns verarschen. Der macht manchmal so’n Scheiß. Also habe ich mitgespielt.“
„Aber es war nicht Broussard“, stelle ich fest.
Sodom grinst um sein Bier herum. „Ich hätt’s an der Stimme merken müssen – zu alt und zu tief. Das schafft der Broussard nicht. Jedenfalls hat der Typ nicht gesagt, wer er ist. Obwohl ich gefragt habe. Der wollte nur wissen, wo Tiger ist. Hat was auf Französisch gesagt – weiß nicht, was. Als ich dann gefragt habe, was das soll, und ob das ein Scherz sein soll, hat er Deutsch geredet und nach Tiger gefragt.“
„Und dann?“, dränge ich.
„Ich habe ihm gesagt, dass Tiger unter der Dusche ist und ob ich was ausrichten soll. Dann hat der Penner einfach aufgelegt.“ Sodom scheint immer noch beleidigt darüber zu sein. Er nimmt einen weiteren Schluck Bier.
„Was hat Tiger dazu gesagt?“
„Als ich ihm das erzählt habe, ist der kreidebleich geworden, dem ist komplett das Gesicht auseinandergefallen. Der hat mir das Handy aus der Hand gerissen und mit zittrigen Fingern die Nummer gechecked.“
„Kannte er die?“ Ich merke erst, wie flatterig mir selbst zumute ist, als ich Manus beruhigende Hand auf meinem Oberschenkel fühle. Dankbar schicke ich ein Lächeln in ihre Richtung.
„Was weiß ich. Entspannter ist er danach jedenfalls nicht gewesen. Hat sich angezogen, sein Zeug zusammengepackt und ist ohne große Erklärung abgehauen. Ich habe ein paarmal versucht, aus ihm herauszukriegen, was passiert ist. Aber er hat irgendwie nur konfuse Scheiße gelabert. Der war komplett aus der Spur – Reifenschaden bei über zweihundert Sachen. Aber total.“ Wie um die Wirkung seiner Worte zu unterstreichen, setzt er die Flasche an den Hals und leert sie in einem endgültigen Zug. Auch die rollt ins Gras und Sodom nimmt sich die nächste aus der Tüte. „Seid ihr sicher, dass ihr nicht wollt? Noch ist welches da.“
Manu antwortet mit einem Lächeln: „Danke, wir haben schon gefrühstückt.“
Kurz darauf sind wir beide auf dem Weg zurück zu meiner Maschine. Sodom lassen wir am Landwehrkanal zurück. Während wir gehen, fragt Manu: „Was hältst du davon?“
Missmutig trete ich nach einem kaputten Plastikbecher, verfehle ihn aber. „Das ist doch wieder totaler Mist. Alles Sackgassen, nirgendwo geht es irgendwie weiter. Scheiße!“

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(19.07.10)
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