Teil 06
Roman
von AnastasiaCeléste
Wenig später trat er über den Hintereingang in einen leer stehenden Elektroladen ein. Eine schmale Treppe führte ihn hinunter in den Keller und die ehemaligen Lagerräume des kleinen Ladens.
Unter der massiven Eisentür im hinteren Bereich des Kellers, war ein leichter Lichtschimmer auszumachen.
Zielstrebig ging er darauf zu und war nicht überrascht, kurz vor der Tür von einem hellen Strahler angeleuchtet zu werden, der als Bewegungsmelder seinen Dienst tat.
Wohlwissend, dass auf der anderen Seite der Tür nun ein rotes Lämpchen als Alarmsignal aufleuchten und sich zeitgleich eine winzige Überwachungskamera anschalten würde, versuchte Asher trotz der Blindheit, die dieses helle Licht verursachte, ein breites Grinsen hervorzubringen.
Es folgte ein kurzes Surren und die Tür öffnete sich. Ein schlanker Mann mit kurzem blondem Haar steckte seinen Kopf hinaus und wechselte seinen misstrauischen Blick sofort in einen willkommen Heißenden. „Nun mach schon auf, Ian!“ lachte Asher und öffnete die Tür soweit, dass er bequem hineinschlüpfen konnte.
Ein metallisches Krachen verriegelte die Hochsicherheitspforte wieder. Der große Blonde folgte seinem Gast zu seiner gemütlichen Sofaecke, wo dieser sich schon niedergelassen hatte. „Mit dir hätte ich ja jetzt nicht gerechnet und schon gar nicht allein!“ sagte er mit einer eindeutigen Frage im Unterton.
„Frag lieber nicht! Das hier war reine Flucht!“, gab Asher zu verstehen und nahm die Colaflasche entgegen, die ihm Ian reichte. Seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten, dass er verstand, er kannte seinen Kumpel Ave und somit auch seine Launen.
Ian war als ehemaliger Arbeitskollege von Aves und Ashers Vater ein guter Freund der Familie. Als er damals im Krankenhaus anfing, war er noch regelrecht grün hinter den Ohren, bis Ashers Vater ihn unter seine Fittiche nahm und aus ihm schnell einen ansehnlichen Arzt machte. Oft war er bei seinem Mentor zum Essen eingeladen und so ergab sich schnell eine enge Freundschaft, auch zu den beiden Söhnen, die über den Tod deren Eltern anhielt.
Als sich die Lage in der Stadt zuspitze und das Krankenhaus in die Hände von Corvin fiel, gehörte er zu den Ärzten, die in einer Nacht- und Nebelaktionen das Weite suchten, bevor es zu spät war. Denn heute herrschten dort Zustände, die rein gar nichts mehr mit der Hilfsbereitschaft am Mitmenschen zu tun hatte. Corvin sah das Krankenhaus nur als eine lukrative Geldmacherei, schließlich braucht jeder mal einen Arzt. Den verbliebenen Ärzten waren die Hände gebunden, sie lebten unter einer strengen Bewachung durch Corvins Gorillas. Wollte man sich behandeln lassen, musste man erst einmal auspacken, egal ob man am verbluten war oder schwerkrank. Ohne Geld war Gesundheit nun ein Luxus, außer man kannte einen Arzt wie Ian, der versteckt noch seiner ehrlichen Arbeit nachging, immer in Angst, von einem Anhänger Corvins entdeckt und ausgeliefert zu werden. Denn Leute wie er, versauten ihm das Geschäft, wenn die Patienten nicht mehr auf die Klinik angewiesen waren. Natürlich war auch Ian auf Bezahlung seiner Patienten angewiesen, aber das war nur ein lächerlicher Bruchteil von dem was der Boss verlangte.
Ian, ließ sich auf einem Sofa nieder, sein junger Freund schien wirklich genervt, aber zugleich wusste er auch, dass Asher unglaublich in Sorge war. Trotz Ave’s Machenschaften mit Corvin, blieb er den beiden Brüdern treu. Er wusste das Ave diesbezüglich eine Art Doppelleben führte. Für Corvin war er der loyale Handlanger. Aber privat, war Ave alles andere als der befürwortende Killer, der Corvin aufs kleinste Wort verehrte. Ave war sich bewusst was er tat, und er tat es, weil er damals Schutz in der Verbundenheit mit dem eigentlichen Feind suchte. Und nicht zuletzt, weil er nicht mehr aus dieser Verbundenheit hinauskommen würde, zumindest nicht unversehrt. Dazu war er schon zu lang in diesem Geschäft und die enge, gar vertraute Bindung zu Corvin zu mächtig. Also schöpfte Ave deren Vorteile aus, wenn auch für einen sehr hohen Preis. Einen nie enden wollenden inneren Kampf mit sich selbst, seinem Gewissen und dem Verstand.
„Gibt es etwas Neues?“, wollte Asher wissen. Der Ältere schien nachzudenken. Er atmete einmal tief durch.
„Nichts was irgendwie besonders wäre.“ Ian wog die Flasche in seiner Hand, wohl bewusst, dass Asher auf weitere Worte wartete.
Ein schweres Seufzen. „Ich hatte gestern ein junges Mädchen hier. Ihr Freund hat sie hergebracht. Er fand sie mit zehn Messerstichen in ihrer Wohnung.“ Er legte eine bedrückende Pause ein. „Ich konnte nicht mehr viel tun…“ Ian nahm einen Schluck aus der Flasche. Asher merkte seine Anspannung. Dieser Fall beschäftigte ihn.
Der junge Arzt fuhr sich durchs Haar. „Asher ich hab schon so soviel erlebt und gesehen, glaub mir, ein erstochenes Mädchen ist da schon nicht Besonderes mehr. Aber dieses Bild. Diese Szene. Er trat wie wild gegen die Tür. Ich dachte, da wäre sonst wer. Und als ich öffnete, stand er da blutüberströmt, mit ihr in den Armen. Sie war eigentlich schon tot. Aber er flehte mich so verzweifelt an, ihr zu helfen. Er war regelrecht weggetreten. Wiederholte immer wieder und wieder er hätte sie so gefunden, ich solle sie retten. Sie hatten beide das gleiche Tattoo an den Handgelenken, zwei ineinandergewobenen Ketten, wie ein ewiges Band.“ Er atmete tief aus. „Sie waren noch wirklich, verstehst du? Kein Drogenabhängiges Junkiepärchen, das sich mal in einem Club kennen gelernt hat. Deren Beziehung nur so lange hält, bis einer etwas Besseres findet.“ Asher nickte stumm. „Sie waren ehrlich, liebten einander, so wie man sich normalerweise lieben sollte - in einer normalen Welt.“ „Ich verstehe was du meinst“, erklärte Asher. „So etwas ist selten.“ Ian nickte. Dieser Fall würde ihn noch eine Weile mitnehmen. Zumindest solange, bis der nächste geschundene Körper auf seinem Operationstisch lag und um Leben rang.
Eine Weile des Schweigens legte sich über die Freunde.
„Gibt es etwas Neues an der Front?“ brach Ian schließlich die Stille. „Wenn dazu zählt, dass Corvin immer größenwahnsinniger wird, auch wenn man eigentlich keine Steigerung mehr erwartet hatte, dann ist das was Neues.“ „Was meinst du?“ Asher, stieß laut die Luft aus seinen Lungen. „Ave hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass er plant, seinen Machtkreis Richtung Westen auszuweiten. Er wittert dort gute Geschäftsmöglichkeiten. Kein Wunder, nachdem er hier schon alle ausgeschöpft hat. Er will weitere Clubs aufmachen. Einer dieser Sklavenschuppen reicht ihm wohl nicht aus. Wollen wir hoffen, dass es dort Leute gibt, die stark genug sind ihm standzuhalten, auch wenn ich das ehrlich gesagt bezweifle“, gab Asher resigniert zu. Ian lachte bitter auf. „Als ob irgendetwas diesen Kerl aufhalten könnte. Glaub mir, was wir gerade erleben, ist erst der Anfang.“
Das darauf wiederkehrende Schweigen, symbolisierte beidseitige Zustimmung. Manchmal tat es einfach gut nicht allein zu sein mit seinen Gedanken, die auf Sturm deuteten. Mit Ian als Freund war es einfacher, über so etwas zu reden oder aber auch zu Schweigen, als mit einem Bruder, der so schwierig zu verstehen war, in seiner Kompliziertheit, gepaart mit einer derart gefährlichen Aura.
~4~
Die Zeit hat ihren Dienst getan, die Läufe der Waffen sind abgekühlt und mit ihm auch Aves überhitztes Gemüt. Er hat sich in seinen gewohnten Mantel aus Kälte gehüllt und seine Emotionen sorgfältig wieder verschlossen. Er war wieder ganz der Fels, an dem alles zerschellt, an dem abprallt, was Schaden oder Schwäche verursachen könnte. Er war wieder der Alte, Ave, wozu letztendlich vielleicht auch eine unerwartete Geste von Corvin beitrug.
Corvin hatte sich von seiner ziemlich seltenen, großherzigen Seite gezeigt, die aber wie alles andere eigentlich nur aus purer Berechnung resultierten konnte.
Ein paar Tage zuvor, empfing er Ave mit einem Zweitschlüssel und einer wohlwollenden finanziellen Extrazulage in seiner Privatloge. Der alte, schwarze, 67er Chevy Impala wechselte schmerzlos seinen Besitzer, mit der Begründung, er würde doch eigentlich eh nur von seinem Lieblingsmitarbeiter gefahren. Ave nahm das Geschenk dankend an. Mit der Zeit hatte er sich mit dem treuen Oldtimer angefreundet. Schließlich begleitete er seinen neuen Besitzer als ständigen „Dienstwagen“ schon seit einigen Jahren. War Zeuge jener Taten, die sich schmerzhaft in alle beteiligten Seelen bohrten, wahrte aber Schweigen, jedes Mal. Er stand ihm stets beruhigend mit seinem tiefen Grollen zur Seite, wenn Aves Nerven überreizt zuckten, während sich kleine Blutflecken in das alte Leder seiner Sitze schmiegten und so sämtliche Aufträge dokumentierten.
Auch an diesem Tag hatte der Wagen seinen neuen Besitzer an seinen Bestimmungsort gebracht. Er stand an seinem angestammten Platz in der Tiefgarage von Corvins Club. Das „Innocent“ bebte um diese Uhrzeit und machte seinem, natürlich mit ordentlich Ironie und Sarkasmus bedachtem Namen alle Ehre. Schuld und Unschuld, Attribute, die wahrscheinlich schon ausgestorben waren, lagen in diesem Zeitalter und diesem Gebäude sehr, sehr eng beieinander.
Ave hatte seinen üblichen Tresenplatz eingenommen und spielte den wortlosen Beobachter. Er mischte sich nie wirklich unter das feiernde Volk auf den Tanzflächen. Nein, er war ein Beobachter. Er analysierte sein Umfeld. Berufskrankheit wahrscheinlich, aber so wusste man immer was einen erwarten würde.
Versunken in das bunte Treiben, legten sich plötzlich von hinten zwei zarte Hände auf seine Schultern, um sich langsam über seine Brust bewegend, zu einer liebevollen Umarmung zu formen. Ein wissendes Lächeln umspielte Aves Lippen, eine von ihm wirklich selten benutze Mimik.
„Hallo, mein dunkler Schatten“, hauchte es warm an seinem Ohr. Er schaute über seine Schulter in zwei grüne, mandelförmige Augen, die ihn regelrecht anstrahlten, zusammen mit einem bezaubernden Lächeln.
Eine kleine, zarte Fee, mit schwarzen, langen Haaren umkreiste ihn, bis sie sich vor ihm auf einem der hohen Barhocker setzte. Immer noch lächelnd, musterte sie nun ihren Gegenüber, während ihre schlanken Beine, trotz High-Heels in der Luft baumelten. „Colby“, sagte Ave leise und wirkte dabei ganz anders, als noch vor wenigen Sekunden. Seine Stimme war entspannt, vielleicht sogar weicher als sonst. „Wie geht es dir?“, fragte sie ehrlich interessiert, ohne damit eine dieser Small-Talk Floskeln zu benutzen.
„Spätestens jetzt kann es mir nur gut gehen“, antwortete Ave und sein Lächeln wurde intensiver. Colby, war sichtlich erfreut über diese Antwort. Ave gab seinen Beobachterposten auf. Nun konzentrierte er sich einzig und allein auf die kleine, junge Frau. Colby, sie war etwas Besonderes hier. Und noch viel besonderer für ihn selbst., denn sie beide verband etwas, dass man wirklich eine zarte Freundschaft nennen konnte. Etwas, dass in diesen Mauern sehr selten war und noch viel seltener in Aves Innerem.
Sie gehörte Corvin, wie so ziemlich jedes andere weibliche Wesen hier ebenfalls. Aber genau diese Tatsache, hatte sie vor ein paar Jahren zusammengeführt. Sie hatte ihn aufgefangen, als ihn sein Selbsthass quälte, als er noch ein Frischling war. Corvin hatte sie für ihn auserwählt, um ihn all seine überflüssigen Gedanken vergessen zu lassen. Sie hatten viele Nächte miteinander verbracht. Doch es waren nicht die leidenschaftlichen, intimen Momente, die eine solche Beziehung knüpften. Es waren die vielen Nächte, in denen sie einfach nur da war, ihm half seinen eisernen Panzer zu verlassen. Mit ihm redete, vollkommen uneingenommen ihm gegenüber, von Anfang an wohlwissend, wer er war und welche Aufgabe er hatte. Sie verurteilte ihn nie, sagte ihm nie was er zu tun und lassen hatte, versuchte nie ihm etwas einzureden. Und in diesen Nächten war es nicht nur Ave, der sich öffnete. Auch Colby vertraute sich ihm an. Sie erzählte ihm alles, was sie quälte, was sie erlebt hatte und ihre persönlichsten Gedanken, Ängste und Träume. Sie waren einander wie Therapiepartner. Beide brachten sie ihrem Boss Geld, jeder auf seine Weise, beide litten sie auf ihre Weise.
„Ich hab gehört, du hast endlich deinen Wagen bekommen?“, begann Colby zu plaudern. Ave nickte. „Wer weiß, wo der Hacken ist…“ gab er zurück und bestellte bei dem vorbeigehenden Barmädchen die nächste Runde für Colby und sich.
„Abwarten, früher oder später wird der Haken schon ans Licht kommen!“ Sie griff nach dem kühlen Glas, das gerade vor ihr abgestellt wurde und ließ den ersten Schluck genüsslich langsam ihre Kehle hinunter gleiten.
In ihren Augenwinkeln lag Corvins Loge, deren Scheiben schon den ganzen Abend verspiegelt waren. Sie fühlte sich noch immer unwohl, wenn sie hier unten auf Männerfang war, nicht wissend ob ihr Boss jede ihrer Bewegungen beobachtete oder nicht. Dieses ständige Kribbeln im Nacken, erdrückte sie jeden Abend aufs Neue.
Ave spürte ihre Anspannung und so tat er ihr den Gefallen, in dem er Ihr zuvor kam. Er nahm sein Glas, stand auf und machte ihr im Vorbeigehen deutlich, dass sie ihm folgen sollte. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Selten folgte sie einem Mann so bereitwillig wie Ave, der sich nun einen Weg durch die Menge bahnte. Immer darauf bedacht, dass er ihre Hand noch an seinem Arm spürte, um sie nicht zu verlieren. Seine Größe und nicht zuletzt seine Bekanntheit sorgten für einen unbeschwerten Weg durch die Menschenmassen. Er hielt zielstrebig auf eine kleine, dunkle Sitznische zu, eine der Wenigen, die Corvin von oben nicht einsehen konnte. Ein Blick seinerseits genügte, um dem einsamen Mann, der dort auf das nächstbeste Mädchen wartete, zu symbolisieren, dass er verschwinden sollte, was er schlauerweise auch tat.
Colby ließ sich dicht neben Ave auf dem weichen Ledersofa sinken, während sie ein leises „Danke“ hauchte. Ave sah sie an. Sein Blick ruhte tief in ihren leuchtenden Augen. „Ich hasse das ebenso wie du“, gab er leise, aber ernst zu und strich ihr dabei vorsichtig eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ave spürte sofort ihr Nähebedürfnis, als sich ihr zarter Körper unbewusst immer näher an seinen drängte. Das hier war anders, ehrliche Nähe. Keine gespieltes Nähebedürfnis, dass sie fremden Männern vorspielte, während alles in ihr dagegen rebellierte. Als Ave ihr einen Arm um die Schultern legte, lag ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht und sie kuschelte sich in seine beschützenden Arme, wie ein kleines Kätzchen, das Wärme suchte.
Derartig sanfte und zurückhaltende Berührungen war sie kaum gewohnt, schon gar nicht wenn man diesen Mann kannte, der sie berührte. Sie wusste diese kleinen Gesten von ihm zu schätzen. Sie hinterließen jedes Mal eine feine Spur, einen Hinweis darauf, dass es irgendwo vielleicht Männer gab, die nicht nur ihren Körper kaufen wollten, auf Zeit. Männer, die sie ernsthaft begehren und der sie selbst vielleicht ihr seelenloses, krankes Herz schenken konnte. Doch niemals würde sie Aves Berührungen falsch deuten. Colby wusste, dass sich dieser Mann nie für eine derartige Emotionen öffnen konnte und würde. Er schloss so etwas fremdartiges wie Liebe kategorisch aus. Liebe war für ihn zu gefährlich, konnte schnell zu einem Schwachpunkt werden. Geliebte Menschen sind der Beste Angriffspunkt für den Feind, weil er weiß, dass man sie nie verlieren will. Von einer Sekunde auf die Nächste kann aus Liebe Leid werden, eine Entscheidung auf Leben und Tod. Sie war einfach zu kompliziert für diese, seine Welt.
Sie überließen sich dem Schweigen, während sie das Treiben in der riesigen Halle beobachteten und es an sich vorbeiziehen ließen. Bis Aves Aufmerksamkeit von etwas geweckt wurde, dass zu Glauben er kaum imstande war. Er musterte sein Ziel und beobachtete es eine Weile. Keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt saß eine junge Frau auf dem Schoß eines untersetzten Mannes mittleren Alters, der dem Anschein nach förmlich gefesselt von seiner Gespielin war. Seine Hände wanderten unentwegt über ihren Körper, der nicht älter als zwanzig sein konnte. Und jedes Mal wenn er sie aufs Neue berührte, ging ein Zucken durch ihren Körper. Es war jedoch nicht das übliche Zurückzucken, das neue Mädchen noch zeigten, aus Ekel oder Angst. Es war vielmehr ein überraschtes Zucken. So als wäre sie nicht vorbereitet auf die neue Berührung, die aber eigentlich mit Sicherheit erwartet werden konnte.
Ihre Körperhaltung sowie ihre Mimik und Gestik wirkten völlig fremdartig im Vergleich zu denen der anderen Mädchen.
Ihm fielen sofort ihre Augen auf. Sie waren nicht auf diesen Mann gerichtet, wie es üblich für Huren war, die ihrem Kunden damit zeigen wollten, dass ihre ganze Aufmerksamkeit nur ihm galt. Ihre Augen hingegen waren in die Ferne gerichtet, aber sie fixierten nichts, was in einem derart gefüllten Raum schwer war. Sie wirkten leer. Diese Augen sahen nicht.
„Wer ist sie?“ Colby sah auf und löste sich dabei von ihm. Sie hatte die wiederkehrende Angespanntheit nicht nur in seiner Stimme gespürt. Wen konnte er meinen? Sie folgte der Richtung seines Blickes und war wenig überrascht, als sie das Ziel fand, welches sein Interesse hervorrief.
„Das ist einer seiner neuesten Errungenschaften. Elaine. Keine Ahnung wo er sie her hat.“ Colbys Stimme beherbergte etwas Trauriges. „Sie ist blind.“ Stellte Ave fest und stellte somit die kontroverse Perversion dar, die in dieser Tatsache steckte.
„Richtig, sie ist blind. Und bevor du fragen kannst, was sie Corvin bringen kann. Er weiß, dass es für fast alles seine Liebhaber gibt. Es gibt genügend Fetische, die die meisten Menschen nicht verstehen können.“ Colby beobachtete nun ebenfalls die skurrile Szene.
„Du glaubst gar nicht, wie reizvoll es für manche Männer ist, eine völlig wehrlose Frau ihren Besitz nennen zu können. Stell dir nur mal vor, was man mit ihr in ihrer gezwungen devoten Position alles anstellen könnte.“ In ihrer Stimme schwangen nun sämtliche tiefe, sexuelle Abgründe mit, die nur jemand kennen konnte, der Personen mit diesen dunklen Fantasien höchstselbst oft genug ausgesetzt war.
Das war einer der nicht allzu raren Momente, in denen auch Ave noch eines besseren belehrt werden konnte über seinen exzentrischen Boss. Corvin schaffte es also immer noch seine üble Grausamkeit zu übertreffen.
Dieses blinde Mädchen schaffte es in dem sonst so kühlen, abgestumpften Ave einen Hauch von Mitleid und Wut hervorzurufen. Darauf musste er erst einmal einen Trinken und schnappte sich von der nächsten vorbeilaufenden Kellnerin ein Cognac-Glas, ungeachtet für wen dieser gute Tropfen gedacht war. Der Hochprozentige beruhigte ihn wieder ein wenig. Er versuchte diese neuen Abgründe hinter sich zu lassen und konzentrierte sich wieder auf seine Freundin, die sich zurück in seiner schützenden Umarmung befand.
Nach einer Weile des bloßen, stillen Zusammenseins, hob sie ihren Kopf und suchte seinen Blick, der nur selten so liebevoll wirkte, wie in dem Moment als er ihren Blick mit seinem auffing.
„Schenkst du mir diese Nacht?“ fragte Colby kaum hörbar, wobei diese kleine Frage aber so eine Intensität aufwies, dass es Ave fast wehtat. Sie bat ihn um ein paar Stunden der Freiheit. Und er war der Einzige, der ihr diese Freiheit schenken konnte.
Es ist lange her, seit er sie mit sich genommen hatte, raus aus diesen Gefängnismauern, die das Innocent für sie waren.
Sein Status erlaubte es ihm ohne Erklärungen, jedes der Mädchen hier für gewisse Stunden mit sich zu nehmen. Während Corvin davon ausgehen würde, dass Ave sich mit seiner Lieblingshure an irgendeinem ausgefallenem Ort vergnügen wollte, konnte Colby etwas für sie so Wertvolles erfahren, dass sie nicht selten zu einem ganz anderen Menschen aufblühte.
Diese seltenen Stunden, befreiten sie von ihrem alltäglichen, körperlichen Dienst an den Freiern, die sie nur als Ware nahmen. Als ihren Besitz, den sie bezahlten.
Ave hätte ihr diese Bitte niemals abgeschlagen. Er konnte seiner Freundin nichts Besseres geben als Zeit - Zeit zu leben.
Er drückte ihr einen leichten Kuss auf das wellige, seidige Haar, der sie augenblicklich gegen aufsteigende Tränen ankämpfen ließ. Sie leerten synchron ihre Gläser, bevor Ave sie hinaus geleitete. Vorbei an mehreren Sicherheitsgorillas, die Ave höchstens ein süffisantes Lächeln schenkten, als Anerkennung für seine gute Wahl.
Draußen in der Tiefgarage, wartete der alte Chevy, der ihr in diesem Moment wie ein Fluchtwagen vorkam. Sie ließ sich dankbar auf den Beifahrersitz gleiten, während Ave schon den grollenden Motor anließ.
Als sie den Club hinter sich gelassen hatten, entspannte sich Colby hörbar mit einem langen Seufzer neben ihm. „Irgendeinen Wunsch, wo du hin möchtest?“ Ave sah sie neugierig an.
Colby versank in ein gedankenvolles Lächeln. Diese Frage entfachte eine schillernde Palette von geheimen Antworten, denen sich ihr persönlicher rettender Ritter hinter dem Steuer wohl bewusst war.
Natürlich wollte sie nichts lieber, als so weit weg wie möglich von ihrem Tyrann. In andere Länder, Hauptsache weg, für immer. Dabei konnte man eigentlich nie weit genug weg sein von Corvin. Er hatte einfach zu lange Fühler, die sich unendlich weit ausstrecken ließen.
Dementsprechend beschränkte sie sich auf einen kleinen, bescheidenen Wunsch: „Können wir ans Meer fahren?“
Ave überraschte dieser Wunsch keineswegs. Es war nur verständlich, dass sie raus wollte, weg von diesem schillernden Trubel. Weg von dieser nie enden wollenden Party, auf der sie die ewige Schauspielerin war, hinein in völlige, zeitlose Ruhe.
Ave steuerte zielsicher durch das grau-schwarze Betonlabyrinth in Richtung Küste. Die fahrt war gehüllt in Schweigen. Aber dies war ein zufriedenes Schweigen, ein dankbares, an dem sich Colby nährte. Das ihre Seele entspannte, sie einhüllte in einen seltenen Frieden.
Unter der massiven Eisentür im hinteren Bereich des Kellers, war ein leichter Lichtschimmer auszumachen.
Zielstrebig ging er darauf zu und war nicht überrascht, kurz vor der Tür von einem hellen Strahler angeleuchtet zu werden, der als Bewegungsmelder seinen Dienst tat.
Wohlwissend, dass auf der anderen Seite der Tür nun ein rotes Lämpchen als Alarmsignal aufleuchten und sich zeitgleich eine winzige Überwachungskamera anschalten würde, versuchte Asher trotz der Blindheit, die dieses helle Licht verursachte, ein breites Grinsen hervorzubringen.
Es folgte ein kurzes Surren und die Tür öffnete sich. Ein schlanker Mann mit kurzem blondem Haar steckte seinen Kopf hinaus und wechselte seinen misstrauischen Blick sofort in einen willkommen Heißenden. „Nun mach schon auf, Ian!“ lachte Asher und öffnete die Tür soweit, dass er bequem hineinschlüpfen konnte.
Ein metallisches Krachen verriegelte die Hochsicherheitspforte wieder. Der große Blonde folgte seinem Gast zu seiner gemütlichen Sofaecke, wo dieser sich schon niedergelassen hatte. „Mit dir hätte ich ja jetzt nicht gerechnet und schon gar nicht allein!“ sagte er mit einer eindeutigen Frage im Unterton.
„Frag lieber nicht! Das hier war reine Flucht!“, gab Asher zu verstehen und nahm die Colaflasche entgegen, die ihm Ian reichte. Seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten, dass er verstand, er kannte seinen Kumpel Ave und somit auch seine Launen.
Ian war als ehemaliger Arbeitskollege von Aves und Ashers Vater ein guter Freund der Familie. Als er damals im Krankenhaus anfing, war er noch regelrecht grün hinter den Ohren, bis Ashers Vater ihn unter seine Fittiche nahm und aus ihm schnell einen ansehnlichen Arzt machte. Oft war er bei seinem Mentor zum Essen eingeladen und so ergab sich schnell eine enge Freundschaft, auch zu den beiden Söhnen, die über den Tod deren Eltern anhielt.
Als sich die Lage in der Stadt zuspitze und das Krankenhaus in die Hände von Corvin fiel, gehörte er zu den Ärzten, die in einer Nacht- und Nebelaktionen das Weite suchten, bevor es zu spät war. Denn heute herrschten dort Zustände, die rein gar nichts mehr mit der Hilfsbereitschaft am Mitmenschen zu tun hatte. Corvin sah das Krankenhaus nur als eine lukrative Geldmacherei, schließlich braucht jeder mal einen Arzt. Den verbliebenen Ärzten waren die Hände gebunden, sie lebten unter einer strengen Bewachung durch Corvins Gorillas. Wollte man sich behandeln lassen, musste man erst einmal auspacken, egal ob man am verbluten war oder schwerkrank. Ohne Geld war Gesundheit nun ein Luxus, außer man kannte einen Arzt wie Ian, der versteckt noch seiner ehrlichen Arbeit nachging, immer in Angst, von einem Anhänger Corvins entdeckt und ausgeliefert zu werden. Denn Leute wie er, versauten ihm das Geschäft, wenn die Patienten nicht mehr auf die Klinik angewiesen waren. Natürlich war auch Ian auf Bezahlung seiner Patienten angewiesen, aber das war nur ein lächerlicher Bruchteil von dem was der Boss verlangte.
Ian, ließ sich auf einem Sofa nieder, sein junger Freund schien wirklich genervt, aber zugleich wusste er auch, dass Asher unglaublich in Sorge war. Trotz Ave’s Machenschaften mit Corvin, blieb er den beiden Brüdern treu. Er wusste das Ave diesbezüglich eine Art Doppelleben führte. Für Corvin war er der loyale Handlanger. Aber privat, war Ave alles andere als der befürwortende Killer, der Corvin aufs kleinste Wort verehrte. Ave war sich bewusst was er tat, und er tat es, weil er damals Schutz in der Verbundenheit mit dem eigentlichen Feind suchte. Und nicht zuletzt, weil er nicht mehr aus dieser Verbundenheit hinauskommen würde, zumindest nicht unversehrt. Dazu war er schon zu lang in diesem Geschäft und die enge, gar vertraute Bindung zu Corvin zu mächtig. Also schöpfte Ave deren Vorteile aus, wenn auch für einen sehr hohen Preis. Einen nie enden wollenden inneren Kampf mit sich selbst, seinem Gewissen und dem Verstand.
„Gibt es etwas Neues?“, wollte Asher wissen. Der Ältere schien nachzudenken. Er atmete einmal tief durch.
„Nichts was irgendwie besonders wäre.“ Ian wog die Flasche in seiner Hand, wohl bewusst, dass Asher auf weitere Worte wartete.
Ein schweres Seufzen. „Ich hatte gestern ein junges Mädchen hier. Ihr Freund hat sie hergebracht. Er fand sie mit zehn Messerstichen in ihrer Wohnung.“ Er legte eine bedrückende Pause ein. „Ich konnte nicht mehr viel tun…“ Ian nahm einen Schluck aus der Flasche. Asher merkte seine Anspannung. Dieser Fall beschäftigte ihn.
Der junge Arzt fuhr sich durchs Haar. „Asher ich hab schon so soviel erlebt und gesehen, glaub mir, ein erstochenes Mädchen ist da schon nicht Besonderes mehr. Aber dieses Bild. Diese Szene. Er trat wie wild gegen die Tür. Ich dachte, da wäre sonst wer. Und als ich öffnete, stand er da blutüberströmt, mit ihr in den Armen. Sie war eigentlich schon tot. Aber er flehte mich so verzweifelt an, ihr zu helfen. Er war regelrecht weggetreten. Wiederholte immer wieder und wieder er hätte sie so gefunden, ich solle sie retten. Sie hatten beide das gleiche Tattoo an den Handgelenken, zwei ineinandergewobenen Ketten, wie ein ewiges Band.“ Er atmete tief aus. „Sie waren noch wirklich, verstehst du? Kein Drogenabhängiges Junkiepärchen, das sich mal in einem Club kennen gelernt hat. Deren Beziehung nur so lange hält, bis einer etwas Besseres findet.“ Asher nickte stumm. „Sie waren ehrlich, liebten einander, so wie man sich normalerweise lieben sollte - in einer normalen Welt.“ „Ich verstehe was du meinst“, erklärte Asher. „So etwas ist selten.“ Ian nickte. Dieser Fall würde ihn noch eine Weile mitnehmen. Zumindest solange, bis der nächste geschundene Körper auf seinem Operationstisch lag und um Leben rang.
Eine Weile des Schweigens legte sich über die Freunde.
„Gibt es etwas Neues an der Front?“ brach Ian schließlich die Stille. „Wenn dazu zählt, dass Corvin immer größenwahnsinniger wird, auch wenn man eigentlich keine Steigerung mehr erwartet hatte, dann ist das was Neues.“ „Was meinst du?“ Asher, stieß laut die Luft aus seinen Lungen. „Ave hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass er plant, seinen Machtkreis Richtung Westen auszuweiten. Er wittert dort gute Geschäftsmöglichkeiten. Kein Wunder, nachdem er hier schon alle ausgeschöpft hat. Er will weitere Clubs aufmachen. Einer dieser Sklavenschuppen reicht ihm wohl nicht aus. Wollen wir hoffen, dass es dort Leute gibt, die stark genug sind ihm standzuhalten, auch wenn ich das ehrlich gesagt bezweifle“, gab Asher resigniert zu. Ian lachte bitter auf. „Als ob irgendetwas diesen Kerl aufhalten könnte. Glaub mir, was wir gerade erleben, ist erst der Anfang.“
Das darauf wiederkehrende Schweigen, symbolisierte beidseitige Zustimmung. Manchmal tat es einfach gut nicht allein zu sein mit seinen Gedanken, die auf Sturm deuteten. Mit Ian als Freund war es einfacher, über so etwas zu reden oder aber auch zu Schweigen, als mit einem Bruder, der so schwierig zu verstehen war, in seiner Kompliziertheit, gepaart mit einer derart gefährlichen Aura.
~4~
Die Zeit hat ihren Dienst getan, die Läufe der Waffen sind abgekühlt und mit ihm auch Aves überhitztes Gemüt. Er hat sich in seinen gewohnten Mantel aus Kälte gehüllt und seine Emotionen sorgfältig wieder verschlossen. Er war wieder ganz der Fels, an dem alles zerschellt, an dem abprallt, was Schaden oder Schwäche verursachen könnte. Er war wieder der Alte, Ave, wozu letztendlich vielleicht auch eine unerwartete Geste von Corvin beitrug.
Corvin hatte sich von seiner ziemlich seltenen, großherzigen Seite gezeigt, die aber wie alles andere eigentlich nur aus purer Berechnung resultierten konnte.
Ein paar Tage zuvor, empfing er Ave mit einem Zweitschlüssel und einer wohlwollenden finanziellen Extrazulage in seiner Privatloge. Der alte, schwarze, 67er Chevy Impala wechselte schmerzlos seinen Besitzer, mit der Begründung, er würde doch eigentlich eh nur von seinem Lieblingsmitarbeiter gefahren. Ave nahm das Geschenk dankend an. Mit der Zeit hatte er sich mit dem treuen Oldtimer angefreundet. Schließlich begleitete er seinen neuen Besitzer als ständigen „Dienstwagen“ schon seit einigen Jahren. War Zeuge jener Taten, die sich schmerzhaft in alle beteiligten Seelen bohrten, wahrte aber Schweigen, jedes Mal. Er stand ihm stets beruhigend mit seinem tiefen Grollen zur Seite, wenn Aves Nerven überreizt zuckten, während sich kleine Blutflecken in das alte Leder seiner Sitze schmiegten und so sämtliche Aufträge dokumentierten.
Auch an diesem Tag hatte der Wagen seinen neuen Besitzer an seinen Bestimmungsort gebracht. Er stand an seinem angestammten Platz in der Tiefgarage von Corvins Club. Das „Innocent“ bebte um diese Uhrzeit und machte seinem, natürlich mit ordentlich Ironie und Sarkasmus bedachtem Namen alle Ehre. Schuld und Unschuld, Attribute, die wahrscheinlich schon ausgestorben waren, lagen in diesem Zeitalter und diesem Gebäude sehr, sehr eng beieinander.
Ave hatte seinen üblichen Tresenplatz eingenommen und spielte den wortlosen Beobachter. Er mischte sich nie wirklich unter das feiernde Volk auf den Tanzflächen. Nein, er war ein Beobachter. Er analysierte sein Umfeld. Berufskrankheit wahrscheinlich, aber so wusste man immer was einen erwarten würde.
Versunken in das bunte Treiben, legten sich plötzlich von hinten zwei zarte Hände auf seine Schultern, um sich langsam über seine Brust bewegend, zu einer liebevollen Umarmung zu formen. Ein wissendes Lächeln umspielte Aves Lippen, eine von ihm wirklich selten benutze Mimik.
„Hallo, mein dunkler Schatten“, hauchte es warm an seinem Ohr. Er schaute über seine Schulter in zwei grüne, mandelförmige Augen, die ihn regelrecht anstrahlten, zusammen mit einem bezaubernden Lächeln.
Eine kleine, zarte Fee, mit schwarzen, langen Haaren umkreiste ihn, bis sie sich vor ihm auf einem der hohen Barhocker setzte. Immer noch lächelnd, musterte sie nun ihren Gegenüber, während ihre schlanken Beine, trotz High-Heels in der Luft baumelten. „Colby“, sagte Ave leise und wirkte dabei ganz anders, als noch vor wenigen Sekunden. Seine Stimme war entspannt, vielleicht sogar weicher als sonst. „Wie geht es dir?“, fragte sie ehrlich interessiert, ohne damit eine dieser Small-Talk Floskeln zu benutzen.
„Spätestens jetzt kann es mir nur gut gehen“, antwortete Ave und sein Lächeln wurde intensiver. Colby, war sichtlich erfreut über diese Antwort. Ave gab seinen Beobachterposten auf. Nun konzentrierte er sich einzig und allein auf die kleine, junge Frau. Colby, sie war etwas Besonderes hier. Und noch viel besonderer für ihn selbst., denn sie beide verband etwas, dass man wirklich eine zarte Freundschaft nennen konnte. Etwas, dass in diesen Mauern sehr selten war und noch viel seltener in Aves Innerem.
Sie gehörte Corvin, wie so ziemlich jedes andere weibliche Wesen hier ebenfalls. Aber genau diese Tatsache, hatte sie vor ein paar Jahren zusammengeführt. Sie hatte ihn aufgefangen, als ihn sein Selbsthass quälte, als er noch ein Frischling war. Corvin hatte sie für ihn auserwählt, um ihn all seine überflüssigen Gedanken vergessen zu lassen. Sie hatten viele Nächte miteinander verbracht. Doch es waren nicht die leidenschaftlichen, intimen Momente, die eine solche Beziehung knüpften. Es waren die vielen Nächte, in denen sie einfach nur da war, ihm half seinen eisernen Panzer zu verlassen. Mit ihm redete, vollkommen uneingenommen ihm gegenüber, von Anfang an wohlwissend, wer er war und welche Aufgabe er hatte. Sie verurteilte ihn nie, sagte ihm nie was er zu tun und lassen hatte, versuchte nie ihm etwas einzureden. Und in diesen Nächten war es nicht nur Ave, der sich öffnete. Auch Colby vertraute sich ihm an. Sie erzählte ihm alles, was sie quälte, was sie erlebt hatte und ihre persönlichsten Gedanken, Ängste und Träume. Sie waren einander wie Therapiepartner. Beide brachten sie ihrem Boss Geld, jeder auf seine Weise, beide litten sie auf ihre Weise.
„Ich hab gehört, du hast endlich deinen Wagen bekommen?“, begann Colby zu plaudern. Ave nickte. „Wer weiß, wo der Hacken ist…“ gab er zurück und bestellte bei dem vorbeigehenden Barmädchen die nächste Runde für Colby und sich.
„Abwarten, früher oder später wird der Haken schon ans Licht kommen!“ Sie griff nach dem kühlen Glas, das gerade vor ihr abgestellt wurde und ließ den ersten Schluck genüsslich langsam ihre Kehle hinunter gleiten.
In ihren Augenwinkeln lag Corvins Loge, deren Scheiben schon den ganzen Abend verspiegelt waren. Sie fühlte sich noch immer unwohl, wenn sie hier unten auf Männerfang war, nicht wissend ob ihr Boss jede ihrer Bewegungen beobachtete oder nicht. Dieses ständige Kribbeln im Nacken, erdrückte sie jeden Abend aufs Neue.
Ave spürte ihre Anspannung und so tat er ihr den Gefallen, in dem er Ihr zuvor kam. Er nahm sein Glas, stand auf und machte ihr im Vorbeigehen deutlich, dass sie ihm folgen sollte. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Selten folgte sie einem Mann so bereitwillig wie Ave, der sich nun einen Weg durch die Menge bahnte. Immer darauf bedacht, dass er ihre Hand noch an seinem Arm spürte, um sie nicht zu verlieren. Seine Größe und nicht zuletzt seine Bekanntheit sorgten für einen unbeschwerten Weg durch die Menschenmassen. Er hielt zielstrebig auf eine kleine, dunkle Sitznische zu, eine der Wenigen, die Corvin von oben nicht einsehen konnte. Ein Blick seinerseits genügte, um dem einsamen Mann, der dort auf das nächstbeste Mädchen wartete, zu symbolisieren, dass er verschwinden sollte, was er schlauerweise auch tat.
Colby ließ sich dicht neben Ave auf dem weichen Ledersofa sinken, während sie ein leises „Danke“ hauchte. Ave sah sie an. Sein Blick ruhte tief in ihren leuchtenden Augen. „Ich hasse das ebenso wie du“, gab er leise, aber ernst zu und strich ihr dabei vorsichtig eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht.
Ave spürte sofort ihr Nähebedürfnis, als sich ihr zarter Körper unbewusst immer näher an seinen drängte. Das hier war anders, ehrliche Nähe. Keine gespieltes Nähebedürfnis, dass sie fremden Männern vorspielte, während alles in ihr dagegen rebellierte. Als Ave ihr einen Arm um die Schultern legte, lag ein seliges Lächeln auf ihrem Gesicht und sie kuschelte sich in seine beschützenden Arme, wie ein kleines Kätzchen, das Wärme suchte.
Derartig sanfte und zurückhaltende Berührungen war sie kaum gewohnt, schon gar nicht wenn man diesen Mann kannte, der sie berührte. Sie wusste diese kleinen Gesten von ihm zu schätzen. Sie hinterließen jedes Mal eine feine Spur, einen Hinweis darauf, dass es irgendwo vielleicht Männer gab, die nicht nur ihren Körper kaufen wollten, auf Zeit. Männer, die sie ernsthaft begehren und der sie selbst vielleicht ihr seelenloses, krankes Herz schenken konnte. Doch niemals würde sie Aves Berührungen falsch deuten. Colby wusste, dass sich dieser Mann nie für eine derartige Emotionen öffnen konnte und würde. Er schloss so etwas fremdartiges wie Liebe kategorisch aus. Liebe war für ihn zu gefährlich, konnte schnell zu einem Schwachpunkt werden. Geliebte Menschen sind der Beste Angriffspunkt für den Feind, weil er weiß, dass man sie nie verlieren will. Von einer Sekunde auf die Nächste kann aus Liebe Leid werden, eine Entscheidung auf Leben und Tod. Sie war einfach zu kompliziert für diese, seine Welt.
Sie überließen sich dem Schweigen, während sie das Treiben in der riesigen Halle beobachteten und es an sich vorbeiziehen ließen. Bis Aves Aufmerksamkeit von etwas geweckt wurde, dass zu Glauben er kaum imstande war. Er musterte sein Ziel und beobachtete es eine Weile. Keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt saß eine junge Frau auf dem Schoß eines untersetzten Mannes mittleren Alters, der dem Anschein nach förmlich gefesselt von seiner Gespielin war. Seine Hände wanderten unentwegt über ihren Körper, der nicht älter als zwanzig sein konnte. Und jedes Mal wenn er sie aufs Neue berührte, ging ein Zucken durch ihren Körper. Es war jedoch nicht das übliche Zurückzucken, das neue Mädchen noch zeigten, aus Ekel oder Angst. Es war vielmehr ein überraschtes Zucken. So als wäre sie nicht vorbereitet auf die neue Berührung, die aber eigentlich mit Sicherheit erwartet werden konnte.
Ihre Körperhaltung sowie ihre Mimik und Gestik wirkten völlig fremdartig im Vergleich zu denen der anderen Mädchen.
Ihm fielen sofort ihre Augen auf. Sie waren nicht auf diesen Mann gerichtet, wie es üblich für Huren war, die ihrem Kunden damit zeigen wollten, dass ihre ganze Aufmerksamkeit nur ihm galt. Ihre Augen hingegen waren in die Ferne gerichtet, aber sie fixierten nichts, was in einem derart gefüllten Raum schwer war. Sie wirkten leer. Diese Augen sahen nicht.
„Wer ist sie?“ Colby sah auf und löste sich dabei von ihm. Sie hatte die wiederkehrende Angespanntheit nicht nur in seiner Stimme gespürt. Wen konnte er meinen? Sie folgte der Richtung seines Blickes und war wenig überrascht, als sie das Ziel fand, welches sein Interesse hervorrief.
„Das ist einer seiner neuesten Errungenschaften. Elaine. Keine Ahnung wo er sie her hat.“ Colbys Stimme beherbergte etwas Trauriges. „Sie ist blind.“ Stellte Ave fest und stellte somit die kontroverse Perversion dar, die in dieser Tatsache steckte.
„Richtig, sie ist blind. Und bevor du fragen kannst, was sie Corvin bringen kann. Er weiß, dass es für fast alles seine Liebhaber gibt. Es gibt genügend Fetische, die die meisten Menschen nicht verstehen können.“ Colby beobachtete nun ebenfalls die skurrile Szene.
„Du glaubst gar nicht, wie reizvoll es für manche Männer ist, eine völlig wehrlose Frau ihren Besitz nennen zu können. Stell dir nur mal vor, was man mit ihr in ihrer gezwungen devoten Position alles anstellen könnte.“ In ihrer Stimme schwangen nun sämtliche tiefe, sexuelle Abgründe mit, die nur jemand kennen konnte, der Personen mit diesen dunklen Fantasien höchstselbst oft genug ausgesetzt war.
Das war einer der nicht allzu raren Momente, in denen auch Ave noch eines besseren belehrt werden konnte über seinen exzentrischen Boss. Corvin schaffte es also immer noch seine üble Grausamkeit zu übertreffen.
Dieses blinde Mädchen schaffte es in dem sonst so kühlen, abgestumpften Ave einen Hauch von Mitleid und Wut hervorzurufen. Darauf musste er erst einmal einen Trinken und schnappte sich von der nächsten vorbeilaufenden Kellnerin ein Cognac-Glas, ungeachtet für wen dieser gute Tropfen gedacht war. Der Hochprozentige beruhigte ihn wieder ein wenig. Er versuchte diese neuen Abgründe hinter sich zu lassen und konzentrierte sich wieder auf seine Freundin, die sich zurück in seiner schützenden Umarmung befand.
Nach einer Weile des bloßen, stillen Zusammenseins, hob sie ihren Kopf und suchte seinen Blick, der nur selten so liebevoll wirkte, wie in dem Moment als er ihren Blick mit seinem auffing.
„Schenkst du mir diese Nacht?“ fragte Colby kaum hörbar, wobei diese kleine Frage aber so eine Intensität aufwies, dass es Ave fast wehtat. Sie bat ihn um ein paar Stunden der Freiheit. Und er war der Einzige, der ihr diese Freiheit schenken konnte.
Es ist lange her, seit er sie mit sich genommen hatte, raus aus diesen Gefängnismauern, die das Innocent für sie waren.
Sein Status erlaubte es ihm ohne Erklärungen, jedes der Mädchen hier für gewisse Stunden mit sich zu nehmen. Während Corvin davon ausgehen würde, dass Ave sich mit seiner Lieblingshure an irgendeinem ausgefallenem Ort vergnügen wollte, konnte Colby etwas für sie so Wertvolles erfahren, dass sie nicht selten zu einem ganz anderen Menschen aufblühte.
Diese seltenen Stunden, befreiten sie von ihrem alltäglichen, körperlichen Dienst an den Freiern, die sie nur als Ware nahmen. Als ihren Besitz, den sie bezahlten.
Ave hätte ihr diese Bitte niemals abgeschlagen. Er konnte seiner Freundin nichts Besseres geben als Zeit - Zeit zu leben.
Er drückte ihr einen leichten Kuss auf das wellige, seidige Haar, der sie augenblicklich gegen aufsteigende Tränen ankämpfen ließ. Sie leerten synchron ihre Gläser, bevor Ave sie hinaus geleitete. Vorbei an mehreren Sicherheitsgorillas, die Ave höchstens ein süffisantes Lächeln schenkten, als Anerkennung für seine gute Wahl.
Draußen in der Tiefgarage, wartete der alte Chevy, der ihr in diesem Moment wie ein Fluchtwagen vorkam. Sie ließ sich dankbar auf den Beifahrersitz gleiten, während Ave schon den grollenden Motor anließ.
Als sie den Club hinter sich gelassen hatten, entspannte sich Colby hörbar mit einem langen Seufzer neben ihm. „Irgendeinen Wunsch, wo du hin möchtest?“ Ave sah sie neugierig an.
Colby versank in ein gedankenvolles Lächeln. Diese Frage entfachte eine schillernde Palette von geheimen Antworten, denen sich ihr persönlicher rettender Ritter hinter dem Steuer wohl bewusst war.
Natürlich wollte sie nichts lieber, als so weit weg wie möglich von ihrem Tyrann. In andere Länder, Hauptsache weg, für immer. Dabei konnte man eigentlich nie weit genug weg sein von Corvin. Er hatte einfach zu lange Fühler, die sich unendlich weit ausstrecken ließen.
Dementsprechend beschränkte sie sich auf einen kleinen, bescheidenen Wunsch: „Können wir ans Meer fahren?“
Ave überraschte dieser Wunsch keineswegs. Es war nur verständlich, dass sie raus wollte, weg von diesem schillernden Trubel. Weg von dieser nie enden wollenden Party, auf der sie die ewige Schauspielerin war, hinein in völlige, zeitlose Ruhe.
Ave steuerte zielsicher durch das grau-schwarze Betonlabyrinth in Richtung Küste. Die fahrt war gehüllt in Schweigen. Aber dies war ein zufriedenes Schweigen, ein dankbares, an dem sich Colby nährte. Das ihre Seele entspannte, sie einhüllte in einen seltenen Frieden.