Die Motte und das Licht (Kapitel 5)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Der Vierte
                                                                                                ...aus der Hölle nach oben...

Als er erwacht ist das Klopfen verstummt, dafür hört er ein röchelndes Pfeifen, das er erst als es sich wiederholt als menschliche Stimme erkennt. "Hilfe", flüstert die Stimme, wobei sie so schwach ist, dass alles bis auf das "f" von der Schwäche geschluckt wird. "Fffe", flüstert die Stimme.
"Hast du das gehört?", fragt er den Dritten, der ebenfalls erwacht ist und sich aufgesetzt hat. Gemeinsam gehen sie hinaus auf den Flur, suchend blicken sie sich um, doch nichts ist zu erkennen,  unverändert liegt der Gang vor ihnen. "Dort", ruft der  Dritte und lenkt seine Blicke mit einer Handbewegung auf den Boden, in dem er ein kleines Loch entdeckt, das zuvor nicht dagewesen ist, nicht größer als etwa einen Zentimeter Durchmesser, dahinter Bewegung, ein Mund, der sich von unten an die Öffnung presst. "Hilfe", flüstert die Stimme, konzentriertes Leid und Hoffnungslosigkeit. Sofort beginnen sie das Loch zu erweitern, der Boden ist von unten ausgehöhlt, der Beton gibt schnell nach, Gestein rieselt nach unten in die Tiefe. Nach vielleicht einer Viertelstunde ist die Öffnung so groß, dass sie den ausgemergelten Körper des Vierten nach oben ziehen können. "Hilfe", flüstert der Vierte, dann verliert er das Bewusstsein. Mit einem letzten Ruck ziehen sie ihn vollständig nach oben und legen ihn auf den Fußboden.
Er tritt einen Schritt zurück und zwingt sich ruhig zu atmen, um den Anblick ertragen zu können.
Der Vierte ist in einem furchtbaren Zustand, vollständig nackt und so dünn, dass die Haut lose über den Knochen hängt, der Kopf ein grinsender Schädel, die Augen tief in den Höhlen versunken. Ihm fehlt ein Teil des Beines, das knapp unterhalb des Oberschenkels abgetrennt ist; die Wunde ist mit einigen schmutzigen Fetzen abgebunden. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. "Wie viel Leid kann ein menschlicher Körper ertragen", denkt er schaudernd, durch die dünne Haut sieht er das Herz des Vierten in einem wahnsinnigen Takt pumpen, der röchelnde Atem übertönt das Surren der Lampen. In der Hand, die zur Faust geballt ist, hält er einen kleinen Meißel, mit dem er sich einen Weg aus der Hölle nach oben geschlagen hat. Er kann ihn nicht länger anschauen und seine Augen suchen das vertraute Gesicht des Dritten, der einen Schritt zurückgewichen ist und Halt an der Wand des Flures sucht. Er hat Angst, die Wunde am Bein ist nicht alt, das Blut im Verband gerade getrocknet. Er beugt sich hinunter und blickt durch das Loch nach unten, doch es ist nur finster, vollständige Dunkelheit, nichts zu erkennen.
"Was meinst du ist passiert?", fragt der Dritte, doch er sieht in seinen Augen, dass er die Antwort kennt, dass er dasselbe denkt wie er selbst.
Das, was dem Vierten widerfahren ist, kann kein Unfall gewesen sein, der schleichende Hunger, den sie selbst verspüren, ist die wortlose und grausame Erklärung. Jemand hat ihm das Bein abgeschnitten und dieser jemand ist noch dort unten.
"Wir müssen das Loch zumachen", flüstert der Dritte,
"wir müssen es zumachen."

*

Als der Vierte mit einem Schrei erwacht, haben sie das Loch notdürftig verbarrikadiert, eine Liege mit der Oberseite nach unten über die Öffnung geschoben und mit allem, was sie an Gewicht fanden, beschwert, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Barrikade überwinden lässt. Sie laufen hinüber in den Raum, in dem der Vierte liegt, der dort in einer Art Wachkoma vor sich hin vegetiert. Sie haben ihm ein wenig Wasser und einige Löffel Brühe eingeflößt, doch die Verletzung und die Entkräftung sind zu schwer. Sie wissen, dass er sterben wird.
"Bitte nicht", flüstert der Vierte, als sie in den Raum treten, "nicht schneiden, bitte", dann wimmert er ein zitterndes Weinen, dem die Tränen fehlen. Seine Augen sind in Panik getaucht, sein Blick springt wie besessen von ihm zum Dritten und wieder zurück, "bitte nicht", flüstert der Vierte.
Er tritt an das Bett heran und streicht vorsichtig über den Schädel, der vor ihm zurückzuckt, "es wird alles gut", flüstert er in das angstverzerrte Gesicht, "es wird alles gut. Du bist in Sicherheit."       
Die Worte dringen nicht zu ihm durch, doch der Tonfall scheint ihn zu beruhigen. Er trinkt einige Schlucke aus der Flasche, die der Dritte ihm hinhält, die Augen blinzeln, es sieht so aus, als würde er erneut das Bewusstsein verlieren.
"Wer hat dir das angetan?", fragt er, weil er ahnt, dass der Vierte nicht mehr aufwachen wird.
"Der Oberarzt", flüstert der Vierte zwischen zwei rasselnden Atemzügen und "der Gehilfe",
man sieht ihm an, wie viel Kraft ihn diese Worte kosten, die kaum lauter als ein Flüstern sind,
sofort ist da wieder diese Angst in den Augen, es schüttelt ihn, er hustet, spuckt Blut auf das weiße Laken. Dann sammelt er noch einmal alle Kraft, man sieht die Anstrengung in dem ausgezehrten Gesicht, er krallt die Fäuste in das Laken, zieht sich irgendwie nach oben.
"Ich habe doch nichts getan", flüstert der Vierte und schaut sie an, so als suche er in ihren Augen Vergebung. "Ich habe doch gar nichts getan."
"Weißt du, wo wir hier sind?", fragt der Dritte.
Der Vierte flüstert ein letztes Wort und seine Stimme ist nun so schwach,
dass er sich tief über ihn beugen muss, um etwas zu verstehen. Zwei Silben.
Dann ist es fast still. Leise rasselnd hebt der Atem den sterbenden Brustkorb.
Er ist sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hat.
"Was hat er gesagt?", fragt er den Dritten.
"Hölle, ich glaube, er hat 'Hölle' gesagt."
Einige Minuten später stirbt der Vierte.
Wortlos haben sie neben dem Bett ausgeharrt, weil sie hofften, dass er noch einmal zu Bewusstsein kommt, weil sie so viele Fragen und keine Antworten haben.
Es geht ganz schnell, zwischen zwei rasselnden Atemzügen, auf einmal ist es still, der magere Brustkorb hebt sich nicht mehr. Der Dritte fühlt den Puls, obwohl man durch die dünne Haut sehen kann, dass das Herz nicht mehr schlägt.
"Er ist tot."
Schweigend betrachten sie den Vierten.
"Wahrscheinlich sehen wir in einigen Tagen genauso aus", denkt er, aber er spricht es nicht aus, doch in dem Gesicht des Dritten erkennt er, dass dieser ähnliche Gedanken hat.
"Wir dürfen nicht aufgeben", sagt er in die Stille, auch um sich selbst Mut zuzusprechen.
Sie schieben ihn hinüber in den letzten Raum, in dem auch der Andere liegt. Erst dort streicht er ihm die Augenlider zu. Er hat das Bedürfnis etwas zu sagen, als sie dort neben den zwei Leichen stehen, deren Namen sie nicht kennen und über die sie nichts wissen, doch ihm fällt nichts ein, nichts, das Trost spenden würde. Mit sanfter Gewalt entwindet er den Meißel der Hand des Vierten, den dieser bis zuletzt umklammert gehalten hat.
"Wir dürfen nicht aufgeben", sagt er schließlich noch einmal und denkt dabei an Elise und seinen kleinen Sohn, die irgendwo auf ihn warten und für die sich der Kampf lohnt, für die sich jeder Kampf lohnen würde.
"Wir dürfen nicht aufgeben", sagt er, als er die Tür schließt und sie wieder auf dem Flur stehen, der vor der roten Tür endet.
"Wir dürfen nicht aufgeben."

*

Mit dem Meißel des Vierten kommen sie schneller voran, sie wechseln sich ab, die Löffel bleiben im Einsatz; in grimmigem Schweigen arbeiten sie nebeneinander, weil er nicht weiß, was er sagen soll und weil auch der Dritte schweigt. Gelegentlich wandert sein Blick hinüber zur Barrikade, hinter der die Vorstellung die schlimmsten Schreckensbilder evoziert. Er weiß jetzt, dass sie nicht allein sind. Ohne es zu bemerken, ist er in den Rhythmus des Vierten verfallen,
klopf, klopf....klopf,klopf, Stück um Stück sprengt er den Mörtel aus der Fuge, hinter dem bereits das blanke Metall glänzt, klopf, klopf....klopf, klopf, er schaut hinüber zum Dritten, ob auch dieser den Rhythmus erkennt, ob auch er ihn als Salut auf den verstorbenen Vierten begreift, doch der Dritte ist müde, träge hängt sein Blick auf dem stumpfen Löffelstiel, er wischt sich nicht einmal mehr das Blut von den Fingern. Die Augen sind halb geschlossen. "Ruh dich aus", sagt er zum Dritten und so, als hätte dieser auf einen Befehl gewartet, bricht er die begonnene Bewegung im Ansatz ab. Im Vorbeigehen legt er ihm die Hand auf die Schulter, eine kleine Geste, die Anerkennung und Freundschaft bedeutet, "wecke mich, wenn sich etwas verändert",
dann ist der Dritte in der Schlafkammer verschwunden.
Er ist alleine und sofort fühlt es sich anders an in dem schmalen Gang, in dem jedes Geräusch unnatürlich nachhallt, er kann seinen eigenen Atem hören, ein Hecheln, das von der Wand zurückgeworfen wird, und plötzlich hat er Angst, dass auch sie seinen Atem hören, dass die Menschenfresser hinter der Barrikade lauern, dass auch sie seinen Atem hören und warten, bis er ruhiger wird, bis er einschläft. Vielleicht haben sie unbemerkt auch schon einen kleinen Spalt geschlagen, durch den sie ihn beobachten, wie er arbeitet, wie er schwitzt und mit jedem Atemzug schwächer wird. "Ich muss mich konzentrieren", denkt er, "ich muss mich konzentrieren."
Probeweise schiebt er den Meißel unter die freigelegt Metallstrebe und als er sich mit aller Kraft dagegen stemmt, glaubt er, dass sie sich ein klein wenig bewegt, einige Millimeter zurückweicht, um dann umso unerbittlicher zu widerstehen. Dann bemerkt er, wie schwach er auf den Beinen ist, die letzte Anstrengung war zu groß. Auch er braucht eine kleine Pause. Die Arme sind schwer geworden, ebenso die Augenlider. Er geht hinüber zur Barrikade und bettet den Kopf an der Pritsche.
Neben der Barrikade haben sie einen Handtuchhalter platziert, und er ist fest entschlossen auf alles einzuschlagen, was versucht von dort unten emporzukommen. Langsam beruhigt sich sein Atem und hallt gleichmäßig von den Flurwänden zurück. Er schiebt sich den Arm hinter den Kopf und findet eine bequeme Position.

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