Die unerklärlichen Gewaltphantasien des Individuums P. (3)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Version 1.2 (unbekannter Raum I)

Irgendwann erhebt er sich und verlässt das Abteil, tritt auf dem Gang und als er die Abteiltür hinter sich schließt, ist es mit einem Mal eine Zellentür, die geräuschlos zufällt, der Gang ist ein Gefängnistrakt, überall glänzt Metall, nichts erinnert mehr an den zerstörten Zug oder den brennenden Tunnel.
„Wo bin ich?“, stammelt er und stolpert, weil die Fesseln an den Füßen nur kleine Trippelschritte zulassen, „nicht reden“, sagt eine strenge Stimme in seinem Rücken und eine schwere Hand legt sich auf seine Schulter, stützt ihn und schiebt ihn dabei vorwärts, jegliche Gegenwehr wäre zwecklos, das weiß er und so fügt er sich dem Druck, wagt es nicht zurückzublicken und es geht vorwärts durch den Gang, geradewegs auf eine Tür zu, die wie ein Abteil rechts vom Gang abgeht, „stehenbleiben“, sagt die Stimme und schiebt ihn beiseite, um die Tür zu öffnen, sein Gesicht ist ganz nah vor der Wand, er kann seinen eigenen Atem riechen, dann ist da wieder die Hand auf der Schulter, die ihn mit sanfter Gewalt führt wie ein Dressurpferd, wieder vorwärts, durch die Tür in einen unbekannten Raum.

Unbekannter Raum

„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“, fragt der tadellos gekleidete Vernehmungsbeamte, der ihm gegenübersitzt. Langsam schüttelt er den Kopf und schaut dabei an sich hinab. Seine Uniform ist verschwunden. Er trägt Kleidung, die er noch nie zuvor gesehen hat.
„Ich habe manchmal Halluzinationen“, sagt er vorsichtig, weil er nicht weiß, ob er darauf vertrauen soll, dass der Mann dort wirklich real ist, ob er ihm alles erzählen oder doch lieber schweigen soll, „eben war ich beispielsweise noch in einem entgleisenden Zug und jetzt gerade“, er blickt sich in dem fremden Raum um, „wo bin ich eigentlich gerade?“, fragt den Vernehmungsbeamten.
„Sie befinden sich in Untersuchungshaft“, sagt der Mann ohne eine Spur von Sympathie oder Mitleid, „warum bin ich in Untersuchungshaft?“, fragt er zurück, wobei er es in diesem Moment bereits ahnt und schlucken muss, sein Mund ist ganz trocken, er hat Durst.
„Ihnen wird vorgeworfen einen kleinen Jungen mit einem Hammer den Kopf eingeschlagen zu haben. Zudem haben wir, als wir sie schlafend am Tatort vorfanden, bei Ihnen ein Plastiktütchen mit zwei blutverschmierten Fingernägeln gefunden, deren Herkunft bislang noch ungeklärt ist. Fangen wir doch einmal damit an. Woher kommen diese Fingernägel? Ihre sind es ja offensichtlich nicht.“
„Das ist nicht real“, sagt er leise und streicht mit der Hand über den Tisch, „ich will das alles nicht“, sagt er, „ich versuche doch nur das Richtige zu tun, ich bin ein friedlicher Mensch, aber dieser kleine Junge hatte so große Schmerzen und er konnte sich nicht aufrichten, weil seine Arme so dünn waren.“
Obwohl er sich darüber bewusst ist, wie erbärmlich es ist in einer Vernehmung zu weinen, kann er nicht verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen schießen, „ich konnte den Zeitplan nicht einhalten, weil der alte Mann mich aufgehalten hat und er war es auch, der mir die Fingernägel gegeben hat, er hat sie sich selbst aus dem Finger gezogen, so, sehen Sie, so hat er es gemacht“, ruft er und reibt selbst über seinen Fingernagel, so wie der Alte es gemacht hat, reibt so fest, dass es weh tut, aber der Nagel bewegt sich nicht, „beruhigen Sie sich“, sagt der Vernehmungsbeamte vorwurfsvoll, „in Ihrer Krankenakte steht, dass Sie ein schwaches Herz haben, Sie müssen Aufregung vermeiden, atmen Sie erst einmal tief aus und dann wieder ein, ja, so ist es gut“, er atmet im Takt der Anweisungen und wieder tut es gut die Kontrolle abzugeben, „atme für mich“, denkt er.
„Was ist mit meinem Herzen?“, fragt er den Vernehmungsbeamten, „mir ist nicht bekannt, dass da irgendetwas nicht stimmt, „es ist wohl gebrochen“, sagt der Vernehmungsbeamte, „mehr kann ich dazu nicht sagen, ich bin schließlich kein Arzt, lediglich Vernehmungsbeamter.
„Kann ich mit einem Arzt sprechen“, fragt er vorsichtig und der Andere lacht.
„Dafür ist keine Zeit“, antwortet der Vernehmungsbeamte, „es ist jetzt an der Zeit zur Arbeit zurückzukehren, reißen Sie sich doch einmal ein wenig zusammen, wie wollen Sie den Zeitplan einhalten, wenn Sie dauernd abgelenkt sind? Wie wollen Sie leben, wenn Sie nicht einmal unterscheiden können, was wirklich ist und was nicht?“
Damit erhebt sich der Mann und kommt direkt auf P. zu, ihre Blicke treffen sich und P. ist wie gefangen, kann nicht rechtzeitig zurückweichen, so dass der Andere sich an ihm vorbeidrängen muss, um zur Tür zu gelangen.
„Sie haben eine seltsame Arbeitsauffassung“, sagt der Mann, der jetzt kein Vernehmungsbeamter mehr, sondern nur noch ein einfacher Fahrgast ist.
„Entschuldigen Sie bitte“, antwortet der Schaffner P, „ich muss eingeschlafen sein“, ergänzt er und kann nicht verhindern, dass seine Stimme dabei einen bittenden Tonfall annimmt. Verlegen streicht er mit dem Finger über die Uniformknöpfe, während der Andere ohne ein weiteres Wort das Abteil verlässt, „vielleicht ist auch das nicht real“, flüstert eine Stimme von irgendwoher und er ist verwirrt, weil die Stimmen ihm Angst machen, egal ob sie lügen oder die Wahrheit sagen, die Stimmen sind nie real, denkt er, blickt auf seine Armbanduhr und erschrickt, weil er im Zeitplan zurückliegt, drei Waggons weiter müsste er bereits sein und der Rückstand ist bis zur Endstation kaum mehr aufzuholen. Noch einmal tastet er die Uniform ab, so als könnte er irgendetwas finden, dass helfen würde, noch drei Stunden, denkt er, dann tritt er auf den Gang und geht er mit schnellen Schritten zum nächsten Abteil.

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