Die Motte und das Licht (Kapitel 4)
Erzählung
von autoralexanderschwarz
Reminiszenzen
...klopf, klopf.....klopf, klopf...
Das Klopfen ist so leise, dass er es nur hört, wenn er alles andere ausblendet, das Surren der Lampen, den eigenen Herzschlag und die innere Stimme, die immer wieder sagt, dass es nur Einbildung sei, weil er und der Dritte der klägliche Rest der Menschheit sind. Nur wenn er sich von alledem freimacht, kann er es hören, zart und leise, gedämpft durch viele Meter Stahl und Stein, zu unregelmäßig, als dass es eine Maschine sein könnte, eindeutig menschlichen Ursprungs, immer wieder unterbrochen durch einzelne Pausen, in denen der Urheber wohl ruht. Erst das Klopfen hat ihm wieder Hoffnung gegeben ihr Gefängnis aus eigener Kraft zu verlassen, ein Symbol für die Welt dort draußen, die unabhängig von ihnen weiterexistiert, in der vielleicht alles seinen gewohnten Gang geht, erst das Klopfen hat ihn wieder vor die rote Tür gelockt, doch sie ist unüberwindlich, eine Brandschutztür aus massivem Stahl, die - anders als die Glasscheibe - jedem Angriff ungerührt standhält. Keine Klinke, kein Knauf, kein Ansatzpunkt, doch auch sie hat eine Schwachstelle, die er in diesem Moment bemerkt, eine breite Fuge, in die sie eingefasst ist. Als er probeweise mit einem Löffelstiel über den Mörtel kratzt, rieselt sofort Staub hinunter auf den Flurboden, nach einigen Minuten Kratzen und Stochern lässt sich das erste Stückchen herausbrechen. Als er dem Dritten seine Entdeckung zeigt ist dieser voller Begeisterung. Die verbliebenen Dosen reichen aus, um sie noch einige Tage am Leben und bei Kraft zu halten und da
- da sind sie sich einig - alles besser ist als auf den Tod zu warten, beginnen sie mit der Arbeit.
*
Sie arbeiten schweigend nebeneinander, anfangs noch im regen Gespräch, in dem sie Belanglosigkeiten aneinanderreihen, irgendwann gehen ihnen die Worte aus, nur noch das Kratzen der Löffel auf dem Mörtel hallt durch den Flur. Selbst bei höchster Konzentration kann er nicht verhindern, dass er gelegentlich abrutscht und der Finger über die raue Oberfläche streicht. Tausende Bewegungen später bluten die Finger und die Fuge hat sich rot gefärbt. Zwischendurch rüttelt er an dem Türrahmen, der unverändert unbeweglich ihrer Arbeit spottet. Die Gedanken richten sich nach innen, während der Körper die monotone Arbeit verrichtet, er kreist um jenes schwarze Loch, das seine Vergangenheit verschluckt hat. Die ganze Zeit über hat er das Gefühl etwas übersehen zu haben, etwas Wichtiges, doch so sehr er sich auch anstrengt, er kann es nicht erkennen. Er verfällt in Trance, den Arm heben, den Druck erhöhen, den Löffelstiel hinunterziehen,
mit Leichtigkeit nach oben, mit Druck und Kraft nach unten, immer wieder, für die Ewigkeit und während er mit dem Löffel über den Mörtel kratzt, kratzt er auch an der Oberfläche seiner Erinnerungen, ein See aus Stein, in dessen Tiefe er die Antwort auf alle Fragen vermutet.
*
Er steht vor der Badezimmertür und wartet. "Elise", hört er sich rufen und die Worte klingen so, als ob sie aus weiter Ferne kommen, "Elise, wir kommen zu spät."
Er trägt eine Anzughose, ein weißes Hemd, die Standardkleidung für besondere Anlässe.
"Noch fünf Minuten", ruft sie zurück und er muss sich zwingen ruhig zu bleiben; er hasst es, wenn sie zu spät kommen. Er geht im Flur auf und ab und betrachtet die Bilder, die Elise dort aufgehängt hat, Hochzeitsbilder, Elise in weißem Kleid mit zurückgeschlagenem Schleier, daneben ein Bild am Strand, ihre Flitterwochen, sie beide in einem Strandkorb, braungebrannt von der karibischen Sonne, er lächelt auf dem Bild, gutgelaunt und arglos in die Kamera, nur im Gesicht von Elise glaubt er einen Schatten zu erkennen, auch sie lächelt, doch es wirkt nicht echt, ein Unterschied, den nur er sehen kann, die Augen lächeln nicht mit, denkt er, in ihnen liegt bereits die Ahnung von Trauer.
Dann öffnet sich die Badezimmertür und Elise tritt in den Flur, von hinten an ihn heran, ihre Hände umschließen seinen Bauch, er spürt ihre Brüste an seinem Rücken, riecht ihr Parfum.
"Das waren schöne Flitterwochen", sagt sie, anerkennend, aber ein bisschen so, als wollte sie nicht nur ihn sondern auch sich selbst überzeugen.
"Wie sehe ich aus?", fragt sie und als er sich umwendet, ist er - wie so oft - überwältigt von ihrer Schönheit. "Göttin", haucht er in ihr Ohr und sie lächelt.
Als sie die Feier erreichen, dämmert es, die anderen Gäste haben sich bereits über das Areal verstreut, es gibt Stehtische, an denen oberflächliche Gespräche geführt werden. Sie tauchen in die Menge ein, schütteln Hände, tauschen Umarmungen aus und die ganze Zeit denkt er, dass er lieber mit ihr alleine wäre. Im Hintergrund läuft belanglose Musik, es gibt kleine Häppchen, die auf silbernen Tabletts angerichtet sind, und eine halbe Stunde später findet er sich in illustrer Runde an einem der Stehtische wieder, ein Glas Scotch in der Hand, folgt den belanglosen Ausführungen eines früh ergrauten Arbeitskollegen und wirft ab und zu einen Blick in das tief ausgeschnittene Dekolleté von dessen Frau.
"Wir können es uns nicht leisten noch mehr dieser Flüchtlinge aufzunehmen", sagt dieser und zieht an einer überdimensionierten Zigarre. "Irgendwann ist Schluss und es gibt auch einen Punkt, an dem man erst einmal an die eigene Bevölkerung denken muss, ich meine das mitnichten rassistisch,
aber...", er blickt herausfordernd in die Runde, "...jeder bekommt das, was er verdient. Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen einreden, nur weil ein paar Afrikaner im Meer ertrinken. Ich meine, niemand hat sie gezwungen, mit ihren schrottreifen und überladenen Booten in See zu stechen", sagt er, "ihnen fehlt der Respekt vor den Elementen, der Respekt vor dem Meer ebenso wie vor natürlichen Grenzen."
Dies wäre der Moment, um sich einzubringen, denkt er, und den anderen die Dummheit einer solchen Argumentation vor Augen zu führen, doch zugleich weiß er, dass es sinnlos ist, jedes Wort Verschwendung, Elise, er schaut sich nach seiner Frau um, Elise hätte den Streit gesucht und von Idealen gesprochen. Suchend blickt er sich um, doch er kann sie nirgendwo entdecken. Es ist dunkel geworden, die Sonne fast vollständig hinter dem Horizont versunken, bunte Lichter in den Bäumen und zahllose Kerzen erleuchten die Szenerie, doch die Gesichter liegen größtenteils im Schatten.
"Gleiches gilt für die unzähligen Gefangenen, die sich in unseren Gefängnissen auf Staatskosten ein schönes Leben machen. Wir sind alle verweichlicht", sagt der Arbeitskollege, "aber ich habe in diesem Zusammenhang zuletzt von einem vielversprechenden neuen Ansatz gelesen..."
Die Worte gehen an ihm vorbei, er hört nicht zu, sondern versucht Elise in der Schattengesellschaft auszumachen, dann entdeckt er sie, ganz am Rand auf einer Bank, unterhalb eines Strauches, er erkennt ihre Silhouette. Sie ist nicht alleine, jemand ist bei ihr, der ihm bekannt vorkommt, den er nicht erkennen kann, der ihm aber aufgrund seiner Körperhaltung irgendwie bekannt vorkommt.
"Totale Auslöschung", sagt der Arbeitskollege gerade, als er sich mit entschuldigender Geste abwendet, um hinüber zur Bank zu gehen, während er sich fragt, wer dieser Mann ist, dessen Gesicht vollständig im Schatten liegt und den er doch zu kennen glaubt. Auf einmal denkt er, dass es von unendlicher Wichtigkeit ist, dass er dieses Gesicht erkennt, geht schneller, schlängelt sich zwischen spielenden Kindern und tanzenden Pärchen hindurch, schneller, hinüber zur Bank, hat sie fast erreicht...
"Lass uns eine Pause machen", sagt der Dritte und reißt ihn aus seinen Gedanken. Er kommt wieder zu sich, die rote Tür, die rote Fuge, Schmerz und seine blutenden Finger.
*
Das Klopfen ist lauter geworden, als sie im Aufenthaltsraum sitzen und sich eine Dose mit Frühstücksfleisch teilen. "Klopf, klopf....klopf, klopf." Der Urheber des Geräuschs hat in einen Rhythmus gefunden, den er mit kleinen Abweichungen einhält, wobei der zweite Schlag immer ein wenig härter ist als der erste. Es ist unmöglich den genauen Ursprung zu lokalisieren, aber er glaubt, dass es von unten kommt.
"Meinst du, er gräbt einen Tunnel?", fragt der Dritte, nachdem sie eine ganze Weile andächtig gelauscht haben. "Ich weiß es nicht", antwortet er knapp, weil seine Gedanken noch immer um jenen Abend kreisen und er sich fragt, wer der Unbekannte auf der Bank sein könnte. Ein inneres Gefühl hält ihn davon ab dem Dritten von seiner Erinnerung zu erzählen, ein Gefühl, das er nicht begründen kann, weil der Dritte sein Freund - sein einziger Freund - ist. "Klopf, klopf....klopf, klopf", dann auf einmal Stille, nur noch das Surren der Lampen. Wahrscheinlich legt sich der Unbekannte nun schlafen, betrachtet noch einmal sein Tagewerk, um dann in Erschöpfung zu versinken. Mit diesem Gedanken überwältigt ihn selbst eine starke Müdigkeit. Es ist unmöglich zu sagen, wie lange sie gearbeitet haben, aber es müssen viele Stunden gewesen sein. Die Finger haben aufgehört zu bluten, ein zarter Schorf hat sich über die Wunden gelegt, die Gelenke schmerzen und ein Schauder durchläuft ihn bei dem Gedanken jetzt weiter zu arbeiten. "Lass und schlafen", sagt er und entdeckt Zustimmung und Dankbarkeit in den Augen des Dritten.
*
Eine der Zellen haben sie zur Schlafkammer umfunktioniert, die Neonröhren aus der Halterung genommen und zwei Pritschen an die linke und an die rechte Wand geschoben. Nun ist es dunkel und still, nur durch den Spalt unter der Tür dringt ein wenig Licht aus dem Flur in den Raum. Er schließt die Augen und versucht sich zurück in die Szene im Garten zu versetzen, die Lichter in den Bäumen, die Musik, Elise und der Fremde auf der Bank, doch es gelingt nicht. Alles bleibt unecht
und bewegungslos nebeneinandergestellt, leblos wie ein Wachsfigurenkabinett und das Gesicht des Fremden im Schatten. "Klopf, klopf.....klopf, klopf", der Unbekannte nimmt seine Arbeit wieder auf, unermüdlich, doch das Geräusch stört ihn nicht, die Müdigkeit ergreift mehr und mehr von ihm Besitz, es fällt ihm immer schwerer sich auf die Szene im Garten zu konzentrieren, alles wird weich, verschwimmt, der Atem des Dritten ist längst gleichmäßig und ruhig, ergänzt das Klopfen zu einer kleinen minimalistischen Symphonie. Schließlich sinkt sein Kopf zur Seite, alle Fragen verschwinden, er schläft ein. "Klopf, klopf.....klopf, klopf".
*
Er erwacht, weil er ein Kind schreien hört, sein Kind, das er sofort erkennt. Seine Hand tastet nach Elise, doch der Platz im Bett neben ihm ist kalt und leer. Sie muss schon vor einiger Zeit aufgestanden sein. "Elise", ruft er in die Dunkelheit, doch sie antwortet nicht, "Elise", auch ein zweiter Ruf bleibt ohne Reaktion. Er blickt hinüber auf die rotleuchtenden Ziffern des Radioweckers, 2.50 Uhr, mitten in der Nacht, schwerfällig erhebt er sich, dann ist er an der Tür, draußen auf dem Flur, an der Tür zum Kinderzimmer, die sie immer einen Spalt offen lassen.
Die Vorhänge sind nicht zugezogen, draußen am Himmel leuchtet ein voller Mond und wirft ein mystisches Licht in den Raum, am Mobile tanzen Giraffen und Elefanten im Sternenglanz. Dann sieht er sein Kind und sofort durchströmt ihn ein tiefes Gefühl von Liebe, sein Sohn, den wohl ein böser Traum aus dem Schlaf gerissen hat. Als der Kleine ihn sieht, beruhigt er sich, sofort ist er still und schaut ihm mit großen Augen an, ein Lächeln um die Mundwinkel. "Komm her, mein Kleiner", seine Stimme ist voll Zärtlichkeit, als er ihn sanft umfasst und aus dem Gitterbettchen hebt. "Ich bin ja da", sagt er und wiegt ihn sanft, "ich liebe dich so sehr", flüstert er und drückt den kleinen Körper an sich. Wie gut er riecht und wie friedlich.
Er tritt mit ihm ans Fenster und gemeinsam blicken sie hinaus in den Sternenhimmel, Vater und Sohn, eng beieinander, ein Moment stillen und kostbaren Glücks. "Wir sind eine kleine Familie", flüstert er in das kleine Ohr und streichelt ihn mit der Außenseite des Fingers, dort wo die Haut am weichsten ist, über die Wange. "Du und ich", flüstert er, "und nichts und niemand wird uns jemals trennen." Dann wird der Atem seines Sohnes gleichmäßiger, die kleinen Augen fallen zu, er schläft wieder ein, ein Lächeln in dem kleinen Gesicht, ein schöner Traum, er hält ihn noch eine Weile so und bewundert das kleine Gesicht, die feine Nase und die kleinen Augenbrauen, genießt diesen Moment, in dem um ihn herum die Welt versinken und verbrennen könnte, weil er das Kostbarste fest umschlossen in seinen Händen hält. Dann legt er ihn behutsam zurück in das Bettchen. An der Tür bleibt er noch eine Weile stehen, um das kleine Leben durch den Türspalt zu bewundern.
...klopf, klopf.....klopf, klopf...
Das Klopfen ist so leise, dass er es nur hört, wenn er alles andere ausblendet, das Surren der Lampen, den eigenen Herzschlag und die innere Stimme, die immer wieder sagt, dass es nur Einbildung sei, weil er und der Dritte der klägliche Rest der Menschheit sind. Nur wenn er sich von alledem freimacht, kann er es hören, zart und leise, gedämpft durch viele Meter Stahl und Stein, zu unregelmäßig, als dass es eine Maschine sein könnte, eindeutig menschlichen Ursprungs, immer wieder unterbrochen durch einzelne Pausen, in denen der Urheber wohl ruht. Erst das Klopfen hat ihm wieder Hoffnung gegeben ihr Gefängnis aus eigener Kraft zu verlassen, ein Symbol für die Welt dort draußen, die unabhängig von ihnen weiterexistiert, in der vielleicht alles seinen gewohnten Gang geht, erst das Klopfen hat ihn wieder vor die rote Tür gelockt, doch sie ist unüberwindlich, eine Brandschutztür aus massivem Stahl, die - anders als die Glasscheibe - jedem Angriff ungerührt standhält. Keine Klinke, kein Knauf, kein Ansatzpunkt, doch auch sie hat eine Schwachstelle, die er in diesem Moment bemerkt, eine breite Fuge, in die sie eingefasst ist. Als er probeweise mit einem Löffelstiel über den Mörtel kratzt, rieselt sofort Staub hinunter auf den Flurboden, nach einigen Minuten Kratzen und Stochern lässt sich das erste Stückchen herausbrechen. Als er dem Dritten seine Entdeckung zeigt ist dieser voller Begeisterung. Die verbliebenen Dosen reichen aus, um sie noch einige Tage am Leben und bei Kraft zu halten und da
- da sind sie sich einig - alles besser ist als auf den Tod zu warten, beginnen sie mit der Arbeit.
*
Sie arbeiten schweigend nebeneinander, anfangs noch im regen Gespräch, in dem sie Belanglosigkeiten aneinanderreihen, irgendwann gehen ihnen die Worte aus, nur noch das Kratzen der Löffel auf dem Mörtel hallt durch den Flur. Selbst bei höchster Konzentration kann er nicht verhindern, dass er gelegentlich abrutscht und der Finger über die raue Oberfläche streicht. Tausende Bewegungen später bluten die Finger und die Fuge hat sich rot gefärbt. Zwischendurch rüttelt er an dem Türrahmen, der unverändert unbeweglich ihrer Arbeit spottet. Die Gedanken richten sich nach innen, während der Körper die monotone Arbeit verrichtet, er kreist um jenes schwarze Loch, das seine Vergangenheit verschluckt hat. Die ganze Zeit über hat er das Gefühl etwas übersehen zu haben, etwas Wichtiges, doch so sehr er sich auch anstrengt, er kann es nicht erkennen. Er verfällt in Trance, den Arm heben, den Druck erhöhen, den Löffelstiel hinunterziehen,
mit Leichtigkeit nach oben, mit Druck und Kraft nach unten, immer wieder, für die Ewigkeit und während er mit dem Löffel über den Mörtel kratzt, kratzt er auch an der Oberfläche seiner Erinnerungen, ein See aus Stein, in dessen Tiefe er die Antwort auf alle Fragen vermutet.
*
Er steht vor der Badezimmertür und wartet. "Elise", hört er sich rufen und die Worte klingen so, als ob sie aus weiter Ferne kommen, "Elise, wir kommen zu spät."
Er trägt eine Anzughose, ein weißes Hemd, die Standardkleidung für besondere Anlässe.
"Noch fünf Minuten", ruft sie zurück und er muss sich zwingen ruhig zu bleiben; er hasst es, wenn sie zu spät kommen. Er geht im Flur auf und ab und betrachtet die Bilder, die Elise dort aufgehängt hat, Hochzeitsbilder, Elise in weißem Kleid mit zurückgeschlagenem Schleier, daneben ein Bild am Strand, ihre Flitterwochen, sie beide in einem Strandkorb, braungebrannt von der karibischen Sonne, er lächelt auf dem Bild, gutgelaunt und arglos in die Kamera, nur im Gesicht von Elise glaubt er einen Schatten zu erkennen, auch sie lächelt, doch es wirkt nicht echt, ein Unterschied, den nur er sehen kann, die Augen lächeln nicht mit, denkt er, in ihnen liegt bereits die Ahnung von Trauer.
Dann öffnet sich die Badezimmertür und Elise tritt in den Flur, von hinten an ihn heran, ihre Hände umschließen seinen Bauch, er spürt ihre Brüste an seinem Rücken, riecht ihr Parfum.
"Das waren schöne Flitterwochen", sagt sie, anerkennend, aber ein bisschen so, als wollte sie nicht nur ihn sondern auch sich selbst überzeugen.
"Wie sehe ich aus?", fragt sie und als er sich umwendet, ist er - wie so oft - überwältigt von ihrer Schönheit. "Göttin", haucht er in ihr Ohr und sie lächelt.
Als sie die Feier erreichen, dämmert es, die anderen Gäste haben sich bereits über das Areal verstreut, es gibt Stehtische, an denen oberflächliche Gespräche geführt werden. Sie tauchen in die Menge ein, schütteln Hände, tauschen Umarmungen aus und die ganze Zeit denkt er, dass er lieber mit ihr alleine wäre. Im Hintergrund läuft belanglose Musik, es gibt kleine Häppchen, die auf silbernen Tabletts angerichtet sind, und eine halbe Stunde später findet er sich in illustrer Runde an einem der Stehtische wieder, ein Glas Scotch in der Hand, folgt den belanglosen Ausführungen eines früh ergrauten Arbeitskollegen und wirft ab und zu einen Blick in das tief ausgeschnittene Dekolleté von dessen Frau.
"Wir können es uns nicht leisten noch mehr dieser Flüchtlinge aufzunehmen", sagt dieser und zieht an einer überdimensionierten Zigarre. "Irgendwann ist Schluss und es gibt auch einen Punkt, an dem man erst einmal an die eigene Bevölkerung denken muss, ich meine das mitnichten rassistisch,
aber...", er blickt herausfordernd in die Runde, "...jeder bekommt das, was er verdient. Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen einreden, nur weil ein paar Afrikaner im Meer ertrinken. Ich meine, niemand hat sie gezwungen, mit ihren schrottreifen und überladenen Booten in See zu stechen", sagt er, "ihnen fehlt der Respekt vor den Elementen, der Respekt vor dem Meer ebenso wie vor natürlichen Grenzen."
Dies wäre der Moment, um sich einzubringen, denkt er, und den anderen die Dummheit einer solchen Argumentation vor Augen zu führen, doch zugleich weiß er, dass es sinnlos ist, jedes Wort Verschwendung, Elise, er schaut sich nach seiner Frau um, Elise hätte den Streit gesucht und von Idealen gesprochen. Suchend blickt er sich um, doch er kann sie nirgendwo entdecken. Es ist dunkel geworden, die Sonne fast vollständig hinter dem Horizont versunken, bunte Lichter in den Bäumen und zahllose Kerzen erleuchten die Szenerie, doch die Gesichter liegen größtenteils im Schatten.
"Gleiches gilt für die unzähligen Gefangenen, die sich in unseren Gefängnissen auf Staatskosten ein schönes Leben machen. Wir sind alle verweichlicht", sagt der Arbeitskollege, "aber ich habe in diesem Zusammenhang zuletzt von einem vielversprechenden neuen Ansatz gelesen..."
Die Worte gehen an ihm vorbei, er hört nicht zu, sondern versucht Elise in der Schattengesellschaft auszumachen, dann entdeckt er sie, ganz am Rand auf einer Bank, unterhalb eines Strauches, er erkennt ihre Silhouette. Sie ist nicht alleine, jemand ist bei ihr, der ihm bekannt vorkommt, den er nicht erkennen kann, der ihm aber aufgrund seiner Körperhaltung irgendwie bekannt vorkommt.
"Totale Auslöschung", sagt der Arbeitskollege gerade, als er sich mit entschuldigender Geste abwendet, um hinüber zur Bank zu gehen, während er sich fragt, wer dieser Mann ist, dessen Gesicht vollständig im Schatten liegt und den er doch zu kennen glaubt. Auf einmal denkt er, dass es von unendlicher Wichtigkeit ist, dass er dieses Gesicht erkennt, geht schneller, schlängelt sich zwischen spielenden Kindern und tanzenden Pärchen hindurch, schneller, hinüber zur Bank, hat sie fast erreicht...
"Lass uns eine Pause machen", sagt der Dritte und reißt ihn aus seinen Gedanken. Er kommt wieder zu sich, die rote Tür, die rote Fuge, Schmerz und seine blutenden Finger.
*
Das Klopfen ist lauter geworden, als sie im Aufenthaltsraum sitzen und sich eine Dose mit Frühstücksfleisch teilen. "Klopf, klopf....klopf, klopf." Der Urheber des Geräuschs hat in einen Rhythmus gefunden, den er mit kleinen Abweichungen einhält, wobei der zweite Schlag immer ein wenig härter ist als der erste. Es ist unmöglich den genauen Ursprung zu lokalisieren, aber er glaubt, dass es von unten kommt.
"Meinst du, er gräbt einen Tunnel?", fragt der Dritte, nachdem sie eine ganze Weile andächtig gelauscht haben. "Ich weiß es nicht", antwortet er knapp, weil seine Gedanken noch immer um jenen Abend kreisen und er sich fragt, wer der Unbekannte auf der Bank sein könnte. Ein inneres Gefühl hält ihn davon ab dem Dritten von seiner Erinnerung zu erzählen, ein Gefühl, das er nicht begründen kann, weil der Dritte sein Freund - sein einziger Freund - ist. "Klopf, klopf....klopf, klopf", dann auf einmal Stille, nur noch das Surren der Lampen. Wahrscheinlich legt sich der Unbekannte nun schlafen, betrachtet noch einmal sein Tagewerk, um dann in Erschöpfung zu versinken. Mit diesem Gedanken überwältigt ihn selbst eine starke Müdigkeit. Es ist unmöglich zu sagen, wie lange sie gearbeitet haben, aber es müssen viele Stunden gewesen sein. Die Finger haben aufgehört zu bluten, ein zarter Schorf hat sich über die Wunden gelegt, die Gelenke schmerzen und ein Schauder durchläuft ihn bei dem Gedanken jetzt weiter zu arbeiten. "Lass und schlafen", sagt er und entdeckt Zustimmung und Dankbarkeit in den Augen des Dritten.
*
Eine der Zellen haben sie zur Schlafkammer umfunktioniert, die Neonröhren aus der Halterung genommen und zwei Pritschen an die linke und an die rechte Wand geschoben. Nun ist es dunkel und still, nur durch den Spalt unter der Tür dringt ein wenig Licht aus dem Flur in den Raum. Er schließt die Augen und versucht sich zurück in die Szene im Garten zu versetzen, die Lichter in den Bäumen, die Musik, Elise und der Fremde auf der Bank, doch es gelingt nicht. Alles bleibt unecht
und bewegungslos nebeneinandergestellt, leblos wie ein Wachsfigurenkabinett und das Gesicht des Fremden im Schatten. "Klopf, klopf.....klopf, klopf", der Unbekannte nimmt seine Arbeit wieder auf, unermüdlich, doch das Geräusch stört ihn nicht, die Müdigkeit ergreift mehr und mehr von ihm Besitz, es fällt ihm immer schwerer sich auf die Szene im Garten zu konzentrieren, alles wird weich, verschwimmt, der Atem des Dritten ist längst gleichmäßig und ruhig, ergänzt das Klopfen zu einer kleinen minimalistischen Symphonie. Schließlich sinkt sein Kopf zur Seite, alle Fragen verschwinden, er schläft ein. "Klopf, klopf.....klopf, klopf".
*
Er erwacht, weil er ein Kind schreien hört, sein Kind, das er sofort erkennt. Seine Hand tastet nach Elise, doch der Platz im Bett neben ihm ist kalt und leer. Sie muss schon vor einiger Zeit aufgestanden sein. "Elise", ruft er in die Dunkelheit, doch sie antwortet nicht, "Elise", auch ein zweiter Ruf bleibt ohne Reaktion. Er blickt hinüber auf die rotleuchtenden Ziffern des Radioweckers, 2.50 Uhr, mitten in der Nacht, schwerfällig erhebt er sich, dann ist er an der Tür, draußen auf dem Flur, an der Tür zum Kinderzimmer, die sie immer einen Spalt offen lassen.
Die Vorhänge sind nicht zugezogen, draußen am Himmel leuchtet ein voller Mond und wirft ein mystisches Licht in den Raum, am Mobile tanzen Giraffen und Elefanten im Sternenglanz. Dann sieht er sein Kind und sofort durchströmt ihn ein tiefes Gefühl von Liebe, sein Sohn, den wohl ein böser Traum aus dem Schlaf gerissen hat. Als der Kleine ihn sieht, beruhigt er sich, sofort ist er still und schaut ihm mit großen Augen an, ein Lächeln um die Mundwinkel. "Komm her, mein Kleiner", seine Stimme ist voll Zärtlichkeit, als er ihn sanft umfasst und aus dem Gitterbettchen hebt. "Ich bin ja da", sagt er und wiegt ihn sanft, "ich liebe dich so sehr", flüstert er und drückt den kleinen Körper an sich. Wie gut er riecht und wie friedlich.
Er tritt mit ihm ans Fenster und gemeinsam blicken sie hinaus in den Sternenhimmel, Vater und Sohn, eng beieinander, ein Moment stillen und kostbaren Glücks. "Wir sind eine kleine Familie", flüstert er in das kleine Ohr und streichelt ihn mit der Außenseite des Fingers, dort wo die Haut am weichsten ist, über die Wange. "Du und ich", flüstert er, "und nichts und niemand wird uns jemals trennen." Dann wird der Atem seines Sohnes gleichmäßiger, die kleinen Augen fallen zu, er schläft wieder ein, ein Lächeln in dem kleinen Gesicht, ein schöner Traum, er hält ihn noch eine Weile so und bewundert das kleine Gesicht, die feine Nase und die kleinen Augenbrauen, genießt diesen Moment, in dem um ihn herum die Welt versinken und verbrennen könnte, weil er das Kostbarste fest umschlossen in seinen Händen hält. Dann legt er ihn behutsam zurück in das Bettchen. An der Tür bleibt er noch eine Weile stehen, um das kleine Leben durch den Türspalt zu bewundern.