Occupy Zufriedenheit, liebe Linke!

Aufruf zum Thema Missverständnisse

von  Ephemere

Den progressiven Bewegungen steht Ihr Flirt mit dem Kaputten schlecht zu Gesicht.

Menschen in linken politischen Vereinigungen sind andauernd über irgend etwas wütend, unzufrieden, kämpferisch, mindestens aber ironisch.

Die Menschen, die die Progressiven zu vertreten beteuern, werden meist als schwach, ausgegrenzt, vernachlässigt, deprimiert, abgefuckt, mindestens aber emanzipationsbedürftig (und dazu aus eigener Kraft nicht fähig) portraitiert.

In linken Büchern, Filmen, Theaterstücken geht es um dysfunktionale Beziehungen, Rebellion und deren Aussichtslosigkeit, harten Sex mit wenig Zärtlichkeit, Selbstzerstörung, Obsessionen, Unterdrückung und Scheitern.

Keine Gesundheit, nirgendwo. Getreu der Maxime, dass es kein wahres Leben im falschen geben kann, gibt es unter Progressiven einen Generalverdacht gegenüber dem, was der einfache Bürger sich unter dem "guten Leben" vorstellt. In einer kranken Gesellschaft kann man schlechterdings nicht gesund, in einem unbefriedigenden System nicht zufrieden sein. Wer es doch ist, wird schnell als Spießer, abgestumpft, kurzsichtig oder egoistisch stigmatisiert. Gesundheit und Zufriedenheit im Hier und Jetzt sind für Linke zutiefst unsexy. Krankheit, Zerrissenheit, Perversion stets entschuldbar als Produkt des pathogenen Systems.

So wird das aber nichts mit dem wie auch immer gearteten Fortschritt. Sein Gesicht ist zu verhärmt, sein Ton zu vergrätzt, sein Gestus zu belehrend und das Heilsversprechen zu abstrakt.

Wollen Progressive wirklich eine Gestaltungsmehrheit erreichen - in der Mitte der Gesellschaft, nicht nur in elitären, aber verhältnismäßig wirkungsarmen Kultur-, Wissenschafts- und Medienzirkeln - dürfen sie den Konservativen nicht länger Gesundheit, Liebe, Romantik, Glück, Zufriedenheit, Geborgenheit, Behaglichkeit überlassen. Vielmehr müssen sie ihre eigene Version davon entwerfen, leben, anbieten - nicht als utopische Vision, sondern lebbar im Hier und Jetzt und für (fast) Jeden.

Es muss möglich sein, links zu sein und dennoch glücklich und gesund. Für ökologischen, ökonomischen und sozialen Fortschritt und dennoch mit sich und der Welt versöhnt. Interessiert an Entwicklung und Entfaltung, doch ohne Schuld, Scham und Erzieherkomplex. Und all das auch im Reihenhaus im Vorort, mit Blümchensex und glücklicher heterosexueller Ehe; und nicht erst nach der Revolution.

Sonst wird den Progressiven stets der Beigeschmack derer anhaften, mit denen irgendetwas nicht in Ordnung ist und die zwar prinzipiell gar nicht so falsch liegen, aber einfach eine Nummer zu hart drauf sind für einen selbst. Und denen möchte keine Mehrheit je die Gestaltung überlassen.

Also liebe Linke: Occupy Zufriedenheit. Dann klappt's auch mit den Mehrheiten.


Anmerkung von Ephemere:

Und wer jetzt denkt, das sei nun wirklich zu klischeebeladen, beweise mir das Gegenteil!

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Kommentare zu diesem Text

Jack (33)
(27.09.13)
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 Ephemere meinte dazu am 07.10.13:
Nun ja, ob sich "links" auf "dagegen" reduzieren lässt? Um der Übersicht halber in Deutschland zu bleiben - ein Marx, ein Bebel, ein Brandt, die Ökologiebewegung, die Frauenrechtsbewegung, Schröder-Fischer: all diese Exponenten der "Linken" eint bei allen himmelschreienden Unterschieden, dass sie durchaus konkrete Visionen hatten, was sie neu er- oder einrichten würden. Sie wollten beileibe nicht nur Bestehendes einreißen und auch bei den neuen Zielen ging es um mehr als lediglich an die Fleischtöpfe der oberen Stände zu gelangen (was man vom rot-grünen Wahlkampf 2013 nicht behaupten kann).

Wären all diese dann Deiner Definition nach keine Linke mehr?

Und von Mehrheiten durch totalitäre Machtergreifung kann hier auch keine Rede sein (sieht man von der SED ab, die sich auf Marx beruft, doch schwerlich sein Erzeugnis war).

Nicht zuletzt muss man Hardcore-Linken, die ernsthaft an Hegel, Marx und Post-Gender glauben, auch durchaus einen Sinn für Transzendenz unterstellen, schließlich wandeln sie jenseits dieser begreifbaren Welt.

Deine Philippika mag durchaus auf die klassischen grantelnden klein-klein-materialistischen Umverteilungs-Linken ("alles Geld von denen zu uns; wer "die" sind, weiß ich nicht so genau, aber "wir" bin ich") mitsamt der üblichen Leistungsfeindlichkeit, Mittelmaßanbetung und Wunsch nach Einhegung gelten - doch "die Linke" oder "die Progressiven" werden hier sehr verengt dargestellt in einer Weise, die ihnen selbst mit der legitimen Zuspitzung nicht gerecht wird.

Was aber zweifelsohne stimmt und Gegenstand einer ganz anderen, eigenen Betrachtung sein müsste, ist Deine beiläufige Bemerkung zum Liberalismus. Es ist ein deutsches Übel, dass ein Marx vergöttert wird, wo ein Max Stirner Fußnote, wenn nicht gar Lachnummer bleibt. Hierzulande überwiegt die Angst vor dem Individuum - ob man es unter Traditionen und Religionen oder unter Gesellschaft und Institutionen unterordnen will, es soll auf jeden Fall ordentlich zurückgestutzt werden, zu seinem eigenen Besten, versteht sich, und durch jene, die es natürlich immer gut meinen und immer besser wissen. Darin sind sich "Linke" und "Rechte" erschreckend einig. Echten Liberalismus hat man hierzulande meist eher als Kollateralschaden gewagt und es wähnte nie lange. Auch jetzt, in einer Krise von Staat und Markt, unterscheiden sich die Rufer nur darin, dass die einen "mehr Staat" und die anderen "mehr Markt" schreien. Keiner jedoch ruft nach "mehr Freiheit" oder wenigstens "mehr individueller Verantwortung - und Verantwortlichkeit". Es ist für die Mutigsten bestimmt, in einem derart schlechten Markt eine solche Marktlücke zu bedienen.
(Antwort korrigiert am 07.10.2013)

 EkkehartMittelberg (27.09.13)
Du sprichst mir aus der Seele. Aber eines irritiert mich. Gregor Gysi steht mit Humor und Witz nicht auf dem Kriegsfuß und Sarah Wagenknecht wirkt in letzter Zeit auch entspannter. Vielleichtg haben sie deine Gedanken ja geahnt, bevor du sie aufgeschrieben hast.
LG
Ekki

 loslosch antwortete darauf am 27.09.13:
ja, die sarah hat kreide gefressen. und gysi wäre ein top außenminister. aber erst mal muss die cdu eine minderheitsregierung bilden. wenn eine vorlage der regierung scheitert, stellt selbige ein misstrauensvotum. in geheimer wahl kann die spd für merkel stimmen ...

 loslosch schrieb daraufhin am 27.09.13:
nota bene: der bundespräsident muss nicht par l´ordre de mutti das parlament auflösen und neuwahlen bestimmen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 27.09.13:
Eine interessante Vision.
Jack (33) ergänzte dazu am 28.09.13:
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 Ephemere meinte dazu am 07.10.13:
@Jack: Punktlandung. Fast schon ein Aphorismus für sich.
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