Schuld

Erzählung zum Thema Schuld

von  WortGewaltig

Man hat ja immer Schuld. Ob man immer schuldig ist ? Ach, wer weiß das schon. Ich bin mir nie ganz sicher ob ich ein schlechtes Gewissen habe oder einfach nur zu viel gegessen. Das Körpergefühl ist dasselbe. Überhaupt, diese körperlichen Regungen die man mit Gefühlen verbindet. Ich hab irgendwo mal gelesen das kein Gefühl möglich wäre wenn man keine reale Empfindung dazu hätte. Kein Magenzusammenziehen, kein kalter Schweiß, kein Nichts. Wir wären wohl andere Menschen. Gedanken ohne Körperlichkeit sind nur Phantasie und die ist eh nutzlos wenn wir sie nicht teilen. Das Körperliche aber, dass gehört uns ganz alleine.

Ich wollte schon immer mit dem Mädchen spielen. Sie hat mir einfach gefallen. Nicht das ihr denkt…. Mit sechs Jahren ist Gefallen noch etwas anderes und wenn ein Junge in dem Alter sagt das ihm jemand oder etwas gefällt dann meint er eh was ganz anderes. In der Zeit gefallen Dinge die neu sind. Sie war nicht neu, aber ich war neugierig. Sie wohnte  ja in Blickweite unseres Hauses. Sie war ein bisschen älter als ich aber, wenn sie da auf einem Balkon spielte, wo ich sie immer beobachtete, störte mich das nie. Unsere Eltern kannten sich gut. Wann immer wir dort zu Besuch waren war sie nie im Zimmer obwohl ich genau wusste dass sie da war. Ich hatte sie ja spielen gesehen. Auf Nachfragen hieß es dann immer, sie hat keine Zeit oder, es wurde sogar gelogen das sie gar nicht da wäre. Ich erinner mich dunkel das es merkwürdig war wenn Erwachsene logen. Sie taten das auf eine ganz andere Art wie ich es gewohnt war. Ich log um etwas Süßes zu bekommen obwohl ich gerade etwas bekommen hatte. Ich log wenn ich mein Zimmer nicht aufgeräumt hatte aber draußen spielen wollte. Ich log wenn mir etwas kaputt gegangen ist um irgendwelchen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen da ja Geld so unglaublich wichtig war. Ich log um gute Gefühle zu bekommen und um schlechte einen Bogen zu machen.
Erwachsene logen weil sie offensichtlich keine Lust hatten mir etwas zu erklären. Und ich merkte, dass sie kein schlechtes Gewissen deswegen hatten. Das verunsicherte mich so dass ich nicht mehr nachfragte. Ich frag bis heute selten nach, es ist zu offensichtlich wenn ich es bemerke und nicht wichtig, wenn nicht.

Es kam der Tag an dem ich trotzdem mit ihr spielen durfte. Unvermittelt und in seltsamer Stimmung. Sie war einfach da und sie fragte MICH. Ich war völlig perplex. Noch so ein Gefühl das ich nicht kannte und ich war entsprechend verwirrt. Ich freute mich aber doppelt. Es war ein heißer Sommertag. Auf ihrem Balkon war ein Plastikpool aufgebaut und es war klar das wir dort planschen gehen würden. Schnell nach Hause gerannt um Schwimmsachen zu holen, umgezogen, und dort hinein war eins. Die Eltern sagten das sie kurz unterwegs wären und meine ermahnten mich besonders vorsichtig mit ihr zu spielen. Vorsichtig zu sein war aber ein Rat den Kinder nicht befolgen können da sie überhaupt nicht wissen was es bedeutet. Es spielt keine Rolle. Das morgen spielt keine Rolle. Zeit und alles kommende sind keine Begriffe für Kinder. Ich mag nicht verallgemeinern. Für mich waren es keine. Irgendwann werd ich nachfragen. Irgendwann.

Wir spielten und ich war glücklich. Sie war so wie ich sie immer gesehen hatte. Bis.. ja bis sie ausrutschte. Ich weiß nicht mal ob ich sie vorher berührt hatte. Sie verlor den Halt auf dem rutschigen Poolboden der sicherlich auch ein wenig mit Algen belegt war, wer wechselt schon jeden Tag das Wasser in einem Pool der auf einem Balkon steht ? Ich seh sie in Zeitlupe fallen. Die Beine knicken ein, der Oberkörper fällt unkontrolliert nach hinten. Ihre Ärmchen rudern wild. Der Kopf nähert sich viel zu schnell der Wasseroberfläche die das Haus im Hintergrund spiegelt. Kleine Tröpfchen blitzen in der Sonne als ihr Kopf ins Wasser eintaucht. Das bisschen Wasser kann ihren Fall nicht bremsen. Es knallt als ihr Kopf den Boden berührt. Dann ist es still.
So ändern sich Welten von einer Sekunde auf die andere. Eben noch Kinderlachen und Glück und dann Stille und Unglück. Aber ich war nicht unglücklich, ich war zu Tode bestürzt. Meine Augen sahen einen regungslosen Körper vor mir liegen. Einen der mir wichtig war und ich war in diesem Augenblick vor allem eins, Alleine. Ich brauchte nicht zu schreien oder nach meine Eltern zu rufen. Sie waren nicht da. Es gab niemanden den ich fragen konnte, niemand der helfen konnte. Am allerwenigsten konnte ich helfen. Ich wusste nichts was ich machen konnte. Ich traute mich nicht einmal sie zu berühren. Schockstarre, das war wohl mein Zustand. Und noch etwas kroch meine Wirbelsäule hinauf. Eine schreckliche Schuld. Hatten mir nicht meine Eltern gesagt dass ich vorsichtig sein sollte. Das was da vor mir lag war doch der Beweis das ich es nicht war. Es würde kein Lügen und nichts helfen. Ich war Schuld. Und das was dann folgte war so typisch für solche Situationen, ich floh. Ließ mein Wasserspielzeug zurück und den leblosen Körper und alles und rannte. Nach Hause wo ich mich in einem alten Stall versteckte von dem aus ich den Balkon beobachten konnte. Dort hatte sich nichts verändert. Ich sah das Mädchen liegen, ein Arm lag entspannt über dem Beckenrand. Ich beobachtete noch eine Weile. Ein Zeitgefühl hatte ich nicht. Ich erinnere mich auch nicht wann ich damit aufgehört habe.

Irgendwann müssen meine Eltern nach Hause gekommen sein. Es gab keine Vorwürfe, es gab nichts. Keine Nachfragen was passiert wäre. Ich erinnere mich überhaupt nicht das dieser Nachmittag zur Sprache gekommen wäre. Dieser Tag ging vorbei und auch der nächste. Und viele weitere. Das einzige was mir in der folgenden Zeit aufgefallen ist war eine Traurigkeit der Eltern des Mädchen. Auch diese haben mich übrigens nie auf den Vorfall angesprochen obwohl wir sie häufiger sahen. Ich traute mich auch nicht nach dem Mädchen zu fragen. Warum ich mich nicht traute ? Ich kann es nicht sagen. Das einzige was ich die ganze Zeit hatte war ein riesengroßes Schuldgefühl das mich plagte. Und das Nicht-Reden und Sagen verstärkte es sogar ins unermessliche. Sprachlosigkeit ist ein Katalysator des Schreckens.

Es verging noch mehr Zeit. Der Sommer war am vergehen als meine Eltern mich doch auf das Mädchen ansprachen. Ich hatte in der Zwischenzeit etwas getan dass ich auch heute noch perfekt beherrsche. Ich hatte verdrängt. Umso mehr erschrak ich. Aber es war kein anklagen sondern etwas das mich zutiefst erschütterte. Sie sagten mir in ruhigen Worten das sie gestorben ist. Sofort war mein Schuldgefühl wieder da. Denn was anderes als dieser Vorfall konnte daran schuld sein. Ich schaute sicher sprachlos aber ich kann es nicht mehr mit Gewissheit sagen wie ich reagierte. Auf jeden Fall habe ich nicht mit meinen Eltern über diesen Tag gesprochen. Ich hab heute noch ein flaues Gefühl wenn ich an diesen Moment zurückdenke.

Es vergingen Jahre. Die Eltern des Mädchen waren lange umgezogen und alles geriet in Vergessenheit. Manchmal tauchte ihr lebloses Gesicht in meinen Träumen auf, aber es wurde immer undeutlicher bis es irgendwann völlig verschwand.

Lange Zeit danach fragte ich meine Mutter beiläufig nach ihr. Ich erwartete immer noch eine Standpauke und fiel aus allen Wolken als sie mir erzählte. Das Mädchen war nicht wegen dieses Vorfalls gestorben. Sie hatte früh einen nicht operablen Tumor im Kopf und es war absehbar dass sie sterben würde. Das war der Grund warum ich sie nur spielen gesehen hatte und nie mit ihr spielen konnte. Die Eltern hatten sich bemüht ihr eine normale Kindheit zu lassen aber das war halt nur möglich wenn sie nicht gerade behandelt wurde und unter den Wirkungen der Medikamente litt. An diesen Tag konnte sich meine Mutter gar nicht erinnern. Schlagartig wurde mir das Verhalten von allen klar. Ich konnte sie sogar verstehen. Über meine Schuld hab ich dennoch nie gesprochen. Es waren keine Worte mehr nötig.

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Kommentare zu diesem Text


 SapphoSonne (17.11.13)
"Sprachlosigkeit ist ein Katalysator des Schreckens."
Ja, das ist wohl wahr. Gut geschrieben.
LG Sappho
Laudalaudabimini (59)
(17.11.13)
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KoKa (45)
(17.11.13)
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Scrag (28)
(17.11.13)
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 EkkehartMittelberg (17.11.13)
Diese Geschichte, auf formale Fehler überarbeitet, hätte in einer Sammlung von Erzählungen einen würdigen Platz.
LG
Ekki

 WortGewaltig meinte dazu am 17.11.13:
Hallo Ekki, danke für die Empfehlung. Ich schreibe meine Geschichten oft an einem Stück, da gehen mir Komma und andere formale Fehler oft durch die Lappen. Das Überarbeiten müsste ich eh jemand überlassen der sich damit besser auskennt. Für jede Verbesserung oder Hilfe dabei bin ich dankbar. LG Uwe
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