Die Motte und das Licht (Kapitel 7)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Der Oberarzt
                                                                                        Der Wille ist mächtiger als der Körper.

Der Raum, in dem er zu sich kommt, ist dunkel, absolute Finsternis umfängt ihn, sodass er zunächst glaubt, er hätte seine Augen gar nicht geöffnet. Er ist noch immer an Armen und Beinen gefesselt. Nur den Kopf kann er bewegen.
"Hallo", flüstert er in die Dunkelheit, "ist da jemand?"
"Ich bin hier", antwortet die Stimme des Dritten ganz in seiner Nähe.
"Es tut mir so leid. Es ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld."
"Es ist alles gut", flüstert er beruhigend zurück, "ich glaube, ich habe etwas Wichtiges verstanden.
Es gibt Hoffnung", sagt er, "aber du musst mir vertrauen. Auch ich habe Fehler gemacht, ich hätte es dir sagen sollen, aber es ist noch nicht zu spät."
"Ich vertraue dir", flüstert der Dritte.
"Bevor dich der Gehilfe niedergeschlagen hat, meintest du, dass du dich erinnerst. Woran erinnerst du dich?"
"Es sind keine schönen Erinnerungen..."
"Sie sind wichtig. Ich glaube, sie können uns hier herausbringen."
"In meiner Erinnerung ist Krieg", sagt der Dritte, "die Fronten haben sich verschoben, der Feind ist vorgerückt, es ist Nacht, ich habe einen Brief geschrieben, an dessen Inhalt ich mich nicht erinnere..."
"Ich kenne den Brief", unterbricht er, weil sich nun alles fügt, "du hast ihn an Elise geschrieben, 'liebste Elise', hast du geschrieben und 'niemals hätte ich gedacht, dass es so schlimm ist', dann hast du aufgehört zu schreiben..."
"Der Kamerad neben mir hat mich angeschrien, 'leg den verdammten Stift beiseite', ich greife nach dem Gewehr und blicke durch das Nachtsichtgerät, ich habe Menschen getötet, so viele Menschen, seit Tagen liege ich dort und immer, wenn einer in das Fadenkreuz tritt, drücke ich ab, ich schieße nie daneben, ich treffe immer, so viele habe ich getötet, doch in dieser Nacht ist es ruhig, bisher keine Feindberührung, 'reg dich ab', sage ich zu dem Kameraden neben mir, 'es ist alles ruhig', sage ich, dann hören wir ein Rascheln, etwas bewegt sich im Unterholz, doch ich kann nichts sehen, kein Ziel, nur das Geräusch, 'soll ich Alarm geben', flüstert der Kamerad, 'warte', flüstere ich zurück, dann, wie aus dem Nichts, tritt ein Reh aus dem Schatten, genau in mein Fadenkreuz, ein Jungtier, dessen Schritte noch unsicher und wacklig sind, es schaut zu mir hinüber, nein, es schaut mich an, im Nachtsichtgerät leuchten die Augen, ein zartes, kleines Leben, mitten hinein in Tod und Zerstörung, es gehört nicht dorthin, denke ich, 'ist nur ein Reh', flüstere ich, dann werfe ich einen Stein, um es zu verscheuchen, weil ich spüre, dass Gefahr droht, 'fliehe kleines Reh', denke ich, bin abgelenkt, 'reiß dich zusammen', sagt der Kamerad, 'wegen dir gehen wir noch alle drauf, ich muss mich auf dich verlassen können', sagt er und dann, in diesem Moment, trifft ihn die Kugel, ein anderer Scharfschütze, ohne Warnung, schlägt sie in sein Gesicht, ein kleines Stück oberhalb der Nasenwurzel, unterhalb des Helmes, Kopfschuss, ein sauberer Kopfschuss, die Gewalt reißt seinen ganzen Körper zurück, ich weiß, dass er tot ist, habe keine Zeit, um mich um ihn zu kümmern, denn jetzt kommen sie, es sind viele, die jetzt vorrücken, ich stelle um auf Automatik und schieße, in den Kopf, in die Brust, in die Beine, Kugel um Kugel, überall bricht das Feuer los, Leuchtraketen steigen in den Himmel, Schreie, Befehle, Chaos bricht um mich herum aus, doch ich bin ganz ruhig, ziele und schieße, ziele und schieße, Mensch um Mensch, das Fadenkreuz ein kleines Stück nach rechts, Treffer, nach links, Treffer, immer weiter, immer weiter..."
Die Stimme des Dritten ist ganz weich geworden, sie bebt beim Sprechen,
"ich habe nur Befehle befolgt", sagt der Dritte, "ich habe meine Kameraden verteidigt."
"Es ist gut", sagt er beruhigend, "es war nicht deine Schuld, du bist stark, du bist ein Kämpfer, nicht so wie ich. Ich bin nur ein verliebter Träumer."
Eine Weile ist es still, der Dritte schluchzt noch einige Male, dann beruhigt er sich.
"Du weißt, wie man solche Fesseln sprengt, du bist stark", flüstert er in die Dunkelheit,
"du bist für solche Situationen trainiert."
Er hört, wie der Dritte sich gegen die Gurte wirft.
"Ich bin zu schwach", flüstert der Dritte zurück.
"Du bist nicht schwach", antwortet er, "du bist stark. Der Wille ist mächtiger als der Körper."
Er hört ein reißendes Geräusch, dann Schritte, als der Dritte zu ihm hinüberkommt.
"Woher hast du das gewusst?"
"Vertrau mir."
Er denkt fieberhaft nach, während der Dritte die Gurte öffnet und ihn befreit, auch wenn er eine Ahnung hat, fehlt noch immer das entscheidende Puzzlestück, das dem Chaos Sinn verleiht und über das sich alle anderen zusammenfügen lassen. Dann hört er Schritte auf dem Gang.
"Leg dich wieder hin", flüstert er und zieht sich die Gurte über der Brust fest, so als wären sie geschlossen.
"Sie werden mich zuerst holen, weil ich die größere Gefahr für sie bin. Warte hier und folge ihnen, wenn sie mich fortschaffen. Mein Leben liegt in deiner Hand, ich vertraue dir", flüstert er,
"ich vertraue dir, weil wir wie Brüder sind."
Die letzten Worte hat er gehetzt in den Raum geschleudert, dann schweigt er, als die Schritte zum Stehen kommen.
Die Tür zum Flur öffnet sich und das grelle Licht blendet seine Augen.
"Habt ihr euch gut erholt?", fragt der Gehilfe und seine Stimme ist wieder so freundlich und einfühlsam wie beim ersten Mal, als er sie gehört hat.
"Dann wollen wir mal", sagt der Gehilfe aufmunternd, greift mit routinierter Bewegung nach seinem Bett und schiebt es dem Licht entgegen.
 
  *

Er ist nicht überrascht, dass der Oberarzt aussieht wie er selbst, er wirkt lediglich älter, der Haaransatz ist ein Stück weiter zurückgewichen, er trägt eine Brille und im Gegensatz zu ihm wirkt er gut genährt, fast ein wenig fett, kräftige Oberarme, den Arztkittel hochgekrempelt, hässliche schwarze Haare, die aus weißem Fleisch wachsen.
"So, so, du bist also der Romantiker", sagt der Oberarzt und blickt dabei in eine Mappe, die wie eine Krankenakte aussieht. "Hoffnungslos verliebt in eine gewisse Elise, stolzer Vater eines kleinen Sohnes, vorherrschender Gedanke, ich zitiere, 'bald, bald werden wir eine kleine Familie sein',
es tut mir leid, dass daraus nun nichts mehr wird."
"Warum tust du das?", fragt er den Arzt, obwohl er die Antwort bereits ahnt, "hier ist doch genug Platz für uns alle."
"Warum tue ich das wohl?", fragt der Oberarzt zurück und ein Lächeln umspielt seine Lippen.
"Ich glaube, die Antwort ist offensichtlich. Wie du vielleicht mitbekommen hast, sind die Ausgänge bedauerlicherweise verschlossen und, so leid es mir tut, die Ressourcen werden knapp. Schau dich nur an, wie dünn und ausgehungert du bist. Manchmal muss man eben Prioritäten setzen und wer braucht heutzutage schon Romantiker?"
"Skalpell", ruft er über die Schulter nach hinten, wo er den Gehilfen vermutet, dann: zu ihm:
"Das wird jetzt ein wenig wehtun. Ich wünschte, es ginge anders, aber diese Operation ist unabdingbar."
"Skalpell", ruft er ein zweites Mal und diesmal bereits mit Ärger in der Stimme.
Der Oberarzt ist leicht reizbar, denkt er, und er hat kein Gewissen.
"So ist das mit den Gehilfen", murmelt der Oberarzt, wieder zu sich selbst, "keine Disziplin, kein Verantwortungsbewusstsein. Als ich damals noch meine Famulatur machte, musste man mir nichts zweimal sagen."
"Der Gehilfe ist tot", sagt der Dritte und tritt in den Raum, den schlaffen Körper des Gehilfen hält er
am Genick, schleift ihn neben sich her,
"er war nicht sonderlich stark, dein Gehilfe, intrigant aber schwach", sagt der Dritte voller Verachtung, "ein Opportunist, ein Politiker."
Der Dritte schleudert den Gehilfen an die Seite.
Ein Tisch mit Operationsbesteck fällt um, klirrend und scheppernd fällt alles auf den Boden.
Er nutzt den Moment, um die Gurte beiseitezuschlagen und sich aufzusetzen.
"Es ist vorbei", sagt er zum Oberarzt, "das Spiel ist aus."
Der Oberarzt lacht ein böses Lachen.
"Vorbei", äfft er ihn nach, „nichts ist vorbei. Was euch bevorsteht ist schlimmer als jede Operation. Ihr werdet eure kläglichen Dosen auskratzen, vielleicht auch noch ein oder zwei Türen aufbrechen,
aber dann wird euch der Hunger in den Wahnsinn und aufeinander treiben, wie Tiere werdet ihr schließlich übereinander herfallen und derjenige, der noch ein wenig länger lebt, wird an meine Worte denken: Euer Aufbegehren ist sinnlos,
weil es keine Hoffnung gibt, weil es nie eine Hoffnung gab."   
Während er spricht, weicht der Oberarzt langsam zur Seite aus und greift nach einem Skalpell, das neben ihm auf einem Beistelltisch liegt.
"Weißt du eigentlich, wer du bist?", schreit er in Richtung des Dritten, "hat er es dir gesagt? Du bist die erbärmlichste Facette dieses Geistes, eine Kampfmaschine, die auf Befehle programmiert ist, du hast kein eigenes Gewissen, ein Mörder bist du."
"Dann solltest du dich besser nicht mit mir anlegen", sagt der Dritte, seine Stimme ist ruhig und beherrscht, "leg das Messer auf den Boden, dann werde ich dich am Leben lassen."
Sie bewegen sich aufeinander zu, der Oberarzt fuchtelt mit dem Messer durch die Luft, Schweiß ist auf seine Stirn getreten, er hat Angst, wie ein Tier, das in eine Ecke getrieben um sein Leben kämpft, während der Dritte vollkommen ruhig atmet, seine Hände beschreiben kleine Kreise in der Luft, folgen den Bewegungen des Messers, sein Blick bohrt sich in die Augen des Oberarztes.
Dann geht alles ganz schnell, der Oberarzt sticht zu, der Dritte wehrt das Messer ab, die Klinge zieht einen funkelnden Bogen und schneidet eine tiefe Wunde in den Oberschenkel des Dritten.
Doch der Dritte kennt keinen Schmerz, er hat den Arm des Oberarztes gegriffen und nach hinten gebogen, klirrend fällt das Messer auf den Kachelboden, dann hat er ihn gepackt und wie eine Spinne umklammert, die Füße um die Beine des Arztes gehakt, den Arm unerbittlich um den feindlichen Hals geschlossen, gemeinsam stürzen sie zu Boden und Blut schießt in kleinen Fontänen aus dem Oberschenkel des Dritten, doch er lässt nicht los und langsam werden die Bewegungen des Oberarztes schwächer, der Kopf läuft blau an, schließlich wird sein Körper schlaff und regungslos, ein letztes Zucken, dann zittern die Augenlider.  Er ist tot.
"Lass ihn los", sagt er zum Dritten, der den Arzt noch immer umklammert hält, die Augen starr in die Decke gerichtet, wie eine Bulldogge, die nicht von ihrem Opfer ablassen kann.
Er zerrt am Arm des Dritten und versucht die verkrampften Muskeln zu lösen.
"Es ist alles gut", flüstert er und versucht die aufkommende Panik niederzukämpfen, als er die Wunde und all das Blut sieht.
Er durchwühlt die Schränke, die ringsumher die Wände des Operationssaales verkleiden, dann findet er Kompressen, Verbände und rennt hinüber zu dem Dritten, um den sich herum eine Blutlache ausbreitet.
Mit aller Kraft drückt er die Kompresse auf die Wunde, doch die Ader ist durchtrennt, unablässig dringt Blut durch den Verband. Er greift in die Wunde, versucht die Ader abzudrücken, doch immer wieder entgleitet sie seinen zitternden Fingern.
"Es ist alles gut", flüstert jetzt der Dritte, "hör damit auf, du tust mir weh. Erzähl mir lieber von Elise und deinem kleinen Sohn."
Tränen schießen ihm in die Augen, als er von der Wunde ablässt und den Kopf des Dritten in seinen Schoß bettet.
"Elise ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe", flüstert er stockend, "ich kenne sie, seit wir Kinder waren. Wir haben früher immer zusammen gespielt und schon damals habe ich gewusst, dass ich sie eines Tages heiraten werde, ich habe es immer gewusst, ich habe sie schon damals geliebt."
"Erzähl mir von deinem Sohn", flüstert der Dritte und seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch.
"Er ist noch ganz klein", antwortet er und während er spricht, kann er ihn vor sich sehen, "er hat winzige Zehen, die nach Marzipan riechen und wenn er lächelt, hat er kleine Grübchen. Du müsstest ihn lächeln sehen. Die Sonne geht auf, wenn er lächelt."
Dann ist der Dritte tot, er hat aufgehört zu atmen, die Augen sind zugefallen, doch ein Lächeln ist auf seinem Gesicht zurückgeblieben.
Er braucht einige Zeit, bis er die Kraft findet sich zu erheben und den Kopf des Dritten sanft auf dem Boden bettet.
"Ich werde dich nie vergessen", flüstert er in das tote Gesicht und "ich danke dir."
Dann nimmt er Abschied und verlässt den Operationssaal.

*

Wieder steht er vor der roten Tür und streicht mit dem Finger über die Vertiefung, aus der sie die Fuge herausgebrochen haben.
"Wenn du hier heraus willst, musst du wissen wer du bist", hat der Gehilfe gesagt, "und um zu wissen, wer du bist, musst du deine Geschichte kennen."
"Ich weiß jetzt, wer ich bin", sagt er trotzig in die Einsamkeit, "ich bin der Romantiker" und dann:
"bald werden wir eine kleine Familie sein."
Versuchsweise stemmt er sich gegen die Tür, prüft ihren Widerstand und glaubt, dass sie nachgibt, ein winziges Stückchen nur, ein winziges Stückchen.
Er tritt einen Schritt zurück, um Anlauf zu nehmen, dann wirft er sich mit allem Gewicht gegen die rote Tür.
"Wir haben hier einen Ausschlag", sagt eine fremde Stimme wie aus einer anderen Welt.
Wieder tritt er einen Schritt zurück. Hat sie nicht ein wenig nachgegeben?
Wieder stürzt er sich nach vorne, spürt die Vibration, das Ächzen im Metall.
"Hier, wieder, etwas passiert.", sagt die fremde Stimme.
Erneut nimmt er Anlauf und denkt an Elise und wie sie über die Felder rennen, denkt an das Lächeln seines Sohnes, als er in das Kinderzimmer tritt, wirft sich gegen die rote Tür, Knochen auf Stahl, und die Tür gibt nach, an der Oberseite ist sie bereits eingedrückt, hängt nur noch an dem unteren Scharnier, wieder nimmt er Anlauf, sammelt alle Kraft für den letzten entscheidenden Stoß,
dann bricht er durch und stürzt mit der Tür nach vorne.

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