In einem anderen Land - Rückkehr in die Wirklichkeit XIV

Erzählung zum Thema Armut

von  pentz

oder ein Besuch auf einer Baustelle meines Lebens

Wenn man nach einer sehr langen Zeit zurückgehrt, in der man im Urlaub und einfach weg war, hat sich eine innere Leere oder eine Wüste in einem ausgebreitet, die mit einem merklichen Erschöpfungszustand einhergeht. Was man verlassen hat, erscheint unter einem anderen Licht, zumindest wichtiger als vorher, als man es fliehen musste. Deine Heimat, nenne es wie du willst, ist wichtig geworden, wie ein Besitztum, wie etwas was einmalig, unwiederbringlich und gepflegt und gehegt gehört, egal, in welchem schlechten, miserablen Zustand das Gehege sich befindet. Es ist einfach Deins. Du hast kein anderes. Das ist sehr bedeutungs- und sehr wertvoll. Du beginnst zu fragen, was kann ich jetzt wieder in Ordnung bringen, was kann ich verbessern an der lausigen Saat, die da aufgegangen ist mit den Jahren. Pflege sie, es gibt nichts Besseres zu tun!

Schon als ich noch unterwegs war, hat es mich betroffen gemacht, zu hören, wie ein Erzähler von seinen Verwandten geschnitten und ignoriert wurde, die es damit begründeten, sie würden nur noch solche Personen zu Weihnachten einladen, die ihnen geistig-moralisch am nächsten stünden, nicht blutsmäßig. Gegen diese Argumentation kann kaum etwas gesetzt werden, weil es so vernünftig ist und modern klingt.
Aber wenn ein Verwandter abgestürzt ist? Wenn er Zuwendung braucht? Nehme ich den nächsten auf der Straße, der da liegt? Nein, diesen versorge ich nur notdürftig. Anders aber eben bei einem Menschen, mit dem sehr lange eine Strecke seines Lebens gegangen ist.
Ich habe so einen. Einen Cousin. Ich habe mich mit dem sehr gut verstanden, er war als Kind oft bei mir, wie mir die Mutter erzählt, ich mochte und mag ihn. So.
Immer wieder habe ich aber einen Besuch innerlich abgewinkt mit der Begründung, ach, der hat doch einen Sohn, der sich gerüchterweise zwar nicht um ihn kümmern soll, aber immerhin, was hast du in der Richtung? – nichts! Also brauchst Du Dich auch nicht um ihn kümmern, basta!
Erschwerend für einen Besuch kam hinzu, dass er nicht mehr dort war, wo wir ihn behütet wussten, verschwunden war er, niemand wusste wohin. Eine ominöse Bekannte meinte, sie wüsste wo, in der Geschlossenen gerade um die Ecke.
Der Anstoß erfolgte, als ich mit meiner Mutter einen Besuch bei einem anderen Cousin abstattete. Dieser, ich muss es eingestehen, ist mir ziemlich zuwider, zumindest denkbar unsympathisch, was wohl auf Gegenseitigkeit beruht, wobei ich die Initialzündung nicht bei mir entdecken kann.

Nun, dieser Cousin fragte begierig nach dem Gesundheitszustand der Eltern meines bedauernswerten Cousins, also dem meiner Tante, meinem Onkel, meinem Ex-NSDAP-Onkel, woraus kein Geheimnis gemacht worden ist in der Verwandt- und Bekanntschaft.  Das ist auch keines Weg der Grund, warum sich mir plötzlich die Lauscher aufrichtete, weil ich witterte, oha, hier stimmt irgendetwas nicht. Diese Leute sind alt, sie haben drei Kinder, die sich um sie kümmern dürften, müssen es wirklich auch noch die Verwandten der zweiten und dritten Linie tun?
Was anderes ist es aber bei einem Cousin, der völlig verwaist zu sein scheint, nicht wahr?!
Ich fragte also meinen Unsympath-Cousin, weswegen er nicht nach unserem gemeinsamen Cousin fragte, der ja im gleichen Alter war wie wir, nahezu, denn der angesprochene zählte einige Jahre mehr. Dieser meinte, Onkel und Tante wären ihm näher.
Ich entgegnete, dass ich das nicht verstehen könne und dass mir diese kaum nahe gingen, mehr jedoch und schließlich unser abgestürzte Cousin, war ich doch mit diesem großgeworden, habe auf der Straße gespielt und und.
Das verstehe er jedoch nicht, erwiderte und schmetterte der autoritätsgläubige Cousin -wie ich ihn einmal nennen will, sein Einwand klang einfach so: Ältere zählten mehr -
meine Bedenken ab.

Nun, ich machte mir jetzt die Mühe, vielleicht auch aus einer Trotzreaktion heraus, meinen verlorenen Cousin ausfindig zu machen. In der Psychiatrie um die Ecke – Fehlanzeige, die kannten ihn überhaupt nicht. Jetzt versuchte ich mich in Verbindung mit der zuständigen Sozialarbeiterin des Großen Vereins zu bringen, die ihn bislang einquartiert hatte. Die würden schon wissen, wohin er hin deportiert, verlegt und gebracht worden ist. Von Verschleppung will ich nicht sprechen, denn er hat keinerlei Angehörige von seiner Herkunftsfamilie, die sein Vertrauen genießen. Er ist nicht umsonst das Schwarze Schaf der Familie, die wohlsituiert und etabliert ist. Wahrscheinlich hat er, danach befragt, wen von seinen Verwandten man denn benachrichtigen könne, bevor er verlegt worden ist, nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er wisse keinen.
Und so war es auch. Die Sozialarbeiterin, wie sie mir berichtete, brachte aus ihm nur ein verwirrtes Murren, er wisse niemanden, heraus. Der Sohn, den er noch hatte, ist allerdings irgendwo in Holland, unauffindbar und ihn nur sporadisch besuchen kommend.
Nachdem also die Sozialarbeiterin recht nett gewesen war am Telefon, war ich bester Hoffnung. Sie hatte mich gefragt, in welcher Beziehung ich zu ihm stünde, sofort daraufhin aber bereitwillig Auskunft über ihn erteilt.
Er sei sehr verwirrt gewesen, so dass sie ihm auch ein paar Tage „in die Geschlossene“ bringen musste oder „einschließen“, ich weiß es nicht mehr genau, welcher Wortlaut im Einzelnen gefallen war. Er schien jedenfalls verwirrte Zustände durchleiden zu müssen, aber, dass sie ihn in ein anderes Heim hatte unterbringen müssen, hat an einer besonderen Operation an einem Geschwür, Krebs?, gelegen. Sie sprach jedoch nicht davon, ihn wieder zurück in seinen Heimat- und Geburtsort bringen zu wollen. Er befand sich in einem Seniorenheim in der Großstadt, dort schien er sehr gut aufgehoben zu sein.
Aus der Stimme der Sozialarbeiterin strömte eine solche Wäre und Mitgefühl, dass man Manfred in guten Händen wähnte. Unbekümmert und frohgemut, den Verschollenen endlich aufgespürt zu haben und wohlbehütet zu wissen, machte ich mich auf die Bahn-U-Bahn-Bus-Odyssee zu ihm, der in einem Vorort zwischen 5stöckigen Sozialbau- Gebäuden in einem Seniorenwohnheim ohne ausgewiesenen Träger untergebracht war. Vor dem Gebäude erstreckten sich Wiesen und Felder, die sich bin an die dreihundert Metern ausbreiteten und in einen sogenannten Süd-West-Park übergingen und mündeten. Er selbst, der kaum noch laufen konnte, wird dieses Grün vor der Haustüre  wohl kaum noch genießen können, und in die Altstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, war ein zu beschwerliches Unterfangen und nur realisierbar mit Hilfe einer unterstützenden Person, dessen musste er sich im klaren sein.
Aber die Frage bestand sowieso nur darin, worüber er sich überhaupt noch im Klaren war.



Nach dem Eingang zwei Wege: rechts in einen Aufenthalts- und Essraum zugleich. Viel Grün, kurios, auch ein paar kleine Bäume stehen daherum, aber solche die keine Blätter tragen: der Anblick hat fast etwas wie ein Blick in eine Höhle, man kann nicht abschätzen wie tief und weit sie ist und welche Schätze und Überraschungen darin auf einem warten; interessant. Man sah tatsächlich, sich ein Paar im Tanz drehen, und das zur Mittagszeit. Es waren keine Profis, mit Trainingsanzug oder solchen Klamotten, die Profis auf diesem Gebiet trugen, es war wohl ein Pärchen, das sich gerade oder jüngst gefunden hatte und dort ihrer Liebe körperlichen Ausdruck inmitten gesellschaftlichen Umfeldes verliehen, nett.
Links ein Kabäuschen, wo wohl die Zentrale, das Büromanagement und die Schwesternschaft zu Werke und den Ausgang ihres wirkungsvollen Tuns haben. Dorthin steuerte ich mal. Es war ein Holzgerüst, das mit großen Gläsern als offen einsehbares Büro gebaut, im Nachhinein für diesen Zweck konstruiert worden war - was mochte diese Haus früher für andere Gäste beherbergt haben als diejenigen heute?
Ich sah es für geziemend an, zu klopfen, obwohl, wie gesagt, kaum eine Trennung zwischen Büro—Innenräume und Gang oder Diele oder Foyer, wie immer, zu bestehen schien. Die Atmosphäre verströmte eine Offenheit, dass ich auch ohne anzuklopfen hätte einfach die Türe öffnen können, ohne dass es einen Regelverstoß dargestellt hätte, schien mir.
Ich wurde in den 2. Stock Zimmer 215 geschickt. Niemand da. Der Name jemand anderem. Zwei ältere Damen, Freundinnen seit den Kindertagen und sich schon ähnlich wie Zwillinge, schüttelten mit dem Kopf, mehr über mich und mein Herumirren als auf meine direkte Frage hin, ob hier auf diesem Stockwerk ein gewisser Manfred X wohnte. Runter wieder zum Paterre. Zum Glück eine andere Schwester jetzt im Kabäuschen. Das gleiche Spiel noch Mal, diesmal zum 3. Stock hoch, aber mit Teilerfolg: das Namensschild fand ich, aber den Bewohner nicht. Also wieder hinunter. Keine Schwester mehr im Kabäuschen. In meiner Verzweiflung fragte ich ein paar Insassen, bis einer lapidar antwortete und geradeaus deutete: „Schauen Sie mal durchs Eingangsfenster nach draußen in den Vorhof.“ Tat ich. Ich erkannte aber keinen Manfred. „Wer soll es sein?“, denn ich wollte ihm nur zu gerne glauben, der mir Hoffnung spendete, denn allmählich war ich schon der hoffnungslosen Verzweiflung nahe. Den Beschriebenen und Angedeuteten suchte ich auf und wurde fündig. Ob die Heimbewohnter und das Personal eine Zweckgemeinschaft bildeten, eine riesige WG? Das würde die Ungeschicklichkeit, die Unübersichtlichkeit oder das Unvermögen zur Übersichtlichkeit der Schwestern im Büro erklären. Des weiteres das Fehlen oder die Verweigerung einer Antwort auf meine zweimal zwei unterschiedlichen Personen gestellte Frage: „Hier steht nur immer „Gemeinnütziger Verein“. Wer steckt dahinter: Charitas, AWO, Diakonie?“
Manfred freute sich sichtlich, sein spitzbübisches Gesicht lächelte bis über beide Ohren und reagierte so, als ob ich gestern das letzte Mal dagewesen wäre, aber keine drei Jahre, dass wir uns da gesehen hatten, woher wir kamen an einem völlig anderen Ort, 30 Kilometer von hier weg und an einem völlig anderen Stelle, nämlich auf der Straße oder in einem Café sogar, an einem hellen, sonnigen Spätsommertag, aber nicht gestern im anziehenden Winter, Ende des Spätherbstes.
Aber damit konnten wir uns immer noch nicht ungestört und frei wie Brüder oder Freunde unterhalten. Jedes Mal, wenn wir gestört von einem Raucher oder Raucherin in eine andere Ecke des Vorhof des Seniorenheimes flüchteten, baute sich erneut einer neben uns auf und paffte uns und vor allem mir Stehenden als Mitraucher ungeniert die Lungen voll. Oh Flucht! Dieses Spiel dauerte gut eine halbe Stunde, bis wir uns Frieden hatten und der hartnäckigste Schnorrer aufgegeben hatte, vielmehr, wie wir konsterniert hören mussten, von einem weniger gutmütigen Raucher barsch angeschnauzt wurde, weil der gleichfalls belästigt wurde. Raue Töne. Aber naja, manchmal ist es notwendig, wer kann, der kann und hat seine Ruhe. Hier waren also nicht nur bloß Alte oder leicht Demente, sondern welche mit gänzlich anderen Kalibers von Anomalie untergebracht.

Manfred nuckelte an einer eigenartig weißen stummeligen Selbstgedrehten, als könne er sich keine Ganzen leisten und müsse mit allem verfügbaren Rauchbaren haushalten oder als hätte er diese gleich einem Penner irgendwo aus der Gosse im Rinnstein aufgelesen.
Er ähnelte sehr seinem Vater, wie ein Klon schier, nur eine kleineres, geschrumpfteres Exemplar war er, aber bester Laune und keine Mißtöne entstanden und kamen auf, bis zum Schluss, als ich ging, ein Wunder, wenn jemand ihn bisher so erlebt hatte, dass man jedes Wort auf die Goldwaage hatte legen müssen, um ihn nicht in Weißglut zu versetzen. länger als ein Viertelstunde ging das nicht gut und das Gespräch endete abrupt meist damit, dass er sich verletzt fühlte und wütend geworden war. Heute, wie gesagt, wie ausgewechselt.
Wir reckten unsere Köpfe in die lauen Herbststrahlen, die auf die Klinkersteine des Heimgebäudes fielen und dieses wohltuend aufwärmten.  Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals besser hätten verstanden, allenfalls in den grauen Kindertagen, weswegen mich noch heute eine unbestimmte Zärtlichkeit für ihn rührte und bewegte. Ja, das war unerklärlich, weswegen mich gerade solch starke freundschaftlich-zärtliche Bande an ihn fesselten und Gefühle weckten, die mich selbst im hohen Erwachsenenalter zu ihm hinzogen, dorthin, wo wir jetzt saßen: dicht nebeneinander, lachend und den noch schönen Herbsttag genießend und uns verbrüdert freuend, dass es das gab und wir uns mochten, wie junge Schalke, die sehr danach lüsterten, irgend jemanden einen Streich zu spielen. Wie zum Beispiel den Nachbarsjungen, den wir verarschten, weil er das falsche Begleiter-Geschlecht verwendete, ich glaube: das Stuhl, und wir dann um ihn herumtanzten und äfften „das ist das Stuhl, hoho“, obwohl wir doch als Ausländer, Dahergezogene und Flüchtlingskinder gemieden, geschnitten und verachtet waren.

Dass war wohl unser beider Schicksal, Manfred und meines, dass wir beide sich der Gesellschaft verweigert haben, jeder aus einem anderen Grund, wir Migrationskinder der sogenannten Stunde Null, die erste Generation dieser Spezies überhaupt, denen der wohlwollende Status, den heutzutage diese Sprößlinge genießen, gegenteilig zu Buche geschlagen wurden. Nein, wir hatten darunter schwer zu leiden gehabt. Und wir haben uns gerächt dafür. Wir sind keine braven Mitglieder dieser Gemeinschaft geworden, wir sind ausgebrochen, geflüchtet ich, Manfred ausgestiegen, jeder hat dafür bezahlen müssen. Manfred hat es am meisten erwischt, er ist mit seinen 60 Jahren ein Wrack, hat etliche Zungen-Abszeß-Operationen hinter sich, spricht undeutlich, fast lallend und ist ziemlich geistig verwirrt. Ich habe versucht ihm zu helfen und etwas dagegen gekämpft, dass es so weit hat kommen müssen mit ihm, so gut ich eben konnte und Zeit gefunden hatte, indem ich den Urheber seines Dilemmas, Grund- und Hauptschullehrer, evangelischer Pastorensohn und späterer sozialdemokratischer Bürgermeister ein paar Mal attackiert habe, als ich erfahren habe, dass man in der Obdachlosensiedlung das fließende Wasser abgedreht, sprich die Wasserversorgung gekappt hatte und Manfred Morgens am Bahnhof im Klo sich sein Frühstückswasser holen sah.

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