Wahlsonntag im Grünen Version II
Gleichnis zum Thema Prostitution
von pentz
Nach 10 km Fahrt erhöhte sich plötzlich die Strecke laut Schildanzeige auf 32 Kilometer, obwohl es vorhin nur noch 10 gewesen sein sollten. So viel kann man doch gar nicht im Kreis fahren, ohne etwas zu merken.
„Ist das nicht wie wählen!“, bemerkte ich. „Du wählst heute die, die du schon gestern gewählt hast und dich von der Freiheit weiter weggebracht haben als je zuvor. Aber heute tauchen sie wieder auf und verkünden: sie bringen dich am schnellsten ans Ziel dieser Freiheit, was auch stimmt, verdammt noch Mal – im Vergleich zu den anderen!“
„Du missverstehst etwas. Freiheit ist kein Punkt in der Ebene, der zwischen Punkt A und B liegt, sondern so etwas wie ein Kreis!“, antwortet sie siebengescheit und neunmalklug.
„Da muss ich Dir leider Recht geben! Das große Missverständnis!“
Hauptsache, man schlug sich dabei nicht die Köpfe ein, das war’s.
Plötzlich begriff sie. „Sag bloß, du hast heuer wieder nicht gewählt.“
Ich schwieg.
„Das ist die Höhe!“
Das scheint das größte Verbrechen zu sein, nicht zu wählen.
Diese sich hier und heute über meine Wahlpassivität sich echauffierende Person, hatte mir das erste Mal, als wir zusammen auf Tour ins Grüne gefahren waren, glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, eine gehörige Standpauke gehalten, weil ich die Impertinenz und Unverfrorenheit besäße, wildfremde, unbekannte Menschen auf der Straße anzusprechen. Auf unserem Weg durchs oberbayerische Moos fragte ich die uns Begegnenden, wo es lang ginge. Ist das nicht logisch und vernünftig? Sie waren schließlich einheimisch.
Sie stattdessen zog es entschieden vor, sich bei sämtlichen Touristenbüros jeglichem hinterwäldlerischen Ortes und Ortschaft mit kaum mehr als einer Kirche und einem Bauernhof und natürlich der unvermeidlichen Stadtverwaltung inklusive unvermeidlichem Tourismusbüro sich Landschaftskarten für Radwege zu besorgen. Mit einem Navigator am Lenker durch die Prärie zu fahren, mittlerweile Standard, war noch undenkbar. Außerdem, die Menschen gaben doch gerne Auskunft, Herrgott noch mal.
Aber nein, sie meinte, dass sich das nicht gehörte.
Nichts gegen Wanderweg-, Fahrrad- und Besichtigungsleckerbissen-Karten, aber leider sind allzu viele irreführend und ihrem Zweck nach kontraproduktiv. Die Gemeinden wollen Geld verdienen, in einer Ausschließlichkeit, scheint mir, dass die Wege nicht nach Sehenswürdigkeitsaspekten ausgeschrieben sind, sondern mehr fürs konsumorientierte Verhalten der Touristen. Ich erwartete schon um die nächste Ecke ein großes Einkaufszentrum, durch das der Fahrradweg führen würde, vorbei an leckeren, duftenden Speisen, bunten, rosaschleifig verpackten Krimskrams und sonstigen konsumverlockenden Sirenen. Mein Hoffnung bestand und sie wurde erfüllt, darin, dass heute, weil Feiertag war, der Weg um ein solches führte. Ich atmete auf, noch gab es in diesem Lande Feiertage, meine Brust weitete sich wieder, als ich spürte, bislang bist du noch einmal den Sirenen entkommen und nicht von den Felsen Skylla und Charybdis zermalt worden.
Ich erinnere mich nur allzu schrecklich genau daran, als wir die Isar auf einem dieser ausgeschriebenen, asphaltierten Fahrradwegen entlang fuhren. Weit und breit kein Fluss. Nach 20 Kilometern, dachte ich mir, zum Teufel, kaum Hunderte Meter von uns entfernt, dort jenseits dieser Laubwälder, musste die Isar dahinfließen und wir, wir durchquerten die einförmigen Ortschaften hier, nur um der Versuchung zu unterliegen, bei dem ein oder anderen Gasthaus einzukehren. Brüsk riss ich mein Lenkrad mitsamt dem Fahrradgestell mit mir herum und fuhr durch diesen die Isar säumenden Wälder und tatsächlich, sie floss da träge und traut in ihrer natürlichen Schönheit dahin, als wartete sie nur auf uns, daneben sogar, wenn auch unbebaute, aber im Prinzip eben Flur-Wege, die einem richtig Spaß machten, mit dem Fahrrad zu befahren.
Und solch eine Verbieterin insistierte auf die obligatorische Pflicht, in einer Demokratie unbedingt und bedingungslos wählen gehen zu müssen. Na klar, sie gehörte auch zu dem großen Verein, Staat genannt, einmal tätig in der Verwaltung und einmal politische Mandatsträgern, was sehr günstig war. Parteiliche Telefonate konnten leicht, praktisch und günstig über die Drähte der Verwaltung erledigt werden, wenn sie auch dafür nicht gedacht waren. Wenn über die Korruption von sogenannten Entwicklungsländern berichtet wurde, kam ich regelmäßig ins Grübeln.
Der Witz war, dass sich die Partei „Die Richtigen“ nannte, was man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen muss. Natürlich war das nur eine Verlegenheitslösung, anders kann das nicht sein. Die „Guten“ sind ja schon vergeben, was bleibt da noch übrig. Aber „Richtige“ – das bietet eine breite Assoziationspalette: wählt uns, wir sind goldrichtig, eine Millionengewinn erwartet euch; oder wie in der Wissenschaft, da muss auch alles exakt und genau gehen, wenn auch hier die Übertragung, der Transfer zur Politik nur schwer herstellbar war. Aber egal, Hauptsache, positive Projektionsflächen, ob sie jetzt richtig oder falsch lagen? Natürlich lagen sie falsch, besser ziemlich daneben.
Ich galt mit meinem permanenten Verweigerungstatus als Paradiesvogel mit Vogelscheuchenstatus. Nicht einmal Steuer konnte man bei mir abzwacken, so weit reichte meine Verweigerungshaltung dieser Gesellschaft gegenüber. Ich war sozusagen der Paria dieser, ganz, ganz unten angesiedelt. Aber man hatte noch ein mitleidig-christlich-wohlwollendes Auge auf mich geworfen, sonst würde man sich ja mit mir gar nicht abgeben und solche Freizeitaktivitäten wie Fahrt ins Grüne unternehmen. Aber, wie schon eingangs erwähnt, mein Eintrittspreis dazu hatte es in sich. Außerdem, man musste jederzeit rechnen, dass dies einem aufs Butterbrot gespieen wird, das tat noch jeder, mit dem ich verkehrte, früher oder später. Die Übermenschen-Untermenschen-Mentalität ist nicht auszurotten.
Mittlerweile habe ich es aber durchgesetzt, X-Beliebige, Dahergelaufene, fremde Leute, die meinen Weg kreuzen, ungestraft und ungescholten befragen zu dürfen, zum Beispiel, zuerst, wohin und wie weit es nach Freiburg gehe und, die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen zu können, schlussendlich, wohin geht’s zum nächsten Bahnhof überhaupt: das nennt man resigniert das Handtuch werfen. Aber ein Ausflug diene zur Freude, nicht als Arbeitsersatzhandlung.
Wir mussten unser Ziel aufgeben; schließlich gibt es auch andere Bahnhöfe als Freiburg und steuerten auf den von Sicherheitlingen zu. Dieser lag ungünstigerweise ziemlich oben, so dass wir erst einmal den Ort anschauten, der immer tiefer hinabging und am Fuße des Berges endete.
„Erst Mal essen gehen!“ Wenn auch von einer Frau, aber das war wenigstens einmal ein Wort!
Wie ein Lauffeuer schien es sich im Ort herumgesprochen zu haben: zwei Fremde. So winkten uns sämtliche Autofahrer aus ihren Gefährten heraus zu.
„Du täuscht Dich. Dreh Dich Mal um!“
Es kam der Kellner mit dem Essen. Das Fleisch sah lecker aus. Aber was hatte das mit der Sache hier zu tun?
„Die dahinten meine ich!“
Da saßen welche. „Aber sie sind erst gerade gekommen!“, hielt ich entgegen. Sie schwieg - weil sie wusste, egal was sie erwiderte, ich würde ihr nicht glauben.
Wir begannen zu essen.
Sie meinte, die Dorfbewohner meinten, ich sei bloß dieser Mann dort auf dem Wahlplakat. Deswegen hätten sie gegrüßt.
Aha, wie ich sah, ein Politiker, na ja, die meinen, die Welt drehe sich nur um sie. Nicht weiter schlimm, wie heißt das Sprichwort: was Jupiter, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt.
„Du ähnelst ihm halt zu sehr.“
Das verstimmte mich gewaltig, als ich erkannte, dass er von der falschen Partei war.
Stumm aßen wir zuende. Sie blätterte in ihren Werbebroschüren, ich las in einem Roman.
„Die Pommes Frites schmecken aber gut“, entfuhr es mir spontan. Zu dumm. Ich durchbreche doch stets die Mauer, weil ich nicht das Maul halten kann. Sie wertete das natürlich als Schuldeingeständnis, aber immerhin gab sie sich konziliant.
„Dann bestell Dir noch welche!“
„Danke, brauche ich nicht unbedingt“.
Wir lasen, oder was man halt so darunter versteht, weiter.
Plötzlich sagte sie: „Zahl Du mal!“ Als ich erschrocken aufschaute, legte sie ihren Geldbeutel auf den Tisch und ging aufs Klo.
Das Plappermaul Wirt war nicht zu stoppen, während er die Abrechnung erstellte. Das war Absicht und zielte daraufhin, mich vom Herausgeben abzulenken. Ich musste ihn darauf aufmerksam machen, dass ich noch Wechselgeld zurückbekam. „Natürlich!“, sagte er. Er schien ein Alibi zu haben, weil sein großes Portemonnaie noch aufgeklappt war. Aber sobald er es zugehabt hätte, bin ich mir sicher, wäre er wie ein Wirbelwind weggesaust.
Konnte es mir egal sein, weil es ihr Geld war? Das war wohl ein Trugschluss! Für alles musste man bezahlen, früher oder später. Die Rechnung von ihr käme früher als geahnt. Und wer scheffelt den Reibach bei all dem eitlen Affentheater, obwohl doch alles mit geordneten Dingen zugehen soll? Ein Dritter, genau, das hatte uns gerade noch gefehlt. Und ein Wirt zu allem Übel!
Nach dem gepflegten Schnitzel, das wir genossen, wussten wir nicht mehr genau, wo wir uns befanden. Der Ort war aber auch viel zu verwinkelt. Ich kam auf die Idee, den Wirt zu fragen, bevor wir uns den vor uns sich bedrohlich steil erhebenden Serpentinen des Berges stellen sollten. Oh unverhofftes Glück, es stellte sich heraus, diese Ortschaft besaß zwei Bahnhöfe, mit 100 Höhen-Metern Unterschied. Freudig ließen wir natürlich unsere Räder zum unteren rollen.
„Sprich mit den Einheimischen und manche Probleme lösen sich von selbst“, bemerkte sie naseweise. Ich fand diese Bemerkung doof, meinte sie doch damit meine Geisteshaltung allgemein und aktuell, dass mein Vorgehen wieder einmal mit Erfolg gekrönt worden ist - so nun hatten wir nicht mehr lange nach Hause. Das klang aus ihrem Mund, als stammte es aus einem Partei-Programm.
Aber, Moment. Überlege dir das einmal genau! Würde das ausreichen, einem solchen Pamphlet genügen? Klingt etwas arg mager, nicht wahr. Oberflächlich betrachtet würde es wohl kaum für ein solches ausreichen. Obwohl, als Präambel und statt Einheimische mit Volk ersetzt, schon wiederum.
Dass wir einen anderen Weg mit der Bahn nach Hause fuhren, spielte keine Rolle mehr. Alle Wege, Fahrradwege sind verschlungen genauso wie politische Lichter blind sind und wer weiß, vielleicht würde ich das nächste Mal dort auf dem Plakat prangen!
Es ist Abend, ein zur Neige gehender Tag, was Gift für mich ist, wie für Dracula die Abenddämmerung. Bilder, Filmaufnahmen, eindringlich und nachhaltig - sie verfolgen mich, wie es nur Hollywood-Aufnahmen vermögen.
Im Zugabteil am Fenster, Ghandi, von Südamerika nach Indien fahrend, die glutrote Morgensonne des Orients über den flachen Hügeln der weiten Landschaft geht auf und sein Blick funkelt verheißungsvoll. Stattdessen kauere ich in meinem Sitz eingeschüchtert und das Gesicht hinter vorgezogenem Vorhang verbergend. In meinen Augen blitzte die Angst.
Ach Herrje, diese Vorstellung, in der Zukunft mein Konterfei auf Plakaten zu sehen, ist sie angenehm oder beängstigend, sehr beängstigend und zwar sogar sehr, sehr beängstigend oder wie oder was...?
Als ob meine Partnerin in meinen Gedanken lesen könnte, sagt sie: „So, du willst also Politiker werden!“
Ich wehre ab. „Na hör einmal, nur weil ich mich von ein paar winkenden Teenies habe täuschen lassen und zurück gewunken habe, kann man nicht diesen Schluss ziehen, nur weil heute Wahltag ist.“
„Na ich, weiß nicht?“, lächelte sie verschmitzt. Als ob sie mich besser kennen würde als ich mich. Nein, das Letzte, was ich werden wollte, wäre Politiker. Dann lieber Clochard.
„Schau mal. Ich würde niemals gewählt werden, da bin ich mir sicher.“
„Ja, warum?“, und ihr Augen funkeln vor sich überspülendem Neugierdeblick.
„Na, weil mir stets eine Stimme fehlen würde.“
„Ja, wieso das?“
Ich lache, weil ich weiß, jetzt hast du sie. Hätte sie gesagt, was naheliegender gewesen wäre, bist du sicher, dass dir nur eine Stimme fehlen würde und nicht ein paar mehr, hätte sie mich ausgestochen. Aber so kann ich mit einem klassischen Bonmot entgegenhalten.
Noch aber nicht damit heraus.
„Na, warum fehlte mir eine Stimme?“
Sie versteht mich immer noch nicht, obwohl sie mich irritiert in die Augen schaut.
Nun, wenn sie es nicht gleich kapierte, hätte sie in Bausch und Bogen verloren. Aber ich ließ ihr Zeit, sagte noch einmal: „Na, warum wohl? Ich und ein Politiker. Ein Vertreter des Volkes. Der weiß, was für es gut sein soll. Ein Führerchen mit Schein?“
Natürlich weiß sie, dass ich mich niemals zu solch einem „Größenwahn“ aufschwingen und mich dazu berufen fühlen würde: nein, ich könnte nicht ernsten Gewissens behaupten, zu wissen, wohin der rechte Weg in die Zukunft führe. Natürlich weiß ich aber auch, dass man einen Standpunkt, eine Position, nahezu eine Vision haben muss, um gewählt und für ein politisches Mandat auserkoren zu werden. Oder aber, man sagt nur Muh, nicht Kuh. Es ist es zu unheimlich, für ungehemmte Wirtschaft, ungezügelten technischen Fortschritt, Asphaltierung und Plattierung um jeden Preis zu proklamieren und postulieren.
Also mein Zurückgezogenheit ist strenggenommen keine Bescheidenheit, sondern entspringt eher dem Quell der Seriosität, sofern man das überhaupt trennen kann. Und mich hinzustellen, den Finger auf mich selbst zu zeigen oder meine Hände über meinen Kopf zusammenzuschlagen, ist mir zu scham- und hemmungslos, wenn nicht zu borniert, auf jeden Fall zu albern.
Außerdem, die ganze Umweltverschmutzung und dieser Aufwand, der damit zusammenhinge, mit der Druckerei von Plakaten, Broschüren, Gedrucktem, Spritverbrauch durchs Herumtingeln, nö, das erlaubte mir niemals nicht mein Gewissen und meine Visage ist’s sowieso nicht wert (könnte auch anders gesehen sein.) Wenn ich zwischen beiden wählen muss: die Priorität hat stets das Allgemeine.
Wer aber kann das verstehen?
Jedenfalls kam sie nicht darauf. Das ist ein Vorteil, wenn man etwas politische Bildung hat, ein bisschen sich auskennt in der Geschichte und in manchen Biographien von Politikern: ich sage nur Ludwig XIV und Konrad Adenauer. Tja, nützen tut’s zwar nicht, weniger würde unbefangener machen, aber so ist es.
Ich dufte ich sie nicht länger hängen lassen.
„Mir würde meine eigene Stimme zum Wahlsieg fehlen!“
Sie lehnte sich enttäuscht zurück, rümpfte die Nase und schaute desinteressiert aus dem Fenster. Schön doof, so offensichtlich und sogar noch ausgesprochen nichts von sich selber zu halten. Vor allem dies zuzugeben zudem, bedeutet offene Flanken zu präsentieren.
Aber alles das traf nicht zu, und im wesentlichen Punkt täuschte sie sich auch.
Wer keine soziale Anerkennung erhält, ist selber schuld und diese bekäme man nur, wenn man sich vordrängt und mit dem Finger auf seine Brust weist. Das kann und darf es nicht sein.
Es ist zu rechnen, wir würden uns nicht mehr so schnell gemeinsam auf die Fahrradsattler schwingen. Leider, fand ich’s doch ganz amüsant.
„Ist das nicht wie wählen!“, bemerkte ich. „Du wählst heute die, die du schon gestern gewählt hast und dich von der Freiheit weiter weggebracht haben als je zuvor. Aber heute tauchen sie wieder auf und verkünden: sie bringen dich am schnellsten ans Ziel dieser Freiheit, was auch stimmt, verdammt noch Mal – im Vergleich zu den anderen!“
„Du missverstehst etwas. Freiheit ist kein Punkt in der Ebene, der zwischen Punkt A und B liegt, sondern so etwas wie ein Kreis!“, antwortet sie siebengescheit und neunmalklug.
„Da muss ich Dir leider Recht geben! Das große Missverständnis!“
Hauptsache, man schlug sich dabei nicht die Köpfe ein, das war’s.
Plötzlich begriff sie. „Sag bloß, du hast heuer wieder nicht gewählt.“
Ich schwieg.
„Das ist die Höhe!“
Das scheint das größte Verbrechen zu sein, nicht zu wählen.
Diese sich hier und heute über meine Wahlpassivität sich echauffierende Person, hatte mir das erste Mal, als wir zusammen auf Tour ins Grüne gefahren waren, glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, eine gehörige Standpauke gehalten, weil ich die Impertinenz und Unverfrorenheit besäße, wildfremde, unbekannte Menschen auf der Straße anzusprechen. Auf unserem Weg durchs oberbayerische Moos fragte ich die uns Begegnenden, wo es lang ginge. Ist das nicht logisch und vernünftig? Sie waren schließlich einheimisch.
Sie stattdessen zog es entschieden vor, sich bei sämtlichen Touristenbüros jeglichem hinterwäldlerischen Ortes und Ortschaft mit kaum mehr als einer Kirche und einem Bauernhof und natürlich der unvermeidlichen Stadtverwaltung inklusive unvermeidlichem Tourismusbüro sich Landschaftskarten für Radwege zu besorgen. Mit einem Navigator am Lenker durch die Prärie zu fahren, mittlerweile Standard, war noch undenkbar. Außerdem, die Menschen gaben doch gerne Auskunft, Herrgott noch mal.
Aber nein, sie meinte, dass sich das nicht gehörte.
Nichts gegen Wanderweg-, Fahrrad- und Besichtigungsleckerbissen-Karten, aber leider sind allzu viele irreführend und ihrem Zweck nach kontraproduktiv. Die Gemeinden wollen Geld verdienen, in einer Ausschließlichkeit, scheint mir, dass die Wege nicht nach Sehenswürdigkeitsaspekten ausgeschrieben sind, sondern mehr fürs konsumorientierte Verhalten der Touristen. Ich erwartete schon um die nächste Ecke ein großes Einkaufszentrum, durch das der Fahrradweg führen würde, vorbei an leckeren, duftenden Speisen, bunten, rosaschleifig verpackten Krimskrams und sonstigen konsumverlockenden Sirenen. Mein Hoffnung bestand und sie wurde erfüllt, darin, dass heute, weil Feiertag war, der Weg um ein solches führte. Ich atmete auf, noch gab es in diesem Lande Feiertage, meine Brust weitete sich wieder, als ich spürte, bislang bist du noch einmal den Sirenen entkommen und nicht von den Felsen Skylla und Charybdis zermalt worden.
Ich erinnere mich nur allzu schrecklich genau daran, als wir die Isar auf einem dieser ausgeschriebenen, asphaltierten Fahrradwegen entlang fuhren. Weit und breit kein Fluss. Nach 20 Kilometern, dachte ich mir, zum Teufel, kaum Hunderte Meter von uns entfernt, dort jenseits dieser Laubwälder, musste die Isar dahinfließen und wir, wir durchquerten die einförmigen Ortschaften hier, nur um der Versuchung zu unterliegen, bei dem ein oder anderen Gasthaus einzukehren. Brüsk riss ich mein Lenkrad mitsamt dem Fahrradgestell mit mir herum und fuhr durch diesen die Isar säumenden Wälder und tatsächlich, sie floss da träge und traut in ihrer natürlichen Schönheit dahin, als wartete sie nur auf uns, daneben sogar, wenn auch unbebaute, aber im Prinzip eben Flur-Wege, die einem richtig Spaß machten, mit dem Fahrrad zu befahren.
Und solch eine Verbieterin insistierte auf die obligatorische Pflicht, in einer Demokratie unbedingt und bedingungslos wählen gehen zu müssen. Na klar, sie gehörte auch zu dem großen Verein, Staat genannt, einmal tätig in der Verwaltung und einmal politische Mandatsträgern, was sehr günstig war. Parteiliche Telefonate konnten leicht, praktisch und günstig über die Drähte der Verwaltung erledigt werden, wenn sie auch dafür nicht gedacht waren. Wenn über die Korruption von sogenannten Entwicklungsländern berichtet wurde, kam ich regelmäßig ins Grübeln.
Der Witz war, dass sich die Partei „Die Richtigen“ nannte, was man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen muss. Natürlich war das nur eine Verlegenheitslösung, anders kann das nicht sein. Die „Guten“ sind ja schon vergeben, was bleibt da noch übrig. Aber „Richtige“ – das bietet eine breite Assoziationspalette: wählt uns, wir sind goldrichtig, eine Millionengewinn erwartet euch; oder wie in der Wissenschaft, da muss auch alles exakt und genau gehen, wenn auch hier die Übertragung, der Transfer zur Politik nur schwer herstellbar war. Aber egal, Hauptsache, positive Projektionsflächen, ob sie jetzt richtig oder falsch lagen? Natürlich lagen sie falsch, besser ziemlich daneben.
Ich galt mit meinem permanenten Verweigerungstatus als Paradiesvogel mit Vogelscheuchenstatus. Nicht einmal Steuer konnte man bei mir abzwacken, so weit reichte meine Verweigerungshaltung dieser Gesellschaft gegenüber. Ich war sozusagen der Paria dieser, ganz, ganz unten angesiedelt. Aber man hatte noch ein mitleidig-christlich-wohlwollendes Auge auf mich geworfen, sonst würde man sich ja mit mir gar nicht abgeben und solche Freizeitaktivitäten wie Fahrt ins Grüne unternehmen. Aber, wie schon eingangs erwähnt, mein Eintrittspreis dazu hatte es in sich. Außerdem, man musste jederzeit rechnen, dass dies einem aufs Butterbrot gespieen wird, das tat noch jeder, mit dem ich verkehrte, früher oder später. Die Übermenschen-Untermenschen-Mentalität ist nicht auszurotten.
Mittlerweile habe ich es aber durchgesetzt, X-Beliebige, Dahergelaufene, fremde Leute, die meinen Weg kreuzen, ungestraft und ungescholten befragen zu dürfen, zum Beispiel, zuerst, wohin und wie weit es nach Freiburg gehe und, die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen zu können, schlussendlich, wohin geht’s zum nächsten Bahnhof überhaupt: das nennt man resigniert das Handtuch werfen. Aber ein Ausflug diene zur Freude, nicht als Arbeitsersatzhandlung.
Wir mussten unser Ziel aufgeben; schließlich gibt es auch andere Bahnhöfe als Freiburg und steuerten auf den von Sicherheitlingen zu. Dieser lag ungünstigerweise ziemlich oben, so dass wir erst einmal den Ort anschauten, der immer tiefer hinabging und am Fuße des Berges endete.
„Erst Mal essen gehen!“ Wenn auch von einer Frau, aber das war wenigstens einmal ein Wort!
Wie ein Lauffeuer schien es sich im Ort herumgesprochen zu haben: zwei Fremde. So winkten uns sämtliche Autofahrer aus ihren Gefährten heraus zu.
„Du täuscht Dich. Dreh Dich Mal um!“
Es kam der Kellner mit dem Essen. Das Fleisch sah lecker aus. Aber was hatte das mit der Sache hier zu tun?
„Die dahinten meine ich!“
Da saßen welche. „Aber sie sind erst gerade gekommen!“, hielt ich entgegen. Sie schwieg - weil sie wusste, egal was sie erwiderte, ich würde ihr nicht glauben.
Wir begannen zu essen.
Sie meinte, die Dorfbewohner meinten, ich sei bloß dieser Mann dort auf dem Wahlplakat. Deswegen hätten sie gegrüßt.
Aha, wie ich sah, ein Politiker, na ja, die meinen, die Welt drehe sich nur um sie. Nicht weiter schlimm, wie heißt das Sprichwort: was Jupiter, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt.
„Du ähnelst ihm halt zu sehr.“
Das verstimmte mich gewaltig, als ich erkannte, dass er von der falschen Partei war.
Stumm aßen wir zuende. Sie blätterte in ihren Werbebroschüren, ich las in einem Roman.
„Die Pommes Frites schmecken aber gut“, entfuhr es mir spontan. Zu dumm. Ich durchbreche doch stets die Mauer, weil ich nicht das Maul halten kann. Sie wertete das natürlich als Schuldeingeständnis, aber immerhin gab sie sich konziliant.
„Dann bestell Dir noch welche!“
„Danke, brauche ich nicht unbedingt“.
Wir lasen, oder was man halt so darunter versteht, weiter.
Plötzlich sagte sie: „Zahl Du mal!“ Als ich erschrocken aufschaute, legte sie ihren Geldbeutel auf den Tisch und ging aufs Klo.
Das Plappermaul Wirt war nicht zu stoppen, während er die Abrechnung erstellte. Das war Absicht und zielte daraufhin, mich vom Herausgeben abzulenken. Ich musste ihn darauf aufmerksam machen, dass ich noch Wechselgeld zurückbekam. „Natürlich!“, sagte er. Er schien ein Alibi zu haben, weil sein großes Portemonnaie noch aufgeklappt war. Aber sobald er es zugehabt hätte, bin ich mir sicher, wäre er wie ein Wirbelwind weggesaust.
Konnte es mir egal sein, weil es ihr Geld war? Das war wohl ein Trugschluss! Für alles musste man bezahlen, früher oder später. Die Rechnung von ihr käme früher als geahnt. Und wer scheffelt den Reibach bei all dem eitlen Affentheater, obwohl doch alles mit geordneten Dingen zugehen soll? Ein Dritter, genau, das hatte uns gerade noch gefehlt. Und ein Wirt zu allem Übel!
Nach dem gepflegten Schnitzel, das wir genossen, wussten wir nicht mehr genau, wo wir uns befanden. Der Ort war aber auch viel zu verwinkelt. Ich kam auf die Idee, den Wirt zu fragen, bevor wir uns den vor uns sich bedrohlich steil erhebenden Serpentinen des Berges stellen sollten. Oh unverhofftes Glück, es stellte sich heraus, diese Ortschaft besaß zwei Bahnhöfe, mit 100 Höhen-Metern Unterschied. Freudig ließen wir natürlich unsere Räder zum unteren rollen.
„Sprich mit den Einheimischen und manche Probleme lösen sich von selbst“, bemerkte sie naseweise. Ich fand diese Bemerkung doof, meinte sie doch damit meine Geisteshaltung allgemein und aktuell, dass mein Vorgehen wieder einmal mit Erfolg gekrönt worden ist - so nun hatten wir nicht mehr lange nach Hause. Das klang aus ihrem Mund, als stammte es aus einem Partei-Programm.
Aber, Moment. Überlege dir das einmal genau! Würde das ausreichen, einem solchen Pamphlet genügen? Klingt etwas arg mager, nicht wahr. Oberflächlich betrachtet würde es wohl kaum für ein solches ausreichen. Obwohl, als Präambel und statt Einheimische mit Volk ersetzt, schon wiederum.
Dass wir einen anderen Weg mit der Bahn nach Hause fuhren, spielte keine Rolle mehr. Alle Wege, Fahrradwege sind verschlungen genauso wie politische Lichter blind sind und wer weiß, vielleicht würde ich das nächste Mal dort auf dem Plakat prangen!
Es ist Abend, ein zur Neige gehender Tag, was Gift für mich ist, wie für Dracula die Abenddämmerung. Bilder, Filmaufnahmen, eindringlich und nachhaltig - sie verfolgen mich, wie es nur Hollywood-Aufnahmen vermögen.
Im Zugabteil am Fenster, Ghandi, von Südamerika nach Indien fahrend, die glutrote Morgensonne des Orients über den flachen Hügeln der weiten Landschaft geht auf und sein Blick funkelt verheißungsvoll. Stattdessen kauere ich in meinem Sitz eingeschüchtert und das Gesicht hinter vorgezogenem Vorhang verbergend. In meinen Augen blitzte die Angst.
Ach Herrje, diese Vorstellung, in der Zukunft mein Konterfei auf Plakaten zu sehen, ist sie angenehm oder beängstigend, sehr beängstigend und zwar sogar sehr, sehr beängstigend oder wie oder was...?
Als ob meine Partnerin in meinen Gedanken lesen könnte, sagt sie: „So, du willst also Politiker werden!“
Ich wehre ab. „Na hör einmal, nur weil ich mich von ein paar winkenden Teenies habe täuschen lassen und zurück gewunken habe, kann man nicht diesen Schluss ziehen, nur weil heute Wahltag ist.“
„Na ich, weiß nicht?“, lächelte sie verschmitzt. Als ob sie mich besser kennen würde als ich mich. Nein, das Letzte, was ich werden wollte, wäre Politiker. Dann lieber Clochard.
„Schau mal. Ich würde niemals gewählt werden, da bin ich mir sicher.“
„Ja, warum?“, und ihr Augen funkeln vor sich überspülendem Neugierdeblick.
„Na, weil mir stets eine Stimme fehlen würde.“
„Ja, wieso das?“
Ich lache, weil ich weiß, jetzt hast du sie. Hätte sie gesagt, was naheliegender gewesen wäre, bist du sicher, dass dir nur eine Stimme fehlen würde und nicht ein paar mehr, hätte sie mich ausgestochen. Aber so kann ich mit einem klassischen Bonmot entgegenhalten.
Noch aber nicht damit heraus.
„Na, warum fehlte mir eine Stimme?“
Sie versteht mich immer noch nicht, obwohl sie mich irritiert in die Augen schaut.
Nun, wenn sie es nicht gleich kapierte, hätte sie in Bausch und Bogen verloren. Aber ich ließ ihr Zeit, sagte noch einmal: „Na, warum wohl? Ich und ein Politiker. Ein Vertreter des Volkes. Der weiß, was für es gut sein soll. Ein Führerchen mit Schein?“
Natürlich weiß sie, dass ich mich niemals zu solch einem „Größenwahn“ aufschwingen und mich dazu berufen fühlen würde: nein, ich könnte nicht ernsten Gewissens behaupten, zu wissen, wohin der rechte Weg in die Zukunft führe. Natürlich weiß ich aber auch, dass man einen Standpunkt, eine Position, nahezu eine Vision haben muss, um gewählt und für ein politisches Mandat auserkoren zu werden. Oder aber, man sagt nur Muh, nicht Kuh. Es ist es zu unheimlich, für ungehemmte Wirtschaft, ungezügelten technischen Fortschritt, Asphaltierung und Plattierung um jeden Preis zu proklamieren und postulieren.
Also mein Zurückgezogenheit ist strenggenommen keine Bescheidenheit, sondern entspringt eher dem Quell der Seriosität, sofern man das überhaupt trennen kann. Und mich hinzustellen, den Finger auf mich selbst zu zeigen oder meine Hände über meinen Kopf zusammenzuschlagen, ist mir zu scham- und hemmungslos, wenn nicht zu borniert, auf jeden Fall zu albern.
Außerdem, die ganze Umweltverschmutzung und dieser Aufwand, der damit zusammenhinge, mit der Druckerei von Plakaten, Broschüren, Gedrucktem, Spritverbrauch durchs Herumtingeln, nö, das erlaubte mir niemals nicht mein Gewissen und meine Visage ist’s sowieso nicht wert (könnte auch anders gesehen sein.) Wenn ich zwischen beiden wählen muss: die Priorität hat stets das Allgemeine.
Wer aber kann das verstehen?
Jedenfalls kam sie nicht darauf. Das ist ein Vorteil, wenn man etwas politische Bildung hat, ein bisschen sich auskennt in der Geschichte und in manchen Biographien von Politikern: ich sage nur Ludwig XIV und Konrad Adenauer. Tja, nützen tut’s zwar nicht, weniger würde unbefangener machen, aber so ist es.
Ich dufte ich sie nicht länger hängen lassen.
„Mir würde meine eigene Stimme zum Wahlsieg fehlen!“
Sie lehnte sich enttäuscht zurück, rümpfte die Nase und schaute desinteressiert aus dem Fenster. Schön doof, so offensichtlich und sogar noch ausgesprochen nichts von sich selber zu halten. Vor allem dies zuzugeben zudem, bedeutet offene Flanken zu präsentieren.
Aber alles das traf nicht zu, und im wesentlichen Punkt täuschte sie sich auch.
Wer keine soziale Anerkennung erhält, ist selber schuld und diese bekäme man nur, wenn man sich vordrängt und mit dem Finger auf seine Brust weist. Das kann und darf es nicht sein.
Es ist zu rechnen, wir würden uns nicht mehr so schnell gemeinsam auf die Fahrradsattler schwingen. Leider, fand ich’s doch ganz amüsant.