Von hohen erzieherische Idealen zu tiefen seelischen Störungen
Über viele Jahrhunderte war Gewalt in der Erziehung normal und üblich, inzwischen ist sie zum Glück verpönt. Seit dem Jahr 2000 sind im Bürgerlichen Gesetzbuch Regeln für den Schutz von Kindern festgeschrieben: "Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung". Ergibt sich daraus nun ein goldenes Zeitalter für Kinder? Es gibt glückliche Kinder, doch sie scheinen eher eine Minderheit zu sein. Wer in den 60ern zur Schule ging, dem wird seine Schulzeit recht locker vorkommen im Vergleich mit den Problemen in und um Schule der Kinder und Jugendlichen von heute.
Mit dem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit haben sich die Vorstellungen von der Notwendigkeit der Erziehung nicht wesentlich geändert. Das Kind ist weiterhin Objekt von Wunschvorstellungen und Erziehungszielen, die nicht weniger, sondern mehr und mehr werden und unbarmherziger verfolgt werden. Da stellt sich die Frage, wie das, was früher mit Gewalt erreicht oder zu erreichen versucht wurde, heute auf "gewaltfreiem" Weg angestrebt wird.
Gewalt ohne Täter?
Im Allgemeinen wird Gewalt als eine Tat angesehen, es gibt einen oder mehrere Täter sowie ein oder mehrere Opfer. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat jedoch festgestellt, dass die Ursachen und die Dynamik von Gewalt erst verständlich werden, wenn man den Gewaltbegriff von der sichtbaren Tat erweitert um die kulturelle und die strukturelle Gewalt. Unter kultureller Gewalt versteht er Denk- und andere Gewohnheiten, die Gewalt rechtfertigen oder veranlassen. Zur strukturellen Gewalt zählen Macht- und Gesellschaftsstrukturen, die wie direkte Gewalt eine vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender Bedürfnisse oder Entfaltung der Möglichkeiten von Menschen bewirken. http://them.polylog.org/5/fgj-de.htm
Die Auswirkungen von Gewalt sind neben körperlichen Schäden vor allem psychische Beeinträchtigungen: Angst und Scham als direkte Emotionen, die dann Entmutigung und vermindertes Selbstwertgefühl nach sich ziehen. Eine solche Einschüchterung ist meist auch vom Täter gewollt, um eigene Interessen durchzusetzen. Nun sind viele Menschen eingeschüchtert, mutlos und voller Selbstzweifel, ohne dass ihnen offensichtlich Gewalt angetan wurde. Das spricht dafür, dass hier eine subtile Form von Gewalt am Werke ist, die nicht so leicht einem Täter und einer Tat zuzuordnen ist. Sie könnte identisch sein mit der kulturellen und strukturellen Gewalt, die Galtung anspricht.
Von den Betroffenen wird diese subtile Gewalt als Druck empfunden und benannt, als etwas Schweres, was niederdrückt und dem man viel Kraft entgegensetzen muss, um nicht erdrückt zu werden. Zwang ist etwas ähnliches, allerdings hat Zwang ein eindeutiges Ziel, was der Gezwungene tun soll. Druck dagegen ist eher diffus, er hat nur eine Richtung, dem Betroffenen wird zusätzlich zugemutet, selbst herauszufinden, wie er dem Druck nachgeben kann.
(Er)Ziehen und (Er)Drücken
Physikalisch gesehen ist Druck eine Art der Kraftübertragung von einem Körper zu einem anderen. Mit der Folge, dass der zweite Körper bewegt wird, wenn keine ebenso starke Gegenkraft vorhanden ist. Die Richtung der Bewegung ist beim Druck von der bewirkenden Kraft weg. Die entgegengesetzte Art der Kraftübertragung ist der Zug, hier ist die Bewegungsrichtung zur Kraft hin. Druck wirkt durch Abstoßung, der Zug durch Anziehung.
Der Unterschied zeigt sich, wenn das Objekt beweglich ist. Mit einem Seil kann man ziehen, aber man kann damit keinen Druck übertragen. Beim Druck auf ein Objekt versucht dieses auszuweichen, wenn immer das möglich ist. Um Druck anzuwenden, braucht es eine Struktur, die jedes Ausweichen verhindert. Ohne die Schulpflicht und ein ganzes System der Kontrolle über Ausweichmöglichkeiten könnte über die Schulen kein Druck auf die Schüler ausgeübt werden, sie würden einfach wegbleiben.
Freiwilliges Lernen geschieht über Anziehungskräfte, übers Interesse und die Freude und Vorfreude am Können und Wissen. Dafür braucht es keine Machtstrukturen und Kontrollen. Aber unser Gesellschaftssystem baut nicht auf Freiwilligkeit. Wenn es so wäre, müssten beispielsweise die unangenehmsten Arbeiten am besten bezahlt werden. Es ist aber eher umgekehrt, sie werden am schlechtesten entlohnt und am wenigsten anerkannt. Und das ist so gewollt von denen, die von den Niedriglöhnen profitieren. Dafür braucht es Verlierer, Menschen, die das hinnehmen, ohne sich zu wehren. Um diese Interessen durchzusetzen, braucht es Druck, Machtstrukturen und Kontrolle über die Ausweichmöglichkeiten, kurz gesagt: die strukturelle Gewalt. Dazu aber auch noch die kulturelle Gewalt, die Denkweisen und Vorstellungen, dass das alles normal, richtig und unabänderlich ist.
Kein Mensch wird als Verlierer geboren, dazu muss er erzogen werden, oder treffender gesagt: erdrückt. Er muss an den Druck gewöhnt werden, der ihn später dazu zwingt, die Dreckarbeit zu erledigen. Auch das ist Aufgabe der Schule, die Hierarchien zu erhalten, die oberen wie die unteren Positionen zu verteilen. In den Festreden und Schriften zur Begründung von Schule kommt dies natürlich nicht vor. Ohne diese Aufgabe, wenn es wirklich nur um optimale Bildung ginge, könnte Schule ganz anders sein, erfreulicher für Schüler und Lehrer. Dass sie so bleiben muss, wie sie schon immer war, liegt genau daran.
Konflikte, Spannung und Widerstand
Eltern und Lehrer sind diejenigen Erwachsenen, die am meisten mit den Schülern zu tun haben. Dennoch wäre es zu kurz gedacht, sie als alleinige Verursacher des Drucks zu sehen. Der Druck kommt aus der ganzen Gesellschaft. Eltern und Lehrer sehen sich nur als Überbringer der schlechten Botschaft, dass die Welt nun mal eben so ist.
Ganz unschuldig am Druck sind Eltern und Lehrer aber auch nicht. Der Druck kommt von oben, aber sie machen mit, geben den Druck weiter, meistens, um Konflikte mit der Macht von oben zu vermeiden. Konflikte treten auf, wo die Spannung groß ist, und die Spannung verteilt sich nach den Widerständen. Das gilt in einer Hierarchiekette ebenso wie bei einer Serienschaltung in der Elektrophysik. Die Gesamtspannung ist die Differenz zwischen der menschlichen Natur und dem Idealbild von Menschen, wie es von den Mächtigen in Wirtschaft und Politik als idealer Arbeiter, Konsument und Untertan gewünscht wird. Auf dem Weg von Oben nach Unten zum betroffenen Schüler hin wäre theoretisch überall Widerstand zum Druck von oben möglich, da er aber praktisch kaum vorhanden ist, bleibt fast die gesamte Spannung und das ganze Konfliktpotential unten, in Schule und Elternhaus.
In der offiziellen Schulhierarchie von der Kultusministerkonferenz bis zum Lehrer ist der fehlende Widerstand nicht weiter verwunderlich – mutige Lehrer, die den Druck nicht weitergeben, sondern abmildern, waren schon immer Ausnahmen. Doch dass jetzt auch die meisten Eltern den Druck in der Schule als selbstverständlich und unvermeidlich akzeptieren, ist eine neuere Entwicklung.
Nach der Einführung der Schulpflicht gab es massive Widerstände von Eltern dagegen. Zwar war das nicht immer im Interesse der Kinder, oft ging es auch nur darum, die Arbeitskraft der Kinder zu nutzen. Doch immerhin waren die Forderungen von Schule und Elternhaus unterschiedlich, sie konnten gegeneinander ausgespielt werden, es gab mehr Lücken im System, mehr Möglichkeiten, auszuweichen. Der Druck der Schule über die Noten war auszuhalten, solange die Eltern nicht soviel Wert darauf legten.
Die Vorstellungen, dass das spätere Lebensglück von den Noten in der Schule abhängt, und dass Konkurrenz und Leistungsdruck natürlich und unvermeidbar ist, sind auch deshalb von Eltern und der ganzen Gesellschaft übernommen worden, weil der Druck in der Arbeitswelt zugenommen hat. Existenzängste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und sinkender Löhne im unteren Bereich werden zu Sorgen um die Zukunft der Kinder, von denen die Wahrnehmung ihres gegenwärtigen Unwohlseins überdeckt wird. Weil sie sich selbst an die Anforderungen von Oben angepasst haben , halten sie es auch für die beste oder einzige Überlebensstrategie für ihre Kinder.
Der letzte Konflikt
Wenn auch die Schüler den Widerstand aufgeben und die Sichtweise der Gesellschaft übernehmen und das wollen, was sie wollen sollen, scheint es für die Erzieher ein Erfolg, ein Erziehungsziel ist erreicht. Doch für viele Schüler fängt das Drama damit erst richtig an, denn der Konflikt zwischen Idealbild und menschlicher Natur ist damit nicht gelöst, er ist nur ins Innere der Seele verschoben, wo er sich verheerend auswirken kann. Der Wille und das Bewusstsein ist ja nur ein Teil des ganzen Menschen, das Unterbewusstsein und der Körper machen nicht alles mit, was der Wille sich vornimmt. Der Konflikt im Inneren wird zum Kampf gegen sich selbst, der im Extremfall bis zur Selbsttötung gehen kann.
Seit Jahrmillionen haben Kinder draußen frei herumstreunend die Welt erkundet, darauf hat sich die menschliche Natur eingestellt. Deshalb fühlt sich die menschliche Natur nicht wohl dabei, ein Leben wie in der Schule zu führen. Stundenlang stillzusitzen und den Kopf mit Informationen zu füllen, die kaum Bezug zum restlichen Leben haben, ist nicht gerade das, was sie vom Leben erwartet. Mit Glücksversprechen für die ferne Zukunft kann das Unterbewusstsein, die körpernahe Intelligenz, nicht viel anfangen, doch bei unerträglicher Gegenwart sucht sie nach Auswegen.
Diese Auswege führen zu Symptomen, die dann als krankhaft gesehen werden. Als Reaktion auf die Langeweile wird in der Freizeit nach rauschhaftem Erleben gesucht, es kommt zu Süchten aller Art. Bei Mangel an Erfolgserlebnissen, an Freude und Begeisterung gehen die Lebensfunktionen auf Sparflamme, was dann als Depression diagnostiziert wird. Wenn das Unterbewusstsein dagegen noch über viel Energie verfügt, rebelliert es gegen die Anpassung des Bewusstseins und bringt damit genau die Symptome hervor, die der neu entdeckten Krankheit ADHS zugeschrieben werden: innere Unruhe, Ablenkung, impulsives Verhalten, Hyperaktivität.
Die Anerkennung als krank ist für den Betroffenen erst mal entlastend, er wird nicht mehr so sehr als faul, bösartig oder unwillig attackiert. Doch zugleich wird damit die Norm und die Normalität des schulischen Druckes vor Kritik geschützt. Am kranken Schüler stimmt etwas nicht, seine Natur ist fehlerhaft, er muss behandelt werden. Die Schule als Beteiligte am Konflikt gerät aus dem Blickfeld, an ihr etwas zu ändern, kommt niemandem mehr in den Sinn.
Mit Medikamenten geht die Konfliktverschiebung noch einen Schritt weiter, nun wird auf biochemischer Ebene ins Gehirn eingegriffen, um Erziehungsziele durchzusetzen. Mit Ritalin wird das störende Unterbewusstsein betäubt, mit Antidepressiva die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt.
Bezahlt wird mit lebenslanger Medikamentenabhängigkeit und Nebenwirkungen, aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Erschreckende ist das blinde Funktionieren des Systems, der gemeinsam abgewendete Blick. Statt den Mangel an Freude und Begeisterung zu bemerken, werden Antidepressiva gegeben. Statt ein natürliches Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung anzuerkennen, wird Ritalin verordnet. Schöne neue Welt – wir sind angekommen!
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Geschrieben für Unerzogen-Magazin 1/14 http://www.unerzogen-magazin.de/