Mängelexemplar

Anekdote zum Thema Recht und Gesetz

von  Sanchina

Als Jura-Studentin hatte ich eine Wohnung im Haus einer alten Dame; sie wohnte unten und ich  oben. Meine Vermieterin war untröstlich, weil ihre Pudelhündin gestorben war. Auf der Stelle hatte sie bei einem Züchter einen neuen Hund bestellt, einen Tibet-Terrier.

Ich kam von der Uni heim und traf meine Vermieterin an. Sie stand in der Tür und war gerade im Begriff, einen jüngeren Mann ziemlich zur Schnecke zu machen. Zwischen den beiden lag auf dem Treppenabsatz ein kleines Fellbündel.

Als meine Vermieterin mich sah, stach sie mit dem Zeigefinger in meine Richtung und rief: „Sie! Sie sind doch Juristin!“

Dann deutete sie auf das Fellbündel und erläuterte den Sachverhalt: „Ich habe ein Hundemädchen bestellt, aber das da ist ein Junge!“

Sie brachte mich ganz schön in Bedrängnis. Ich war doch erst im zweiten Semester.

Der Lieferant faselte etwas von einem einzigen weiblichen Welpen in diesem Wurf, den er nicht hergeben könne, weil er ihn als Zuchttier brauche.

Aus purer Verlegenheit bückte ich mich und hob das Mängelexemplar auf. Das Hündchen schmiegte sich zutraulich an mich, guckte putzig und leckte meine Hand. Den Mangel konnte ich kaum finden, weil das Tierchen so langfellig war. Ich streichelte den Welpen und sagte mitleidig zu ihm: „Will dich keiner haben? Armes Kerlchen!“ Dann erkundigte ich mich, was der Hund denn kosten solle.

Die alte Dame linste eifersüchtig zu mir her. Der Händler aber blühte wieder etwas auf. Vielleicht erhoffte  er sich in diesem Moment ein Geschäft mit mir anstatt mit meiner Vermieterin. Er konnte ja nicht wissen, dass der Preis, den er genannt hatte, meine finanziellen Möglichkeiten weit überstieg.

Ich wandte mich an meine Vermieterin: „Frau Härtling, wenn Sie ein Kind bekommen und es wird ein Junge, können Sie ihn auch nicht einfach zurück geben.“

Die alte Dame klappte ihren Mund auf und wieder zu. Dann erstach sie mich mit ihrem Zeigefinger beinahe noch einmal. „Da haben Sie Recht!“ befand sie, entriss mir den Welpen und presste ihn Besitz ergreifend an sich.

Der Händler machte auf dem Absatz kehrt, feixte mich dabei ganz kurz an und verschwand in großer Eile.

Viel später, in der Berufspraxis, fragte ich mich oft, ob es nicht viel besser gewesen wäre, mir meine Fähigkeit zu allseits zufriedenstellender Konfliktlösung zu bewahren, anstatt Anwältin zu werden. Ich finde nämlich, dass das Rechtssystem, mit dem wir leben, eine exorbitante historische Fehlentwicklung ist, so dass aus seiner hehren Grundidee, der Gerechtigkeit, unmöglich etwas werden kann.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (11.11.14)
ich finde, der Schluss schreit nach einer Fortsetzung und Erörterung. Ansonsten ist die Geschichte recht nett.

 Sanchina meinte dazu am 11.11.14:
Da hast du Recht! Ich werde mir Gedanken machen

 Sanchina antwortete darauf am 11.11.14:
Da hast du Recht! Ich werde mir Gedanken machen
Gerhard-W. (78)
(11.11.14)
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Graeculus (69)
(11.11.14)
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 AZU20 (11.11.14)
Hübsche Geschichte. Den Schlussfolgerungen kann ich nur zustimmen. LG

 Dieter_Rotmund (12.11.14)
Obwohl mich meine bisherigen Erfahrungen dazu zwingen, Jura-Studenten nicht zu mögen und ich Hunde eklig finde, hab' ich den Text doch recht gerne gelesen.
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