Verbrannte Heimat X - Willkommene Hassbrüder

Erzählung zum Thema Zeitgeist

von  pentz

Eine Wohnung zu vermieten ist kein Zuckerlecker.
Neben meiner Wohnung war eine andere freigeworden und zur Miete anstehend. Meine Vermieterin bat mich, die Herren und Damen Aspiranten in Empfang zu nehmen, zumindest ihnen die Tür zu öffnen und einstweilen hereinzubitten, während sie noch auf dem Weg sein würde, wann wir am Samstag sämtliche Bewerber der Reihe nach zur Wohnungsbesichtigung eingeladen haben.
Zur zu vermietenden Wohnung ging es durch einen Flur, den wir beide, sowohl der neue Mieter als auch ich, benutzen würden. Er musste da hindurchgehen, um in seinen abschließbaren Wohnbereich zu kommen, ich, um in die Dusche und in meine Küche zu gelangen. Es waren also durchaus Berührungspunkte vorhanden, wiewohl jeder von uns Untermieter seinen eigenen Wohnbereich besaß.
Ich hatte zwar kein Stimmrecht, wer gegenüber mir einziehen solle, die Wohnung gehörte ganz allein der älteren Dame, aber immerhin würde ich ein bisschen Einfluss ausüben dürfen. Eine rechtliche Mitbestimmungsoption besaß ich also keineswegs, aber moralisch-sittlich oder wie man sagen soll doch, ein klitzekleines Wörtchen mitzureden stand mir zu angesichts der unvermeidlichen Überschneidungen.
Wir hatten Samstag Nachmittag ausgemacht, wo die Wohnungsbesichtigung hier und die Mieterauswahl dort stattfinden sollte. Ich erklärte mich dazu bereit, mitzuwirken und die Dame zu unterstützen, eben nicht aus ganz uneigennützigen Überlegungen heraus.
Es war Freitag Abend erst, als es bei mir Sturm klingelte und plötzlich über die Treppe herauf zwei sogenannte Russen-Deutsche in meine Wohnung drängten. Woher ich sie identifizieren konnte? Der Akzent war unüberhörbar.
„Das ist unmöglich, Sie haben doch bestimmt erst morgen einen Termin mit der Vermieterin? Wie alle Interessenten!“
„Nein, heute!“, beharrten die beiden. Ich war völlig überrascht. Hatte sich die ältere Dame von Besitzerin geirrt in der Zeit? Zuzutrauen war es ihr. Was blieb mir übrig, ich bat die Gäste und Bewerber zunächst einmal in meine Küche. Warten wir einmal ab, vielleicht kommt sie in einigen Minuten unplanmäßig.
Die zwei grinsten eigenartig, als ich sie in meine Küche gebeten hatte und wir uns auf die  Stühle setzten zum Warten.
„Kann man die Wohnung wenigstens mal ansehen!“, sagte der eine, nicht der, der einziehen wollte, denn er begleitete diesen nur. Er hatte sich die Haare abrasiert und sprach makelloses Hochdeutsch, wenn auch nicht akzentfrei.
„Leider habe ich für die zu vermietende Wohnung keine Schlüssel. Es tut mir Leid!“, musste ich sagen, worüber ich sehr froh war. Zwei recht dubiose Gesellen saßen mir gegenüber. Der Wortführer erklärte, er sei Vertreter für alle Russendeutsche in diesem Bundesland hier und half seinen Spezeln und Landmännern hierzulande Fuß zu fassen. Offenbar mit allen Mitteln.
Der andere radebrechte im Laufe des Gesprächs, dass er einen festen Arbeitsplatz habe.
„Aber sie können kaum Deutsch?!“
„Egal, für mein Geschäft reicht es“, meinte er. Dabei konnte ja wohl von Geschäft kaum die Rede sein.
Er ergänzte ein paar Sekunden später: „Ich bin aber Katholik!“ Vielleicht, weil er das Kreuz im Hausgang gesehen hatte, fand er dies bemerkenswert?
Diese Konfessionszugehörigkeit war in der Tat außergewöhnlich, soweit ich wusste, waren die meisten Russendeutsche protestantisch-evangelisch. Aber aus dem sogenannten ehemaligen Vielvölkerstaat kamen wirklich die buntesten Vögel, wobei ich das durchaus positiv meine. Die meisten waren zwar bekennende Atheisten, warum nicht auch Katholiken?
„Wie verhält sich das mit den Russendeutschen mittlerweile?“, fragte ich, um die Zeit zu überbrücken. Sei denn nicht die Zeit längst vorbei, dass diese hierherkamen, vor einem Jahrzehnt oder zwei aktuell gewesen. Heute aber?
Der Sprecher dozierte über irgendwelche Gesetze und Zuordnungen von wegen Aussiedler ersten Grades, zweiten undsoweiter. Mich interessierte das ohnehin nicht. Von mir aus durften sie aus Patagonien einwandern, aber korrekt mussten sie sich verhalten.
Der Sprecher verstummte plötzlich und atmete plötzlich tief durch, wahrscheinlich würde er jetzt auf den Punkt kommen.
Und tatsächlich, denn er sagte: „Ja, wir wurden von hier vertrieben! Aber jetzt kommen wir zurück...“
Es klang unverkennbar: und rächen uns an diejenigen, die uns aus der Heimat vertrieben haben und plötzlich sprang er auf, rannte durch den Flur und schlug mit einem Bein die Tür zur leerstehenden, zu vermietenden Nachbarwohnung auf. Diese öffnete sich leicht mit einem Ruck. Dann stand er breitbeinig zwischen dem Türrahmen, verschränkten Armes und meinte, dieser Ort sei ihr eigentlich legitimierter Heimatort. Von hier aus wurden sie vertrieben, hier durften sie wieder herkommen. Niemand durfte ihnen das Aufenthaltsrecht verweigern.
„Moment Mal!“, stotterte ich. „Aber das müssen Sie doch der Vermieterin überlassen, wen sie in ihre Privaträume einziehen lässt! Wir leben nicht mehr im Kommunismus!“
„Nichts da! Der Kommunismus hat damit nichts zu tun. Wir haben Jahrhunderte, Generationen gelitten, in Sibirien, an der Moldau, in allen Teilen des russischen Erdteils. Jetzt holen wir uns das, was uns zusteht! Wir sind genauso Deutsche wie ihr! Und ist es nicht Deutschland, auf dessen Boden wir stehen!“
„Ja, schon!“
„Also, das ist unsere angestammte Heimat. Hier bleiben wir!“
Der andere, die Schultern etwas eingezogen, schritt langsam von der Küche durch den Flur zu seinem Führer hinüber und trat hinter ihm. Jener schloss schließlich die Tür. Danach hörte ich sie die Wohnung inspizieren. Nach einiger Zeit ging die Tür auf, der Glatzkopf kam heraus, verabschiedete sich kurz, aber äußerst höflich, ich verweigerte ihm allerdings die angebotene Hand und er verschwand barsch. Es signalisierte, dass ich mich unhöflich und unangemessen verhalten habe damit.
Ich dachte an die alte Dame. Sie war immer noch nicht erschienen. Was sollte ich tun? Abwarten, morgen war ohnehin der richtige Termin, Samstag Nachmittag.
Am Morgen schon kam der andere Russe wieder, baute das Schloss aus und ein neues ein.
„Was soll das!“, frage ich erstaunt.
„Das siehst Du doch, Bruder!“

Was sollte ich tun?
Ich konnte nichts tun.
Die ältere Dame von Vermieterin wird schön überrascht sein, aber sie konnte sich nur über dem Weg des Gerichts und des Rechts vor solchen Okkupanten schützen. Wie sie mir einmal gestanden hatte, war sie aber richtig stolz darauf, sagen zu können, dass sie noch niemals hatte klagen müssen. Stets hat sie sich mit ihren Vermietern gütlich und im besten Einvernehmen getrennt.
Ob das in diesem Fall wohl klappen würde?
„Mein Gott, Herr Willi!“, antwortete sie und senkte den Blick. Sie drehte dabei einige Geldscheine in den Händen. Ich verstand, die Mieter hatten bereits bezahlt. Sie ging davon aus, dass sie dies in der Folgezeit auch regelmäßig täten.
Als sie wieder das Gesicht hob, langte sie sich dabei mit einer Hand an ihren Unterkiefer, um deutlicher sprechen zu können. „Ich bin alt und alleinstehend. Habe nur ein kleine Witwenrente. Ich brauche Geld, nicht nur zum Lebensunterhalt, sondern auch für meine Medikamente. Glauben Sie mir, niemals nicht in meinem Leben, selbst nicht zum Einschlafen, habe ich eine Pille genommen. Aber werden Sie einmal alt, dann verändern sich die Verhältnisse grundlegend“.
Nunmehr kam mir ein Verdacht, weswegen sie sich den Unterkiefer hielt. Ihr fehlte das Gebiss. Erst jüngst hatte sie sich eines machen lassen. Sie besaß es nicht mehr. Ich wagte jedoch nicht zu fragen, ob sie es vergessen, verloren oder sonst welchen Grund nicht dabei hatte.
„Grundlegend!“, wiederholte die rührige Dame noch einmal und wandte sich zum Gehen ab.

Eines Tages verursachte mein gegenüberliegender Mitbewohner einen Wasserschaden in seiner Wohnung, so dass die Flüssigkeit in die untere Wohnung getrunken war und diese ziemlich beschädigt hatte. Diese Mietpartei zog schließlich bald aus. Die nächsten Mieter, einen weiteren Stock tiefer, taten es ihnen nach. Als ich nachfrage, antworteten sie, die neuen Vermieter sowie deren Bekannten, die ein und ausgingen, verweigerten jegliches Wort, jegliche nachbarschaftliche Konvention und man fühle sich mittlerweile fremd im eigenen Haus.
Ich zuckte die Schultern, mir war es einerlei.
Auch die alte Dame blieb ungerührt. Sie musste sich schließlich nicht fürchten, ängstigen und bange sein. Neue Mieter, wiederum sogenannte Russen-Deutsche, zogen nach und ein und nahmen den freigewordenen Platz ein, wobei sie anstandslos verlässlich ihre Miete zahlten.
Was will man mehr von einem Mieter?

Immerhin kam ich doch hin und bitte mit dem ein oder anderen ins Gespräch, meinen Sprachkenntnissen sei es gedankt. Der ersten neu eingezogenen Familie nach dem Wasserschaden begegnete ich und sie mir durchaus freundlich, warum, weiß ich auch nicht, ich glaube aber, weil ich halt ein paar Brocken Russisch sprach.
Der Mann der fünfköpfigen Familie sprach kaum Deutsch. Immerhin konnte er sich verständlich machen und sagen, was Sache war.
„Wissen Sie, ich bin Russe. Durch und durch.“
Er lächelte.
„Aber meine Frau, meine Frau ist Deutsche. Und das ist gut so!“
Und lächelte noch mehr.
„Das ist sogar sehr gut so!“, und lachte fast, bevor er über die Treppe hinunter und aus der Ausgangstür hinaus verschwand.
Ich bemerkte, dass das Kreuz im Treppenhaus entfernt worden war.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (09.01.15)
Schwierige Leute mit ungewohnten Verhaltensweisen. Da gilt oft das Recht des Stärkeren, Korrupteren, Raffinierteren.
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