Singleweihnacht

Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten

von  JulieBerger

Hertha ließ ihren Blick über die Weihnachtsleckereien schweifen, während sie ihren Einkaufstrolley durch die Regale des Supermarktes schob.  Die Regale waren prall gefüllt mit Lebkuchen, Schokoladenfiguren, Spekulatius und vielen anderen Köstlichkeiten. Herthas Blick blieb an den Marzipankartoffeln hängen.  Die hatte Walter immer so gern gegessen. Letztes Jahr gingen sie oft gemeinsam zum Supermarkt, sobald die Marzipankartoffeln zuneige gingen. Walter liebte diese kleinen Kugeln und pickte sie immer als Erstes vom Weihnachtsteller, den Hertha so liebevoll vorbereitete und schon bei Anbruch der Adventszeit auf dem Wohnzimmertisch neben den kleinen Engelschor aus Keramik stellte.  Dieses Weihnachten würde das Erste ohne Walter sein. Vor neun Monaten hörte sein Herz ganz plötzlich auf zu schlagen. Bei dem Gedanken an das gemeinsame Fest, das immer so besinnlich und schön war, fiel es Hertha schwer, die Tränen zurückzuhalten. Aber hier im Supermarkt vor allen Leuten wollte sie sich keine Blöße geben. Um sich schnell auf andere Gedanken zu bringen schaute sie den Gang hinunter. Durch einen Tränenschleier erkannte sie, wie Kinder, die mit ihrer Mutter einkauften, auf die Adventskalender deuteten. „Guck mal, den will ich haben“ sagte der Junge euphorisch und auch die Augen des kleinen Mädchens in der pinken Jacke waren ganz groß. Ein junges Paar stellte zwei riesige Schokoweihnachtsmännern in den Einkaufswagen. „Das wird unser erstes gemeinsames Weihnachten, Schatz!“ strahlte sie den Mann mit dem dunklen Lockenkopf an.

Auch für Hertha und Walter war das erste Weihnachten ein ganz besonderes Fest. Hertha erinnerte sich noch genau, wie Walter sie bat, seine Geschenke zu suchen. Sie weigerte sich zunächst. Schließlich ist Weihnachten nicht Ostern. Als er sie aber mit seinem lausbübischen Charme doch dazu brachte und sie aus dem Päckchen, das er im Kühlschrank versteckt hatte, den schönsten Schal zog, den sie je gesehen hatte, war alles vergessen. Noch heute nahm dieser Schal einen ganz besonderen Platz in der grauen Hutschachtel im Kleiderschrank ein.  Hertha kämpfte erneut gegen die Tränen, wenn sie an das ihr bevorstehende einsame Weihnachtsfest dachte. Schnell packte sie noch ein paar Lebkuchen ein und ging dann, so schnell es ihre inzwischen siebzigjährigen Beine zuließen, zur Kasse.

Nach dem Bezahlen, hatte sie die Lebensmittel nur schnell in den Trolley gelegt. Auf der Fläche unter der Tafel mit den Aushängen wollte sie die Einkäufe ordentlich einpacken. Als sie gerade das Brot wieder auspackte und dort abstellte, fiel ihr Blick auf einen besonders liebevoll gestalteten Zettel. Darauf war ein selbstgezeichneter Weihnachtsmann zu sehen. An den Ecken war der Zettel mit kleinen goldenen Sternen beklebt. „Graut es auch dir vor einer einsamen Weihnacht?“ war in der fett gedruckten Überschrift zu lesen. „Bestimmt ist es besser, als ganz allein zu sein“ murmelte Hertha und riss einen der kleinen Zettel ab, auf dem Telefonnummer und E-Mailadresse standen.
Zu Hause sortierte Hertha ihre Einkäufe ein. Sie holte den kleinen Zettel mit der Telefonnummer aus ihrer Rocktasche und legte ihn auf den Nachttisch. Es vergingen drei Tage bis sie schließlich den Mut fasste, die Nummer zu wählen. „Wunderbar, dann komme ich am Heiligabend um 15:00 Uhr zu Ihnen. … Natürlich denke ich daran, eine Kleinigkeit als Geschenk mitzubringen. Ein wenig Stollen und Gebäck werde ich auch dabei haben. Bis dann, ich freue mich“. Mit zittrigen Fingern drückte Hertha auf den roten Hörer ihres schnurlosen Telefons.

Es fühlte sich komisch an. Das erste Weihnachten ohne Walter.  Aber jetzt, da Hertha wusste, dass sie nicht ganz allein sein würde, begann sie sich sogar ein klein wenig auf Weihnachten zu freuen. Sie nahm noch einmal den Zettel mit der Telefonnummer in die Hand und betrachtete ihn. Was sie dort wohl erwartete? Die Frau, mit der sie eben telefoniert hatte, klang sehr nett. Von der warmen Stimme her würde Hertha sie recht jung schätzen. Sie traute sich aber nicht zu fragen, was eine Frau dazu bewegte, einen solchen Aushang zu tägigen und sich gerade zu Weihnachten wildfremde Menschen in ihre Wohnung zu holen.  Bestimmt würde sie am Heiligabend den Grund dafür erfahren.

Und der kam schneller als gedacht. Am gestrigen 23. Dezember war Hertha noch im Supermarkt, um letzte Einkäufe zu tätigen.  Auch diesmal überkam sie ein seltsames melancholisches Gefühl als sie ihren Einkauftrolley an den Marzipankartoffeln vorbeischob. Sie wurde wieder traurig aber mit den Tränen hatte sie diesmal nicht zu kämpfen. Schnell schob sie den Trolley weiter und legte Stollen, Lebkuchen und eine rote Gebäckdose mit aufgedruckten goldenen Sternen hinein. Eine Kleinigkeit zum Schenken sollte sie auch mitbringen. Es war gar nicht so leicht, da sie nicht wusste, auf welche Art von Menschen sie treffen würde.  Zuhause hatte sie bereits zwei Paar kuschelige Socken gestrickt. Ein Paar für normale große Füße und ein Paar für etwas größere. Sie entschied sich das Geschenk noch um eine Flasche Wein und etwas Schokolade zu ergänzen und steuerte dann den Weg zur Kasse an.

Am Mittag des Heiligen Abends packte sie das Geschenk in eine  weihnachtliche Präsenttüten.  Anschließend steckte sie einen kleinen Tannenzweig in die Öffnung bevor sie die Tüte zuklebte. Sie atmete den Tannenduft tief ein und betrachtete ihr Werk noch einmal. Der Tannenzweig passte gut zur grünen Tüte, auf der ein Weihnachtsbaum mit goldenen Kugeln abgebildet war. Darunter stand in goldener Schreibschrift „Fröhliche Weihnachten“.  Sie legte die Tüte zu den Leckereien in ihren Einkaufstrolley und schloss sanft die Wohnungstür. Auf dem Weg zur Bushaltestelle bewunderte sie die festlich geschmückten Fenster. Schwibbbögen leuchteten hell, Weihnachtsfiguren blickten ihr entgegen und selbstgebastelte Papiersterne zierten die Scheiben.

Trotz des Schnees, der die Straßen leicht bedeckte, kam der Bus pünktlich und schon zwanzig Minuten später drückte Hertha mit zittrigen Fingern auf den Klingelknopf. Direkt im Erdgeschoss lächelte eine junge Frau sie  an und streckte Hertha die Hand entgegen. Die braunen Locken fielen ihr über die Schultern. „Hallo. Mein Name ist Mira. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn wir uns duzen.“ „Hertha“, stellte sie sich etwas schüchtern vor, überwältigt von Miras sympathischer Art. „Komm doch rein, Hertha. Ein paar andere sind auch schon da.“ Mira nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn an den hölzernen Garderobenständer. Als Hertha ins Wohnzimmer trat, blickte sie in zwei neugierige Gesichter. Sie stellten sich einander vor und Hertha erfuhr, dass Jörg sich schon vor Jahren von seiner Frau getrennt hat. Den Heiligen Abend verbrachten die beiden Kinder mit ihr und er ist erst morgen an der Reihe. Monika redete sehr viel. Sie war nie wirklich sesshaft und wechselte aus beruflichen Gründen häufig die Stadt. Daher war es schwer für sie, einen Freundeskreis aufzubauen. Familie hatte sie so gut wie keine mehr. Mira studierte noch. Sie wurde vor kurzen von ihrem Freund wegen einer anderen Frau verlassen. Eigentlich wollte sie Weihnachten mit ihm verbringen und da ihre Eltern sie in guten Händen dachten, hatten sie bereits eine Kreuzfahrt gebucht, die sich nicht ohne Weiteres stornieren ließ. Es war eine fröhliche Runde. Schließlich wurde das angeregte Gespräch durch die Türklingel unterbrochen.

Als Mira die Tür öffnete, erkannte Hertha an den Stimmen, dass zwei Personen gekommen waren. Kurze Zeit später betraten ein etwas älterer Mann und eine junge Frau, die intensiv nach Rosenparfüm duftete, die Wohnung. Sie waren sich zufällig schon vor der Eingangstür begegnet. Der Mann kam Hertha seltsam bekannt vor. Er stellte sich als Hans vor und sah ihr tief in die Augen, als er ihr die Hand reichte. „Du liebe Güte, Hans“ Hertha sprang auf, soweit es ihre Beine noch zuließen und drückte ihren alten Schulfreud an sich, den sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte.

Es wurde ein fröhlicher Heiligabend. Alle verstanden sich sehr gut. Sie tranken Weihnachtskaffee, redeten über dies und das, sangen gemeinsam Weihnachtslieder und tauschten die Geschenke aus. Hertha blickte in fröhliche Gesichter. Mira scherzte viel mit Jörg und wenn Hertha nicht alles täuschte, sah er sogar ein wenig verliebt aus. Niemals hätte sie gedacht, dass all diese unterschiedlichen Menschen, die ein einsames Fest fürchteten, eine so schöne gemeinsame Zeit verbringen könnten. Auch Hertha stand das Lächeln ins Gesicht. Dass sie Hans, ihren besten Freund aus Schulzeiten, wiedergetroffen hatte, war für sie ein kleines Weihnachtswunder. Der Abend verging wie im Flug. Hans kündigte an, die dicken Socken, die er in seinem Paket vorfand, am nächsten Tag bei dem gemeinsamen Spaziergang mit Hertha anzuziehen, damit er sich nicht erkältete.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (05.01.16)
Handwerklich ordentlich gemacht, inhaltlich mir persönlich zu rührselig.

Und herzlich willkommen auf kV!

 JulieBerger meinte dazu am 07.01.16:
Vielen Dank für den Kommentar!
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