Beim Wollenen Erich

Satire

von  Reliwette

„Alt aber bezahlt“

„Nun frag doch den Wollenen Erich nach Deinen Freunden!“, höhnte der riesige Leithammel. Doch bevor Amos überhaupt ein Wort herausbringen konnte, sagte der Mann mit dem gebogenen Schäferstab: „Da schau her, ein verirrtes Schaf ohne Farbe im Wollpelz – du kommst mir gerade recht!“
„Was wollen Sie von mir?“, brachte Amos hervor, „weshalb habe ich plötzlich diese Kette um den Hals, nehmen Sie die sofort ab!“
„Du kommst erst mal mit, allerhöchste Zeit, dass du geschoren wirst“.
Amos war noch nie in seinem Leben geschoren worden. Es war eine entsetzliche Vorstellung, so nackt und ohne jede Wärme herum zu laufen.
„Ich liebe Wolle“, sagte der wollene Erich, „ich bin verrückt danach, mein ganzer Lebensinhalt ist Wolle. Während er das sagte, rann ein dünner Speichelfaden aus seinem rechten Mundwinkel: „Ich bade morgens in Wolle und abends reibe ich mich mit Wolle ab, vor allem mit jungfräulicher Wolle, wenn du weißt, was ich meine?“
„Mi – mit Wolle einreiben?“, fragte Amos verunsichert.
Der Wollene Erich zerrte Amos anstatt einer Antwort hinter sich her, und so sehr sich Amos auch dagegen sträubte, es war vergebens.
Außerhalb der Deichweide stand ein staubiger, alter Kombi mit verdreckten Fenstern auf einem Feldweg. Der Wollene Erich öffnete zwei quietschende Türen am Heck des Fahrzeuges und dirigiertedas Piratenschaf vor den Einstieg :“Bitte nach Ihnen!“, krächzte er mit gespielter Höflichkeit…
Das Piratenschaf wurde unsanft in das Fahrzeug geschubst. Dann knallten die Türen hinter ihm zu. Innen roch es muffig, nach altem Öl, nach allerlei Unbestimmbarem. Der Wollene Erich startete den Wagen. Der Motor gab einen lauten Knall ab. Eine schwarze Rauchwolke umhüllte das Fahrzeug.Der Wollene Erich landete krachend den ersten Gang im Getriebe und kuppelte ein. Ruckend setzte sich das alte Vehikel in Bewegung. Amos linste durch das kleine Fenster zur Fahrerkabine. Er konnte einen kleinen Ausschnitt der Landschaft sehen, durch die sich das Fahrzeug regelrecht quälte. Zunächst ging es am Deich entlang, später lenkte der Wollene Erich das Fahrzeug auf eine schmale Teerstraße. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann erreichten sie ein altes Gehöft, das schon bessere Tage erlebt hatte. Das Scheunentor trug noch grüne Reste eines früheren Farbanstriches. Zweiflügelig hing es schlaff in den Scharnieren.Das Piratenschaf erinnerte sich an das Lied, welches die Piratenmannschaft anstimmte, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Sie kannten ja nur zwei Lieder. Eines begann mit „fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste“, das zweite ging so: „Das altes Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt, kein Wunder dass es zittert, kein Wunder, dass es bebt“.
Während das Piratenschaf über den Text nachdachte, gingen die quietschenden Türen auf, und er wurde heraus gezerrt.„Wir müssen tugendhaft sein“, blökte Amos, „du nimmst mir die Ketten ab, und ich verspreche Dir, dass ich nicht weglaufe!“ Den Begriff von der Tugend hatte er natürlich von Opa Hermann gelernt. Der meinte natürlich die Tugend der Ehrlichkeit und des Vertrauens. Der Wollene Erich stutzte: “Was weißt du schon von Tugend?“, wollte er wissen. „Mehr als du denkst“, gab Amos zur Antwort. „Hm“, also gut“, sagte der Wollene Erich, „lassen wir es darauf ankommen.! Er hatte sich ohnehin schon gewundert, dass ein Schaf mit ihm ein Gespräch anfing. Da er aber schon lange alleine gelebt hatte und Selbstgespäche seine einzigen Begleiter waren, war er andererseits ganz froh, jemanden gefunden zu haben, der mit ihm sprach. Er nahm dem Piratenschaf tatsächlich die Ketten ab. „Komm mit, ich zeige Dir Deinen Schlafplatz.!“ Sie betraten die Scheune, die Amos ziemlich groß vorkam. Sie war teilweise bis unter das Dach mit Heu gefüllt. Oben waren einige Balken des Ständerwerkes zu sehen. Es roch durchdringend nach frischem Heu. Das gefiel dem Piratenschaf. „Zeigst du mir deine Wohnung?“, wollte es vom Wollenen Erich wissen. „Komm mit, ich zeige Dir meine Preissammlung, die ist mein Ein und Alles!“ Sie durchquerten einen Flur zum Vorderhaus, kamen an einem Wirtschaftsraum vorbei, dann reihten sich Küche und Wohnstube an. „Links ist die Schlafkammer“, erklärte der Wollene Erich,“ und daneben ist mein Arbeitszimmer, in welchem ich meine Steuererklärung fertige: Gewinne aus Wollproduktion und Verkauf von… – na., du kannst es dir denken!“„Die lieben Piraten verkaufen nur Tee“, sagte Amos, er mochte nicht daran denken, dass die Lämmer von ihren Müttern getrennt und verkauft werden. „Ich bin ja etwas Besonderes“, brüstete sich das Piratenschaf, „ich sitze hoch oben im Krähennest der Cara Mia und schaue auf das Meer!“„Denn man tau!“, erwiderte der Wollene Erich. Wenn einer diese Worte in Ostfriesland zu dir sagt, dann kann man davon ausgehen, dass ihm das völlig egal ist. („Ick heb mi en negen Wagen köfft!“ „Denn man tau“) Es kann auch fälschlicherweise als: „dann mal schnell“ aufgefasst werden. Aber das „mal“ tau unterscheidet sich von „man“ tau nur durch einen einzigen Buchstaben und damit völlig in seiner Bedeutung. Der Wollene Erich zeigte auf mehrere Fotos an den Wänden der Wohnstube. Die Bilder waren alle hübsch hässlich gerahmt. „Das hier“, sagte der Wollene Erich und deutete auf ein Foto, das einen stattlichen Schafbock zeigte, „ist mein preisgekrönter „Wotan von der Hammelweide“, Landwirtschaftsausstellung Hümmling, 1936″. Der Wollene Erich ging die gesamte Ahnengalerie seiner Zuchtböcke durch.
Da gab es „Rammel von der Köttelaue“, eine Heidschnucke oder „Primus zu Decken und Wolle“. Zu jedem Bild hatte er eine Geschichte zu erzählen. Amos hörte sich alles geduldig an. Dann erzählte er seinerseits von seiner geliebten Schafsdame Linda, die er hier in der Gegend vermutete. Über die Erzählerei war es spät geworden. „Ich werde Dich nicht scheren“, sagte der Wollene Erich, „aber ich leihe Dir einen Rucksack von mir und schenke Dir einen Troyer für deine Linda. Morgen fahre ich Dich wieder an den Ledadeich, damit du deine Suche fortsetzen kannst.“
Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Der Wollene Erich hatte auf das letzte Bild gedeutet. Es zeigte das Gesicht einer wunderschönen jungen Frau, die den Betrachter anlächelte. Amos war es nicht entgangen, dass quer über die obere Rahmenecke ein schwarzer Stoffstreifen gespannt war.
„Deine Frau?“, fragte Amos. Dem Wollenen Erich schossen die Tränen ins Gesicht: „Hör up, hör up“, schluchzte er, „de is nu sit fiftein Johren dod bleven. Dat deit mi immer noch seer!“

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram