In Geleit meines Todes

Erzählung zum Thema Entwicklung(en)

von  Remy

Ich öffnete die Augen und sah, wie sie sich, umhüllt mit der Dunkelheit, über mich neigte. Sie wollte meine Kehle mit ihrem Gebiss aufreißen und mir das Blut aus der arteria carotis communis saugen, bis ich schließlich in einem unendlichen Nichts versinken und verenden würde. Sie brauchte nichts zu sagen, kein Gesicht zu tragen, um mir ihre Botschaft zu überbringen; meine Tage seien gezählt, meine Nächte erst recht, wie schon seit einigen Wochen. Nur lernte ich in dieser Zeit, mit dem Tod umzugehen, der sich hier doch in weiblicher Gestalt ohne Geschlechtsmerkmale vor mir auftürmte. Ich spürte schon das kalte Hauchen auf meiner Gänsehaut, als ich sie mit Gewalt niederriss, mit der auch sie versuchte, mir das Leben auszuhauchen; ihre Gewalt der Macht, meine der Kraft. Nun lag sie neben mir. Ihre Knochen wirkten farblos, ihre Haut längst vollständig verdorben und ihr Gesicht war von einem breiten Lächeln überzogen und doch vollkommen emotionslos. Sie war der lebende Tod, und trotzdem ein Skelett. Nachdem ich sie zudeckte, glitten meine Finger zwischen ihre Rippen. Ich griff hinein, krallte mich fest, zog sie zu mir. Ich streichelte über ihren Kopf, die Wangenknochen hinab, über das Kinn hinweg. Ich küsste ihre makellosen Zähne und wusste, dass sie ihren Willen durch die Sanftheit meiner Liebe gänzlich verlor. Sie regte sich nicht mehr, als wäre nun ich derjenige, der ihr totes Leben nahm und dem Paradies überließ. Und so war es.
Ich hatte den Tod besiegt und schlief doch neben dem blutlosen Kadaver in einem Paradoxon, welches doch eigentlich so logisch erschien. Sie war nicht sie, sie war ich und ich war es und nun ist es tot und nun lebe ich. Heute ist mein unberührter Geburtstag, eingeladen ist niemand. Das Skelett, es hieß mein altes Ich, war wie die Jungfrau Maria und gebar mich ohne Empfängnis, aber doch mit der Erkenntnis, dass etwas in mir sterben musste, damit etwas Neues in mir aufleben konnte. Und auch wenn sie, der Tod, mich wochenlang verfolgte, mir Angst einjagte, mich schaudern ließ, mich weckte und wach hielt, so erkannte ich doch nun ihre Verfolgung als Begleitung an und ihren Tod als Leben. Ich hatte mir selbst etwas vorgemacht, die einfachen Zeichen nicht gedeutet, übersehen oder falsch interpretiert; schwach für jemanden, der stets nach Erkenntnissen strebte; stark für jemanden, der sich zwar nicht immer geduldig zeigte, aber es letztlich schon immer gewesen ist, weil man auch in den letzten tausend Nächten und tausend Tagen bewusst und freiwillig litt, anstatt sich jedes Mal zu berauschen. Man probierte, sich den Versuchungen der Sinne zu entsagen, was nur schwerlich und selten gelang, doch viel mehr ging es um das unaufhaltsame Streben und nicht um das Ziel des Erwachens per se. Und nun ist es geschafft, nun bin ich neu, nun bin ich frei, jedenfalls bis zur nächsten Geburt.

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (13.12.17)
Schönes Teil, spannend erzählt, jedoch nicht ganz frei von Situationskomik: "Ich spürte schon das kalte Hauchen auf meiner Gänsehaut," - Du bist aber doch keine Gans, oder?

 Remy meinte dazu am 14.12.17:
Herzlichen Dank!
Und doch, wenn ich die Gefahr erahne, gibt's ne Metamorphose und man nennt mich Gans! °grins°
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