Ich bin mir unsicher, ob ich mich auf einem Friedhof oder in einem Gefängnis befinde, aber ich wäre nirgendwo lieber. Die Größe des einzigen Kellerraums der Bibliothek erinnert an die Innenfläche einer verlassenen Sporthalle. Es gibt keine Fenster und anscheinend auch keine Heizung oder Klimaanlage. Die Bücher stehen - durch den Staub ergraut wie alte Witwen, die auf ihre kriegsverlorenen Männer sehnsüchtig warten - in den Regalen und gedulden sich, bis sie wieder in die Hände genommen werden; nur kommt keiner, um sie abzuholen. Die einzige Verbindung, die den Büchern zum Aufatmen verhilft, sind die Spinnennetze, die sie miteinander verbinden.
Ich sitze an einem quadratischen Tisch, der sich hinter dem Ende eines Regals befindet, sodass ich unsichtbar für jeden bin, der sich dorthin verirrt hat, auch wenn hier wahrscheinlich außer mir sowieso gar niemand freiwillig seine Zeit verbringen würde; ich könnte an einer Bombe basteln, meinen Schwanz rausholen und masturbieren oder die Wände mit blasphemischen Sprüchen besprühen, aber nichts dergleichen würde ich tun, rein aus Respekt der Bücher wegen. Jedes Buch ist sorgfältig durch einen Grabstein in Form eines Aufklebers gekennzeichnet, hier weilt „Foucault, F2038 394 283“. Niemand hat Blumen hinterlegt; ein vergessener Philosoph. Ich habe nicht bewusst nach einem Ort gesucht, an dem ich alleine sein kann, abgeschieden von der Außenwelt, trotzdem habe ich diesen Ort gefunden, der einem Fluchtpunkt gleicht, dem Ende einer Odyssee, einem schallgedämmten Abstellraum inmitten einer Tanzfläche des angesagtesten Clubs dieser Stadt, zu dem nur ich den Schlüssel besitze. Und so bin ich froh, dass der Zufall es gut mit mir meinte.
Man könnte denken, der Friedhof sei ein Ort der absoluten Stille, an dem man sein eigenes Herz pochen hören kann und der dazugehörige Wahnsinn hinter dem nächsten Regal die Zähne fletscht, aber auch hier herrscht kein Absolutismus der fehlenden Laute; die Lüftungsanlage rauscht, Rohre und Kabel zittern. Dieser versteckte Platz erinnert mich nicht nur an eine Totenstätte, sondern auch an eine offene und kalte Gefängniszelle, Einzelhaft versteht sich, fernab der wirklichen Straftäter, im Keller des Kellers, in der sich die Dunkelheit als einziger Gesprächspartner eignet. An keinem öffentlichen Ort war es je einfacher, man selbst zu sein. Auch gibt es weder W-Lan-Empfang, noch Mobilfunk. Es fragt sich, ob dieser Platz dem Himmel oder der Hölle näher ist. Die Differenz dessen müsste die Erde sein, also bin ich näher an dieser, als ich es eigentlich will.
Draußen regnet es Eiszapfen und jedermann wartet, dass die Sonne vom Zigarettenholen zurückkehrt, aber alles bleibt wochenlang unverändert, als wäre dieser Zeitraum mehr Zeitpunkt als Zeitspanne.
Innerhalb dieses Stillstands lese ich den Roman "Unterwerfung" von Michel Houellebecq, dem französischen Schriftsteller, der in wenigen Jahren äußerlich so sehr verfallen ist, dass man meinen könnte, er sei der Grund, weshalb auf Zigarettenpackungen Warnhinweise prangen; vom Rauchen altert ihre Haut um houellebecq Mal. Zum Glück habe ich aufgehört. Hätte man aber mit seinem Geist geworben, es wäre mir schwergefallen. Und trotzdem lebt dieser geistreiche Mensch mit seinen vielen Marotten weiter, weil Suizid bisher keine Alternative zum Leben gewesen ist; da das Rauchen seit jeher einer der wenigen Dinge in seinem Leben war, die er noch genießen konnte, bevor er schlussendlich ins Gras beißen sollte, sich auch sein letztes Kapitel dem verdienten Ausrufezeichen annähern sollte, um schließlich auf diesem Friedhof seine gewünschte Ruhe zu finden, obwohl diese nie existierte. Er weiß, dass er sterben wird und es ihm völlig gleichgültig. Wer mag es ihm verübeln, denn er hat lange genug auf diesem Planeten verweilt, alle Freiheiten erlebt, die man ihm nun aber fortlaufend streichen würde; die Tabaksteuern werden fast jährlich erhöht, auf einmal spielen Altersunterschiede zwischen Männer und Frauen wieder eine Rolle, und wer nicht gendert, der gilt als patriarchalisches Arschloch, der in seiner Freizeit wahrscheinlich gerne Frauen schlägt. Auch wenn ich hier bin, um alleine zu sein, bin ich froh, dass Houellebecq mir Gesellschaft leistet. Und auch wenn man manche ihm den Tod wünschen, bleibt er Künstler, und damit unsterblich, denn wir Ratten und Kakerlaken finden immer einen Weg, um unsere Spezies aufrecht zu erhalten, sei es durch einzelne Wörter. Und so krabbel ich nach dem letzten Satz weiter zwischen den Bücherregalen umher, und genieße das vertraute Beisammensein meiner besten Freunde.