August Stramm und ein unbekannter Soldat rezitieren Gedichte im Schützengraben (1)

Kurzgeschichte

von  autoralexanderschwarz

„Himmel dunkel, Stahlgewitter“,
notiert August Stramm im einsamen Schützengraben, als es gerade für einen Moment ruhig ist, weil der Feind seine Kräfte an einem anderen Ort zusammenzieht, und dann:
„Metallvögel stürzen,
hinunter,
ratatatatamm“,
er hält inne, überlegt einen Moment, dann streicht er das „ratatatatamm“ wieder durch und schreibt stattdessen „Träume zerbersten“ in sein Notizbuch, muss lächeln, weil es ihm ein gutes Gefühl gibt, wenn sich Wörter nahtlos aneinander fügen, er lächelt über die Wörter, den Himmel, den Schützengraben und all die Leichen, die um ihn herum auch lächeln, alles lächelt für einen Moment, doch dann erschrickt ihn eine fremde Stimme:
„Kamerad, hast du noch Patronen?“, flüstert es, ganz in der Nähe und dabei so laut, dass es in den Ohren wehtut, dann kriecht ein unbekannter Soldat auf ihn zu,
„Kamerad“, flüstert er, „hast du noch Patronen?“
„Du musst zur Ausgabestelle“, flüstert Stramm zurück, „dort müsstest du noch welche kriegen, doch komm her, Kamerad, du bist wie ich Offizier, komm einen Moment zu mir, lass dich als Mensch umarmen und wenn du bleibst, dann teilen wir uns meine letzte Kugel.“
Der unbekannte Soldat schleppt sich zu ihm hinüber, er ist nicht verwundet, nur hungrig und schwach wie sie alle, „Kamerad“, flüstert der Unbekannte, als er ihn erreicht, „was hast du da geschrieben? Einen Brief an deine Liebste? Deine Kinder?“
„Ich dichte“, flüstert Stramm zurück, „beschreibe das Pfeifen der Granaten, den Singsang der Sterbenden und wie der Hunger sich in die Organe frisst. Ich kann nicht anders, ich muss das alles festhalten.“
„Ich dichte auch“, flüstert der unbekannte Soldat, so als würde er damit ein Geheimnis verraten, und zieht aus den Tiefen seiner Uniform ein kleines Notizbuch hervor, „ich schreibe über das Angesicht meiner Liebsten und den Rhein, der so viel gesehen hat.“
Sie schweigen für einen Moment, der unbekannte Soldat blättert in seinem Notizbuch,
„so schön und klar, so frisch und fein, so strömt und fließt Väterchen Rhein“.
Beide schweigen.
Der Soldat blättert in seinem Notizbuch:
„ich hab vergessen, wie du riechst,
denn um mich rum ist nur der Tod,
hier schlachten sie sich alle ab,
da bleibt kein Raum für Herzensnot.“
Es ist für einen Moment sehr still.
In der Ferne hört man ein einsames Schnellfeuergewehr.
„Das ist schön“, flüstert Stramm, „das ist wahr.“
Wieder schweigen sie für einen Moment.
Auch das einsame Schnellfeuergewehr verstummt.
Niemand hat mehr genug Patronen.
Es wird dunkel, schon wieder.
„Wir sind hier“, flüstert Stramm nach einer Weile,
„Wir leben“
„Noch immer.“


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Augustus (12.02.18)
Die Kurzerzählung hat Inhalt, m.E. einen tiefmenschlichen, sehnsuchtsvollen Inhalt nach dem Leben, der als Kontrast zu den Schützengräben, wo der Tod umher rast, umso deutlicher und fühlbarer ist.

Ave

Kommentar geändert am 12.02.2018 um 10:57 Uhr

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 12.02.18:
Dank & Gruß
AlX
toltten_plag (42)
(12.02.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 autoralexanderschwarz antwortete darauf am 12.02.18:
Dank dir für diesen expressionistischen Kommentar. Für alle, die Stramm nicht kennen: Dies ist das Gedicht "Weltwehe"

http://gutenberg.spiegel.de/buch/august-stramm-gedichte-152/3
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram