„Wohlan“, sagt der Henker zu dem Gefangenen, als sie in dem kleinen Vorraum hinter der Tribüne eng beieinander stehen, „ich biete dir die Chance auf ein letztes Geschäft, also überlege dir gut, was du mir antwortest.“
„Was willst du mir schon bieten?“, entgegnet ihm der Gefangene, den die Marter nicht endgültig gebrochen und der sich vorgenommen hat, dem unausweichlichen Schicksal mit einem letzten Rest von Würde zu begegnen, den er während der Gefangenschaft wie einen kostbaren Schatz verborgen hat: „ich habe alles verloren“, sagt er und richtet sich für einen Moment auf, „nackt und in Ketten stehe ich vor dir, dort vorne schreit die Menge, die meinen Tod will, dort steht der Holzklotz, auf den ich meine Wange legen werde, dort der Korb, in dem mein Kopf neben anderen Köpfen liegen wird. Du bist nur mein Henker, was willst du mir bieten?“
Der Henker aber lächelt unter seiner schwarzen Maske, weil er diese oder ähnliche Antworten schon oft gehört hat, „du redest schnell“, sagt er beruhigend zu dem Gefangenen, „schnell und ungenau und überspringst dabei den ganz entscheidenden Moment, der zwischen der Wange auf dem Klotz und den Köpfen im Korb liegt: da komme nämlich ich ins Spiel“, sagt der Henker, „und man könnte ohne zu übertreiben behaupten, dass mein Einfluss in dieser Situation ganz erheblich ist, denn trifft die Klinge im richtigen Winkel auf den Hals, dann ist es eine einfache und saubere Sache, ein Augenblick ohne Schmerz, nicht viel mehr als ein Knacken, aber ändert sich der Winkel auch nur ein wenig, dann ist es eine ganz andere Sache, dann bleibt das Beil zitternd im Knochen stecken oder aber, wenn es ganz besonders schlimm kommt, dann gleitet es schabend am Rückgrat entlang und reißt und schneidet dabei alles auf, was du noch an Nerven und Empfindung in diesem ausgemergelten Körper hast, der Schmerz wird dir unerträglich erscheinen, aber du wirst ihn ertragen müssen, weil du dich nicht mehr bewegen kannst, du wirst innerlich verbrennen und dabei doch leben, du wirst jede endlose Sekunde dieser Qual fühlen und das Publikum, was meinst du wohl, wie es auf mein Missgeschick reagieren wird, wird es mit dir leiden, wird es sich empören, wird es dich bedauern? Nein, es wird sich begeistern, es wird johlen und toben, weil so ein blutender, unglücklicher Kerl wie du etwas ist, das den grauen Alltag mit Farbe füllt, etwas von dem man zuhause beim Abendbrot berichten kann, das Publikum wird jubeln und während ich gemächlich auf der Tribüne auf und ab schreite und dabei mit kleinen Gesten um Vergebung bitte, während ich versuche Jubel und Geschrei ein wenig zu dämpfen, zu beschwichtigen, wirst du vollkommen bewegungsunfähig und unter den schlimmsten Qualen, die Wange im Blut auf dem Holzklotz, hoffen und bangen, beten und ersehnen, dass ich endlich zurückkehre und mein Werk vollende und wenn ich dann schließlich erneut wieder über dir stehe, das schwere Beil in der Hand, vielleicht bereits ein wenig erschöpft von der Gewalt des ersten Schlages, aufgeputscht durch den Jubel der Menge, dann wirst du wissen, dass auch dieser Schlag dich nicht töten wird und du wirst dich verfluchen, weil du ein Geschäft ausgeschlagen hast, dass dir diese Qual gänzlich erspart hätte.“
„Ich habe aber nichts“, flüstert der Gefangene, der bleich und hilflos den Ausführungen des Henkers gelauscht hat, „alles wurde mir genommen, niemand würde mehr für mich bürgen, ich habe nichts, dass ich dir für einen schnellen Tod bieten könnte, ich...“
„Wieder redest du so schnell“, unterbricht der Henker den Gefangenen, „dabei empfiehlt es sich in einer Situation wie deiner viel eher zuzuhören und nachzudenken. Ich weiß wohl, dass du nichts mehr besitzt, ich sehe ja, dass du nackt bist und doch biete ich dir ein Geschäft an. Siehst du das kleine Mädchen dort vorne?“, fragt der Henker und zieht den Vorhang ein Stück beiseite, was sofort mit begeistertem Jubel und Pfiffen aus dem Publikum quittiert wird, „bald geht es los“, raunt man sich schon in den ersten Reihen zu.
„Dieses kleine Mädchen ist meine Tochter“, sagt der Henker zum Gefangenen,
„ist sie nicht süß?“, fragt der Henker.
Für einen Moment ist es still zwischen ihnen. Auf der Tribüne werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Der schwere Holzklotz wird eben auf die Bühne getragen. Ein Raunen geht durch das Publikum.
Erst als der Gefangene langsam nickt, schließt der Henker den Vorhang wieder.
„Sie ist so ein nettes kleines Mädchen, ihre Mutter ist auf Reise zu ihrer Schwester, ich kann sie nicht alleine zuhause lassen, also habe ich sie mit zur Arbeit genommen. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, sie sieht ja schließlich auf dem Hof auch, wenn Schweine oder Kaninchen geschlachtet werden, sie ist Blut gewöhnt, habe ich mir gedacht, aber eben, vor der Pause, da war ein ganz unangenehmer Kerl dabei, er war noch recht jung und er hat so bitterlich geweint und gefleht und nach seiner Mutter gerufen, es war ein einziges Trauerspiel und ich habe unter dem erhobenen Beil hindurch die Tränen in den Augen meiner Tochter glitzern sehen, für einen Moment habe ich mich geschämt, obwohl er doch schuldig war und obwohl es doch ein ehrenwerter Beruf ist. Ich bitte dich daher um Folgendes:
Wenn du gleich auf die Bühne trittst und das Publikum still wird, vermeide bitte alles, was ein kleines Mädchen traurig machen könnte, all dieses Flehen und Jammern ist doch ohnehin vollständig sinnlos. Ich habe noch nie von einem Henker gehört, der sich aufgrund eines Flehens oder Jammerns erbarmt hätte, man darf sich ja auch gar nicht erbarmen, schließlich ist es ja nicht nur unser Arm, der das Beil schwingt, es ist ja gewissermaßen der Arm des Volkes, der Arm der ganzen Nation.“
„Du bittest mich, dass ich nicht flehe und jammere?“, flüstert der Gefangene, „das ist alles?“
„Das ist zumindest schon einmal ein wesentlicher Teil“, antwortet der Henker, „ein anderer besteht darin, dass du deine Sünden laut aufzählst und deine Landsleute und den lieben Gott aufrichtig um Verzeihung bittest. Das ist alles, was ich fordere, damit meine kleine Tochter sieht, dass es hier nicht nur ums Blut, sondern auch um die Gerechtigkeit geht.“
Beide schweigen einen Moment, die letzten Worte hallen nach.
Danach unterhalten sie sich nur noch kurz, bevor der Henker den Gefangenen am Nacken packt, den Vorhang beiseite zieht und ihn unter dem tosenden Beifall des Publikums auf die Bühne stößt.